Meridian (TCM)

Meridiane, Darstellung aus der Zeit der Ming-Dynastie: Jueyin Herzbeutel – rechte Hand, Ms Chinese 5341, Bibliothèque Nationale, Paris

Meridiane, treffender „Leitbahnen“, sind in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) Kanäle, in denen die Lebensenergie (Qi) fließen soll. Nach diesen Vorstellungen gibt es zwölf Hauptleitbahnen. Jeder Meridian ist einem Funktionskreis (Organsystem) zugeordnet. Auf den Meridianen liegen die Akupunkte, die bei Akupunktur mit Nadeln, bei Akupressur mit Fingerdruck behandelt werden. Verschiedene Meridiantherapien sollen den Patienten beim Gesundbleiben oder -werden helfen. Die bekanntesten Methoden sind die Akupunktur und Akupressur. Gesundheit ist nach den Vorstellungen der TCM u. a. verbunden mit einem freien und ausreichenden Fluss des Qi in den Meridianen.

Es gibt keine anerkannten Belege für die Existenz von Meridianen.

Geschichte und Wortbedeutung

Meridiane (chinesisch 經絡 / 经络, Pinyin jīngluò) sind in der chinesischen Medizin „Kanäle“,[1] in denen Ying Qi[2] zirkuliert. Nach Ansicht der Vertreter ist man gesund, wenn dieses Qi ausreichend und frei fließt.[3] Wenn z. B. zu wenig Qi fließt, kann schädliches Qi (Xie Qi) in den Kanal eindringen und das zugehörige zàngfǔ („Organ“) schädigen.[4] Dämonologische Ideen spiegeln sich noch in diesen chinesischen Begriffen wider.[1]

Etymologisch steckt in jīng Kette (der vertikale Faden beim Weben) und in luò Schuss (der horizontale Faden beim Weben).[5] In Anlehnung an die Meridiane der Erde wurde jīngluò in Frankreich mit Meridian übersetzt.[6]

Zuerst klar beschrieben wurden die Jīngluò etwa im 1. oder 2. Jahrhundert v. Chr. im Huang-ti nei-ching („Des Gelben Kaisers innerer Klassiker“), der meist einfach nur Neijing genannt wird.[7] Die Meridiane bilden in der Akupunktur eine wichtige logische Komponente zur Bestimmung der Xué (穴 = „Akupunkturpunkt“, wörtlich „Loch“).[8]

Der Begriff "Meridian", auf Chinesisch 经脉 jīngmài oder 经络 jīngluò, ist nicht ganz richtig. 经 jīng bedeutet "leiten", "führen" oder "durchqueren", "passieren", 脉 mài steht für "pulsieren", 络 luò ist ein netzförmiges Gebilde. Da es sich um Bahnen handelt, die Qi und Xue leiten, ist der Begriff "Leitbahn" zutreffender. Das Wort "Meridian" wurde im 17. Jh. erstmals von westlichen Besuchern in China verwendet, die die in chinesischen Akupunkturmodellen eingezeichneten Linien mit den Orientierungslinien in Verbindung brachten, die sie von ihren Landkarten her kannten, also Meridianen.[9]

Konzept der Meridiane

Meridiane der TCM sollen eine Zuordnung und Beeinflussung von Organen (Funktionskreisen) über die Lokalisierung an bestimmten Punkten der Körperoberfläche erlauben. Unter Organe der chinesischen Medizin versteht man Funktionskreise von Organsystemen, welche wiederum mit Muskulatur, Bindegewebe, Nervensystem etc. verbunden sind. Störungen im wechselseitigen Zusammenspiel von Durchblutung, Atmung und Verdauung sollen sich ganz einfach über Diagnose der Haut, der Zunge, der Augen und prinzipiell über jeden Teil des Körpers feststellen lassen.

Jeder Meridian hat laut chinesischer Medizin auch einen Bezug zur Psyche des Menschen und liefert so auch Anhaltspunkte zum Gefühlszustand. Im Konzept der Meridiane steht ein eindeutiges Wechselspiel von körperlichen und geistigen Zuständen. Die chinesische Medizin beschreibt auch verschiedene Konstitutionstypen von Menschen, welche sich nach ihrer Sicht durch unterschiedliche Dispositionen von Meridiantonus und Aktivität beschreiben lassen.

