Max Herrmann-Neiße (eigentlich Max Herrmann), ein Sohn des Kaufmanns und Gastwirts Robert Herrmann (1854–1916) und der Anna geb. Sambale[1], zeichnete sich schon als Gymnasiast durch außerordentlichen literarischen Einfallsreichtum aus. Er verfasste Gedichte und Theaterstücke; auch schloss er eine enge Freundschaft zu dem ebenfalls aus Neisse stammenden Franz Jung. Die Jahre der Kindheit und Jugend – wie auch das spätere Leben – waren überschattet durch den Umstand, dass Herrmann-Neiße an Hyposomie litt, also kleinwüchsig war.
Von 1905 bis 1909 studierte er in München und Breslau Literatur- und Kunstgeschichte. In München kam er mit der dortigen Bohème in Kontakt und besuchte häufig Varietés und Kabaretts. 1909 verließ er die Universität ohne Abschluss und ging zurück nach Neiße, um als freier Schriftsteller zu leben. Nach ersten, wenig beachteten Veröffentlichungen erschienen ab 1911 in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion Gedichte Herrmann-Neißes und bald darauf auch im von Alfred Kerr herausgegebenen Pan. Beide Zeitschriften gehörten zu den führenden Organen der modernen Literatur und machten den jungen Autor rasch bekannt.
Für seinen 1914 im S. Fischer Verlag erschienenen ersten größeren Gedichtband Sie und die Stadt erhielt er 1924 den Eichendorff-Preis. Der Erste Weltkrieg ruinierte seine Eltern. Sein Vater verstarb 1916, und seine Mutter ertränkte sich 1917 in der Glatzer Neiße. Im März 1917 zog Herrmann-Neiße nach Charlottenburg (damals bei Berlin). Dort heiratete er Leni Gebek (* 18. August 1894 in Fürstenwerder, Kreis Prenzlau,† 1960); Franz Pfemfert war Trauzeuge[1]. In Berlin stand er in Kontakt mit sozialistischen und anarchistischen Kreisen. In dieser Zeit fügte er seinem Namen den seiner Heimatstadt an.
Jahre des Erfolgs (1919 bis 1933)
Allein 1919 erschienen vier Bücher Herrmann-Neißes (drei Gedichtbände und ein Theaterstück), die von der Kritik und von Autoren wie Else Lasker-Schüler oder Oskar Loerke begeistert aufgenommen wurden. Allerdings genügte dies nicht für den Lebensunterhalt, den er durch journalistische Arbeiten und eine Tätigkeit als Korrektor bei S. Fischer sichern musste. Ebenfalls 1919 wurde seine Komödie Albine und Aujust in Berlin uraufgeführt.
In den 1920er Jahren begann Herrmann-Neiße neben Gedichten verstärkt Erzählungen und andere Prosa zu schreiben. 1920 erschien der autobiografische Roman Cajetan Schaltermann. Die meisten Texte dieser Zeit sind noch stark vom Expressionismus geprägt. Mit dem Erzählband Die Begegnung (1925) zeichnete sich eine Wende hin zur Neuen Sachlichkeit ab. In dieser Zeit begann er regelmäßig in Kabaretts aufzutreten, wo er meist eigene Texte vortrug; hieraus ergaben sich Kontakte u. a. zu Claire Waldoff und Alfred Polgar. 1927 erhielt Herrmann-Neiße den Gerhart-Hauptmann-Preis.
In den späten 1920er Jahren war Herrmann-Neiße einer der bekanntesten Berliner Literaten, wozu neben seinen Texten auch die auffällige Gestalt und Erscheinung beitrugen. Zahlreiche Künstler, darunter Ludwig Meidner, George Grosz und Otto Dix, porträtierten ihn zu dieser Zeit.
