Mainzer BrückenkopfAls Mainzer Brückenkopf oder Brückenkopf Mainz wird häufig das Castellum Mattiacorum bezeichnet, das zur Zeit des Römischen Reiches auf der Mainz (Mogontiacum) gegenüberliegenden rechtsrheinischen Seite den Rheinübergang sichern sollte. Aus diesem Kastell ging später der heutige Wiesbadener Ortsteil Mainz-Kastel hervor. In der Literatur hat sich dieser Begriff aber vor allem als Bezeichnung für ein von Frankreich kontrolliertes rechtsrheinisches Gebiet etabliert, das Ende 1918 nach der Alliierten Rheinlandbesetzung das linksrheinische Besatzungsgebiet im Mainzer Hinterland gegen eventuelle deutsche Angriffe absichern und umgekehrt dafür sorgen sollte, „dass die Alliierten möglichst schnell ins Herz Deutschlands vorstoßen könnten“.[1]:S. 8 Der Mainzer Brückenkopf war einer von vier Brückenköpfen, die von den alliierten und assoziierten Siegermächten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Waffenstillstand von Compiègne (1918) und dem Friedensvertrag von Versailles (Versailler Vertrag) auf der rechtsrheinischen Seite eingerichtet und kontrolliert wurden. Seine Besetzung endete am 30. Juni 1930.[2]:S. 136 Die Einrichtung der alliierten Brückenköpfe 1918Durch den Waffenstillstand von Compiègne war bereits die Okkupation der deutschen Gebiete westlich des Rheins festgeschrieben. Hinzu kamen als alliierte Vorposten östlich des Rheins zunächst drei rechtsrheinische Brückenköpfe:
In Bezug auf die Brückenköpfe Koblenz und Mainz spricht Walter Mühlhausen von „Halbkreise[n] mit dem festgelegten Radius von 30 km rechts des Rheins“.[2]:S. 121. Tatsächlich galt diese Vorgabe für alle drei Brückenköpfe und war so bereits im Waffenstillstandsvertrag von Compiègne im Zusammenhang mit der Besetzung der linksrheinischen Gebiete festgelegt worden:
– Die endgültigen von Marschall Foch festgesetzten Waffenstillstandsbedingungen (Waffenstillstand von Compiègne, 11. November 1918, Abschnitt V) Nähere Bestimmungen darüber, wo die Fixpunkte für die jeweiligen Radien liegen, sind dort nicht zu finden. Nach Sven Felix Kellerhoff sollen dies die Rathäuser der drei Städte gewesen sein.[5] In einer Kontroverse darüber, ob die Gemeinde Freiendiez zum Brückenkopf Koblenz gehöre oder zum unbesetzten Teil des Regierungsbezirks Wiesbaden, heißt es dagegen in einer Stellungnahme des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts vom 27. Oktober 1926 in direkter Bezugnahme auf den durch das Waffenstillstandsabkommen vorgegebenen Radius und eine den Akten nicht beiliegende Karte: „Die Grenze des altbesetzten Gebiets ist ein grüner Kreisbogen, dessen Mittelpunkt auf der südlich belegenen Rheinbrücke (Mitte des Rheins) bei Koblenz ruht.“[6] Mit der „südlich belegenen Rheinbrücke“ dürfte die heutige Pfaffendorfer Brücke gemeint gewesen sein, denn von deren Mitte aus lässt sich exakt ein Kreis mit einem 30-km-Radius ziehen, der zwischen Dörscheid und Kaub die Grenze zum Freistaat Flaschenhals bildete.[7] Unklar ist auch, ob, wie von Kellerhoff behauptet, die drei Brückenköpfe sich an ihren Rändern hätten überlappen sollten, damit auch auf der östlichen Rheinseite ein zusammenhängendes Besatzungsgebiet entsteht.[5] Ein rechtsrheinisch zusammenhängendes Gebiet wird im Waffenstillstandsabkommen nur für eine zusätzlich zu schaffende „neutrale Zone“ gefordert.
– Die endgültigen von Marschall Foch festgesetzten Waffenstillstandsbedingungen (Waffenstillstand von Compiègne, 11. November 1918, Abschnitt V) Faktisch bildeten die drei Brückenköpfe zunächst kein sich überlappendes Gebiet, was zu einigen Kuriositäten führte.