Verschiedene Meridiansysteme

Chinesisches Meridiansystem

Nach Ansicht der TCM gibt es eine Reihe verschiedener Meridiansysteme, von denen allerdings nur die ersten beiden (Jing Mai und Qi jing mai) in der modernen Praxis verbreitet sind:[8][10]

Jing Mai 12 Hauptmeridiane
Qi jing mai 8 außerordentliche Gefäße
Jing jin 12 Leitbahnsehnen
Luo Mai 15 Verbindungskanäle
Jing bie 12 Sondermeridiane
Jing shui Wasserbahnen

Die klassischen Akupunkturpunkte sollen sich alle auf den 14 Leitbahnen (Shi Si Jing) befinden, die aus den zwölf Hauptmeridianen (Jing Mai) zusammen mit Konzeptionsgefäß (Ren Mai) und Lenkergefäß (Du Mai) bestehen. Die anderen Meridiane sollen diese 14 Leitbahnen an bestimmten Akupunkturpunkten kreuzen.

Hauptmeridiane (Jing Mai)

Wenn man von Meridianen ohne weiteren Zusatz spricht, meint man üblicherweise die zwölf Hauptmeridiane (Jing Mai), die nach den „Organen“ (Zàngfǔ, Funktionskreise) benannt sind. Den Hauptmeridianen wird jeweils auch eine Fließrichtung zugeschrieben:

  • Yin-Meridiane verlaufen von den Zehen zum Stamm und vom Stamm zu den Fingern.
  • Yang-Meridiane verlaufen von den Fingern zum Gesicht und vom Gesicht zu den Zehen.

Die Hauptmeridiane ergeben nach den Vorstellungen der TCM einen Kreislauf, der im Laufe eines Tages komplett durchlaufen wird, so dass jeder Meridian jeweils zu seiner Uhrzeit für zwei Stunden ein Maximum erreicht.[11]

Meridiane, Sondermeridiane und Akupunkturpunkte
Wǔxíng Zàngfǔ Abk. Uhrzeit Jīngluò (Meridian) Taìjí Emotion Sinnesorgan Gewebe
Metall (金) Lunge Lu 03-05 Tai Yin Yīn Trauer Nase Haut
Metall (金) Dickdarm Di 05-07 Yang Ming Yáng Trauer Nase Haut
Erde (土) Magen Ma 07-09 Yang Ming Yáng Sorge Lippen Bindegewebe
Erde (土) Milz Mi 09-11 Tai Yin Yīn Sorge Lippen Bindegewebe
Feuer (火) Herz He 11-13 Shao Yin Yīn Freude Zunge Blut
Feuer (火) Dünndarm 13-15 Tai Yang Yáng Freude Zunge Blut
Wasser (水) Blase Bl 15-17 Tai Yang Yáng Angst Ohr Knochen
Wasser (水) Niere Ni 17-19 Shao Yin Yīn Angst Ohr Knochen
Feuer (火) Perikard Pe 19-21 Jue Yin Yīn Freude Zunge Blut
Feuer (火) 3facher Erwärmer 3E 21-23 Shao Yang Yáng Freude Zunge Blut
Holz (木) Gallenblase Gb 23-01 Shao Yang Yáng Wut Auge Muskel
Holz (木) Leber Le 01-03 Jue Yin Yīn Wut Auge Muskel

[12]

Die Hauptmeridiane seien paarig jeweils auf der rechten und linken Körperseite vorhanden und durchqueren auf der Körperoberfläche nie die Medianebene, wobei im Falle des Dickdarmmeridians auch manchmal eine andere Ansicht vertreten wird.[13][14][15]

Außerordentliche Gefäße (Qi jing mai)

Die acht Außerordentlichen Gefäße werden oft als „Ozeane“ bezeichnet, die sich ähnlich wie ein Potential verhalten.[16] Die Qi jing mai eignen sich angeblich besonders für die Behandlung von strukturellen Problemen (Fehlhaltung, Verspannung etc.).[17]