Im Exil
Kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ Herrmann-Neiße gemeinsam mit seiner Frau Deutschland und ging zunächst in die Schweiz, dann über die Niederlande und Frankreich nach London, wo er sich im September 1933 niederließ. Die Kosten für Unterkunft und Ernährung trug ein Gönner – es handelt sich um den vermögenden Juwelier Alphonse Sondheimer. Er ermöglichte 1936 auch die Publikation des Bandes Um uns die Fremde, die bei Oprecht in Zürich erschien.[2]
Herrmann-Neiße gründete Ende 1933 gemeinsam mit Lion Feuchtwanger, Rudolf Olden und Ernst Toller den Exil-PEN, doch blieb er in England ansonsten weitgehend isoliert. 1938 beantragte er, nachdem er aus Deutschland ausgebürgert worden war, ohne Erfolg die englische Staatsbürgerschaft.
Auch im Exil schrieb er viel, darunter Gedichte, die zu seinen besten gerechnet werden, aber es gab nur noch wenige Möglichkeiten zur Veröffentlichung. 1940 entstand das Gedicht Litanei der Bitternis:
Herrmann-Neiße spielt in diesem Gedicht auf das Dreiecksverhältnis an, in dem er als schwächster Teil lebte, nachdem seine Frau eine Liebesbeziehung mit Alphonse Sondheimer begonnen hatte, den sie nach dem Tod des Dichters auch heiratete. Im April 1941 starb er in London an den Folgen eines Herzinfarkts und wurde auf dem East Finchley Cemetery[4] in London beigesetzt. Der Band Letzte Gedichte wurde posthum von seiner Frau Leni veröffentlicht, die 1960 kurz nach dem Tod ihres zweiten Mannes Selbstmord beging. Wie viele Schriftsteller der Zeit geriet Max Herrmann-Neiße schnell in Vergessenheit. Seine Werke wurden erst ab den späten 1970er Jahren allmählich wiederentdeckt und neu herausgegeben (und danach wieder vergessen).
Werke
Einzelwerke
Ein kleines Leben. Gedichte und Skizzen. 1906
Das Buch Franziskus. 1911
Porträte des Provinztheaters. Sonette. 1913
Sie und die Stadt. 1914
Empörung, Andacht, Ewigkeit. Gedichte. 1918
Die Bernert-Paula. Ein Roman 1918
Verbannung. Ein Buch Gedichte. 1919
Die Preisgabe. Gedichte. 1919
Joseph der Sieger. Drei Bilder. 1919 (später unter dem Titel Albine und Aujust)
Die Laube der Seligen. Eine komische Tragödie. 1919
Cajetan Schaltermann. 1920
Hilflose Augen. Prosadichtungen. 1920
Der Flüchtling. 1920
Der letzte Mensch. Eine Komödie vor Weltuntergang. 1922
Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat. 1922
Im Stern des Schmerzes. Ein Gedichtbuch. 1924
Die Begegnung. Vier Erzählungen. 1925 (Digitalisat)
Der Todeskandidat. Erzählung. 1927
Einsame Stimme. Ein Buch Gedichte. 1927
Abschied. Gedichte. 1928
Musik der Nacht. Gedichte. 1932
Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen. Gedichte. 1934
Um uns die Fremde. Gedichte. 1936
Letzte Gedichte. Aus dem Nachlass hrsg. von Leni Herrmann, London 1941
Mir bleibt mein Lied. Auswahl aus unveröffentlichten Gedichten Aus dem Nachlass hrsg. von Leni Herrmann, London 1942
Gesamtausgabe
Gesammelte Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Klaus Völker, Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1986–1988 (zweite Auflage: 1990)
Prosa 1 – Cajetan Schaltermann. Die Bernert-Paula
Prosa 2 – Der Todeskandidat
Prosa 3 – Unglückliche Liebe
Gedichte 1 – Im Stern des Schmerzes
Gedichte 2 – Um uns die Fremde
Gedichte 3 – Schattenhafte Lockung
Gedichte 4 – Mir bleibt mein Lied
Die neue Entscheidung – Aufsätze und Kritiken
Kabarett – Schriften zum Kabarett und zur bildenden Kunst
Panoptikum – Stücke und Schriften zum Theater
Briefe. Herausgegeben von Klaus Völker und Michael Prinz, Verbrecher Verlag, Berlin 2012
Briefe 1, 1906–1928
Briefe 2, 1929–1940
Sonstiges
Mit Leni Herrmann: Liebesgemeinschaft in der Fremde. Gedichte und Aufzeichnungen. Hrsg. von Christoph Haacker. Arco Verlag Wuppertal 2012
Daß wir alle Not der Zeit vergaßen. Reisealbum Herbst 1937. Hrsg. von Klaus Völker. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2012.