– Thomas Napp: Als der Schmuggel bei uns zu Hause war Das von Napp hier erwähnte Extrem bei Kaub ging als „Freistaat Flaschenhals“ in die Geschichte ein und wurde am 25. Februar 1923 von französischen Truppen besetzt. Die unbesetzte Zone mit den anderen von Napp genannten Orten wurde am 28. Februar 1923 ebenfalls von den Franzosen besetzt.[3] 1919 wurde unter französischer Besatzung auch noch ein vierter – kleinerer – Brückenkopf eingerichtet, der Brückenkopf Kehl.[8] Geschichte des Brückenkopfs MainzDie Geschichte des Mainzer Brückenkopfs ist über weite Strecken die konfliktträchtige Geschichte des Zusammenspiels zwischen sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neu etablierenden republikanischen Strukturen und der französischen Besatzungsmacht, die durch Unterstützung separatistischer Bestrebungen die Verfestigung eben dieser neu geschaffenen Strukturen zu verhindern versuchte. Der Volksstaat Hessen war davon besonders betroffen, da mit seinen linksrheinischen Gebieten und dem Brückenkopf Mainz etwa ein Viertel seines Staatsgebietes unter Besatzungsrecht fielen. Die Geschichte des Brückenkopfs ist aber nicht nur die Geschichte schwieriger Verwaltungsstrukturen und eingeschränkter Hoheitsrechte. Unterhalb dieser Ebenen betraf die Besatzung viele Menschen sehr direkt, schnitt ihre Arbeitswege ab, schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein oder machte sie, so zeitweise in Darmstadt, zu Grenzgängern innerhalb der eigenen Stadt oder zwischen benachbarten und eng verbundenen Orten wie etwa im Westen Frankfurts. Hier fanden auch die unmittelbaren Erfahrungen im Umgang mit den fremden Soldaten statt, die nicht selten von der sich ausbreitenden Propaganda gegen die „Schwarze Schmach“ geprägt wurden. Vieles davon hat Elisabeth Langgässer in ihrem Buch Grenze: Besetztes Gebiet beschrieben, das in dem schwierigen Besatzungsjahr 1923 spielt und die Erfahrungen mit der Besatzung am Rande von Darmstadt reflektiert. Der Grenzverlauf des BrückenkopfsDer Brückenkopf Mainz erstreckte sich über Gebiete, die heute zum Land Hessen gehören. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehörten sie jedoch zu zwei Ländern: der preußischen Provinz Hessen-Nassau und deren Regierungsbezirk Wiesbaden sowie dem aus dem Großherzogtum Hessen hervorgegangenen Volksstaat Hessen, zu dem auch die Provinz Rheinhessen gehörte. Zum Regierungsbezirk Wiesbaden gehörten im Nordwesten auch Gebiete, die im Brückenkopf Koblenz lagen: Teile des Unterlahn-, des Unterwesterwald- und des Oberwesterwaldkreises.[9]
Für den neu gegründeten Volksstaat Hessen war bereits durch den Waffenstillstandsvertrag von Compiègne die Verfügungsgewalt über seinen linksrheinischen Teil, die Provinz Rheinhessen, verlorengegangen, da dieser nun unter französischer Besatzung stand. Durch den Vertrag wurde das Besatzungsgebiet zusätzlich auf große rechtsrheinische Teile des Staatsgebiets ausgeweitet. Nach Mühlhausen befand sich „somit insgesamt ein Viertel des Volksstaates mit mehr als einem Drittel seiner Bevölkerung unter französischer Kuratel“.[2]:S. 121.. Der 30-km-Radius um Mainz bildete die äußere Grenze des Brückenkopfs, die aber lokal oft unterschritten wurde. Deutlich wird das zum Beispiel an der unten abgebildeten Karte über den östlichen Grenzverlauf. Die am linken Kartenverlauf schraffierten Flächen der tatsächlich besetzten Gebiete liegen zum Teil deutlich hinter der rechts davon verlaufenden Kreislinie. Andererseits waren die Grenzverläufe an manchen Orten auch Jahre nach dem Besatzungsbeginn noch nicht eindeutig geklärt und französischen Ausweitungsgelüsten ausgesetzt – insbesondere nach den beiden Vorstößen der Franzosen über die Grenze hinaus in den Jahren 1920 und 1923/24. Da nicht klar ist, ob die oben zitierte Festlegung des Kreismittelpunktes auf die Rheinmitte für alle Brückenköpfe galt, wurde im Falle der unten angezeigten Gesamtansicht des Brückenkopfs Mainz in Anlehnung an Kellerhoff die Adresse Stadthausstr. 