Nur zweien der acht Außerordentlichen Gefäße werden eigene Akupunkturpunkte zugeordnet: dem Konzeptionsgefäß (Ren mai) und dem Lenkergefäß (Du mai), die in der Medianebene des Körpers verlaufen.[18]

Kardinalpunkt Jīngluò (Meridian) Abk. Meridian (deutsch) Beziehung Körperebene
Mi 4 Chong Mai Durchdringendes Gefäß Vater Medianebene und Frontalebene
Pe 6 Yin Wei Mai Yin-Bindegefäß Mutter Frontalebene
Dü 3 Du Mai Du/LG Lenkergefäß Ehemann Medianebene
Bl 62 Yang Qiao Mai Yang-Fersengefäß Ehefrau Frontalebene
Gb 41 Dai Mai Gürtelgefäß männlich Transversalebene
3E 5 Yang Wei Mai Yang-Bindegefäß weiblich Medianebene
Lu 7 Ren Mai Ren/KG Konzeptionsgefäß Meister Medianebene
Ni 6 Yin Qiao Mai Yin-Fersengefäß Gast Frontalebene

[19]

Leitbahnsehnen (Jing jin)

Die Leitbahnsehnen werden im Neijing (Ling Shu, Kapitel 13) beschrieben. Ihr Verlauf ähnelt dem der Hauptmeridiane, d. h., sie verlaufen nach Auffassung der TCM ebenfalls bilateral, jeweils sechs an den Armen und sechs an den Beinen. Anders als bei den Hauptmeridianen sind die Jing jin aber unabhängig voneinander und es wird ihnen keine Verbindung zu den inneren Organen zugeschrieben. Bestimmte Muskeln korrespondieren nach diesen Vorstellungen mit bestimmten Leitbahnensehnen, d. h., bei einem Problem in einer bestimmten Leitbahn sollen die zugehörigen Muskeln funktionelle Tonusänderungen entwickeln.

Verbindungskanäle (Luo Mai)

Die Luo Mai sind 15 horizontale Verbindungsbahnen, die Verknüpfungen im Organ-Leitbahnsystem herstellen.[20]

Sondermeridiane (Jing bie)

Die Jing bie sind zwölf divergierende Leitbahnen, die sich verzweigen und zu den Leitbahnen zurückkehren.[20] Die Sondermeridiane sollen die Beziehung zwischen Peripherie und Organen, zwischen Extremitäten und Herz sowie zwischen Yin-Meridianen und Kopf fördern.[21]

Meridian-Therapien

Krankheiten werden als Störungen des Qi-Flusses in den Meridianen verstanden. Der Energiefluss in den Meridianen wird mit verschiedenen Methoden behandelt:

Meridiane spielen auch in der Kinesiologie und der Tierkinesiologie eine wichtige Rolle.

Rezeption

Obwohl die Meridiane und die exakte Lokalisation der Akupunkturpunkte Anfang der 1990er Jahre von einem internationalen, von Achim Eckert angeleiteten Team erforscht wurden, ist die Existenz eines Meridiansystems gemäß der TCM nicht nachgewiesen. Laut Colin Goldner sind die Vorstellungen der traditionellen chinesischen Medizin über Meridiane und Energieflüsse bis heute ohne jeden Beleg geblieben.[22] Die Existenz von Meridianen wurde trotz vieler Forschung nie verifiziert.[23] Annahmen der TCM wie die Existenz von Meridianen stammen aus einer vorwissenschaftlichen Ära und sind nicht plausibel.[24]

Eine französische Forschergruppe um Pierre de Vernejoul führte mittels radioaktiven Markern (Radiotracer) Experimente durch, um die Akupunkturpunkte zu identifizieren.[25] Nach Ansicht der Autoren soll das beobachtete Ausbreitungsmuster dabei klassischen Meridianen folgen. Außerdem gab die Forschergruppe an, dass etwa nur 5 % der verabreichten Radiotracer über Blut- und Lymphgefäße transportiert wurden. Andere Untersuchungen durch die Arbeiten von Robert Guiraud und Mitarbeitern konnten dies nicht verifizieren. Sie konnten im Gegenteil zeigen, dass die applizierten radioaktiven Marker gewöhnlich über Venen und Lymphgefäße drainiert wurden und dabei nicht postulierten Meridianenverläufen folgten. Auch konnte beobachtet werden, dass sich entsprechende Abflussbahnen verzweigen konnten sowie Venenstauungen den Abfluss behinderten. Ob die Marker an Akupunktur- oder Kontrollpunkten injiziert wurden, spielte dabei keine Rolle.[25]