Kritiken und Essays (1909–1939). Kritische Edition. Hrsg. von Sibylle Schönborn. Aisthesis Verlag, Bielefeld.[5]
Band 1: 1909–1920. Hrsg. von Beate Giblak unter Mitarbeit von Fabian Wilhelmi und Simone Zupfer. 2021, ISBN 978-3-8498-1750-3.
Band 2: 1920–1924. Hrsg. von Simone Zupfer unter Mitarbeit von Beate Giblak, Madlen Kazmierczak und Fabian Wilhelmi. 2022, ISBN 978-3-8498-1764-0.
Band 3: 1925–1939. Hrsg. von Fabian Wilhelmi unter Mitarbeit von Hendrik Cramer, Beate Giblak, Verena Rheinberg und Simone Zupfer. 2022, ISBN 978-3-8498-1813-5.
Briefe
George Grosz / Max Herrmann-Neisse: „Ist schon doll das Leben“. Der Briefwechsel. Hrsg. von Klaus Völker, Berlin 2003.
Hörbuch
Max Hermann-Neiße – Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen. Kaleidophon-Verlag, Berlin 2012, 79 min.
Literatur
Yvonne-Patricia Alefeld (Hrsg. in Verbindung mit Eckhard Grunewald u. Nikolaus Gussone): Der Dichter und seine Stadt. Max Herrmann-Neiße zum 50. Todestag. Eine Ausstellung des Eichendorff-Instituts an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und des Oberschlesischen Landesmuseums Ratingen-Hösel, Ratingen 1991.
Richard Dove: „Fremd ist die Stadt und leer …“ Fünf deutsche und österreichische Schriftsteller im Londoner Exil 1933–1945. Aus dem Englischen übersetzt von Hellmut Roemer, Parthas, Berlin 2004, ISBN 3-932529-59-6.
Peter Härtling: Max Herrmann-Neiße: Lied der Einsamkeit. In: (ders.): Vergessene Bücher. Hinweise und Beispiele. Goverts, 1966, S. 245–250.
Jutta Kepser: Utopie und Satire. Die Prosadichtung von Max Herrmann-Neisse, Würzburg 1996.
Gerold Meischen: Die narrative Prosa Max Herrmann-Neißes in seiner Berliner Phase (1912–1933): literarische Verfahren im Spiegel kulturhistorischer Parameter. Berlin 2021. ISBN 978-3-96543-233-8
Jelko Peters: „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen.“ Max Herrmann-Neisse im Londoner Exil. In: Deutsche Autoren des Ostens als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblemaik. Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll, Duncker&Humblot, Berlin 2000, ISBN 3-428-10293-2, S. 189–201
Sibylle Schönborn (Hrsg.): Exzentrische Moderne: Max Herrmann-Neiße (1886–1941). Lang, Bern 2013, ISBN 978-3-0343-1408-4 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Tagungsberichte, Band 111).
Klaus Schuhmann: „Ich gehe wie ich kam: arm und verachtet.“ Leben und Werk Max Hermann-Neisses (1886–1941). Bielefeld 2003, ISBN 3-89528-413-0
Jörg Thunecke: „Weh mir, dass ich ein Lyriker bin und noch dazu ein deutscher.“ Zur Exillyrik Max Herrmann-Neisses. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hg. Jörg Thunecke (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Band 44), Amsterdam 1998, S. 235–249
Klaus Völker: Max Herrmann-Neisse: Künstler, Kneipen, Kabaretts – Schlesien, Berlin, im Exil. Edition Hentrich, Berlin 1991, ISBN 3-89468-007-5 (= Deutsche Vergangenheit, Band 56: Stätten der Geschichte Berlins)