Siehe auch

Literatur

  • Yoshia Manaka (Hrsg.): Manakas Quantensprung: Essenz und Praxis der Akupunktur. 2004, ISBN 978-3-88136-217-7.
  • Gabriel Stux, A. Jayasuriya: Tafeln zur Akupunktur. (I: Meridiane am Kopf, II: Meridiane am Rumpf, III: Meridiane am Bein). Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo 1982, ISBN 3-540-12087-4; Separatdruck aus: Gabriel Stux, A. Jayasuriya: Atlas der Akupunktur. ebenda 1982, ISBN 3-540-11737-7.

Einzelnachweise

  1. a b Birch, Felt: Understanding Acupuncture. 1999. S. 94.
  2. Birch, Felt: Understanding Acupuncture. 1999. Seite 100 und 111
  3. Birch, Felt: Understanding Acupuncture. 1999. Seite 100.
  4. Wiseman, Feng: A practical dictionary of Chinese medicine. 1998. Seite 180 f.
  5. Matsumoto, Birch: Hara diagnosis. 1988. Seite 141.
  6. Soulie de Morant: Chinese acupuncture. 1994. Seite 24.
  7. Paul U. Unschuld: Nan-Ching, The Classic of Difficult Issues. 1986. Seite 3, 13.
  8. a b Birch, Felt: Understanding Acupuncture. 1999. S. 111.
  9. Fan, Hummelsberger, Wislsperger: Tuina - Eine altchinesische manuelle Therapie neu entdeckt. 1999. S. 37.
  10. Ellis, Wiseman, Boss: Fundamentals of Chinese medicine. 1991. Seite 32
  11. Manaka, Itaya, Birch: Manakas Quantensprung. 2004. Seite 84.
  12. Neijing Suwen, Kapitel 4, ca. 1. bis 2. Jahrhundert v. Chr.
  13. Birch, Felt: Understanding Acupuncture. 1999. Seite 113 ff.
  14. Stux, Stiller, Pomeranz: Akupunktur, Lehrbuch und Atlas. 1999. Seite 98 ff.
  15. Jürgen Bschaden: Shen-Akupunkturatlas. 2001. Seite 90.
  16. Matsumoto, Birch: Extraordinary Vessels. 1986. Seite 26
  17. Matsumoto, Birch: Extraordinary Vessels. 1986. Seite 13.
  18. Stux, Stiller, Pomeranz: Akupunktur, Lehrbuch und Atlas. 1999. Seite 212 ff.
  19. Matsumoto, Birch: Extraordinary Vessels. 1986. Seite 7
  20. a b Manaka, Itaya, Birch: Manakas Quantensprung. 2004. Seite 63
  21. Stux, Stiller, Pomeranz: Akupunktur, Lehrbuch und Atlas. 1999. Seite 81 f.
  22. Colin Goldner: Die Psycho-Szene. 2000, S. 157.
  23. Edzard Ernst: Heilung oder Humbug?: 150 alternativmedizinische Verfahren von Akupunktur bis Yoga. 1. Auflage. Springer, Berlin 2020, ISBN 978-3-662-61708-3, S. 367, doi:10.1007/978-3-662-61709-0.
  24. Edzard Ernst: Heilung oder Humbug?: 150 alternativmedizinische Verfahren von Akupunktur bis Yoga. 1. Auflage. Springer, Berlin 2020, ISBN 978-3-662-61708-3, S. 348, doi:10.1007/978-3-662-61709-0.
  25. a b Michael Eigenschink et al.: A critical examination of the main premises of Traditional Chinese Medicine. In: Wiener klinische Wochenschrift. Band 132, Nr. 9, 1. Mai 2020, S. 260–273, doi:10.1007/s00508-020-01625-w, PMID 32198544, PMC 7253514 (freier Volltext) – (englisch).