18 in Mainz, Sitz des damaligen Mainzer Rathauses, als Fixpunkt des Radius gewählt. Der dadurch gesetzte westlichste Punkt des Brückenkopfes lag kurz vor Lorch im Bodenthal[10]:S. 9 (Lage) in Höhe des linksrheinisch gelegenen Trechtingshausen. Von hier aus verlief die Grenze in nordöstlicher Richtung bis zu ihrem nördlichsten Scheitelpunkt bei Wallrabenstein, das selbst noch im besetzten Gebiet lag.[11] Ein Grenzübergang zum freien Gebiet befand sich nahebei im Goldenen Grund (Emsbachtal) des heutigen Idsteiner Stadtteils Walsdorf.[12] Da diese vom Rhein aus nordöstlich verlaufende Grenzlinie über keine Berührungspunkte mit der Grenzlinie des Brückenkopfs Koblenz verfügte, war sie einer der Gründe dafür, dass der Freistaat Flaschenhals entstehen konnte, der sich zwischen dem schon erwähnten Bodenthal (südlichster Punkt) entlang des Rheins bis zu der zwischen Dörscheid und Kaub den Fluss erreichenden Grenze des Brückenkopfs Koblenz und dem etwa 20 km landeinwärts gelegenen Laufenselden[10]:S. 9 zwischen den beiden Brückenköpfen erstreckte.[13] Dass es zu diesem besatzungstechnischen Vakuum zwischen den beiden Brückenköpfen kommen konnte, wird von Zibell so erklärt:
– Stephanie Zibell: Freistaat Flaschenhals[14]
Für den weiteren Grenzverlauf von Wallrabenstein/Walsdorf in Richtung Südosten liegen bislang keine detaillierten Karten vor. Die Grenze verlief in Richtung der ebenfalls noch besetzten Gemeinde Seelenberg[11], schloss Ober- und Niederreifenberg ein[11] und ließ dann in Richtung Süden Oberursel außerhalb, nicht aber dessen heutige Stadtteile Stierstadt und Weißkirchen.[11] Der weitere Grenzverlauf in Richtung Süden ist dann in der Karte Der nordwestliche Grenzverlauf festgehalten und detaillierter noch in der Karte Der Grenzverlauf im Landkreis Offenbach. Auffällig ist, dass zwischen Weißkirchen und dem heutigen Dreieicher Stadtteil Sprendlingen das Besatzungsgebiet nicht an die 30-km-Zone heranreicht, wovon nicht zuletzt Frankfurt profitierte. Frankfurt-Praunheim und Frankfurt-Rödelheim wurden zwar 1918 von den französischen Truppen besetzt, lagen aber ab 1922 nicht mehr in der Besatzungszone.[16] Frankfurt-Griesheim gehörte bis 1928 noch zum Kreis Höchst (heute: Main-Taunus-Kreis), dessen Verwaltungssitz sich in Höchst befand. Dieser gesamte Kreis zählte zum Besatzungsgebiet.[11] Nach Helga Krohn war „Höchst (mit Unterliederbach, Sindlingen und Zeilsheim) […] von den Siegermächten als wichtiger Stützpunkt gegenüber der (nicht besetzten) Stadt Frankfurt am Main ausersehen, weshalb die Präsenz der Franzosen sehr stark ist“.[17]:S. 170 f. Östlich von Frankfurt-Griesheim übersprang die Grenze den Main und schwenkte nahe der besetzten Siedlung Goldstein in südöstlicher Richtung ab bis zum Neu-Isenburger Bahnhof, der unbesetzt blieb, aber 1923 nach der Ruhrbesetzung bis September 1924 von den Franzosen kontrolliert wurde. Neu-Isenburg selbst blieb unbesetzt, ebenso die Nachbargemeinde Sprendlingen (anders als deren heutiger Stadtteil Buchschlag). Von hier verlief die Grenze weitgehend in südlicher Richtung, wodurch auch Langen, Egelsbach, Erzhausen sowie die damals noch selbständigen Orte Wixhausen an Darmstadts Nordgrenze ins Besatzungsgebiet fielen. Das damals ebenfalls noch selbständige Arheilgen war nur teilweise besetzt. Die Grenze des Brückenkopfs verlief mitten durch das Dorf.[18] Auch wenn die 30-km-Zone Darmstadt durchschnitt, blieb die Hauptstadt des Volksstaats Hessen anfangs weitgehend von der Besatzung verschont, denn der von Arheilgen kommende Grenzverlauf schwenkte am südlichen Ende von Arheilgen nach Südwesten ab und verlief westlich der zum Darmstädter Hauptbahnhof verlaufenden Bahngleise der Bahnstrecke Frankfurt am Main–Heidelberg. Von diesem westlichen Bereich Darmstadts aus verlief die Grenze weiter südwestlich durch den Westwald zwischen dem unbesetzten Pfungstadt und dem besetzten Griesheim.[19] Für die Besatzungsmacht waren vor allem der Truppenübungsplatz Griesheim und der dortige August-Euler-Flugplatz (Flugplatz Griesheimer Sand) von großer Bedeutung. Allerdings unterhielten die Franzosen nur kurzfristig den Flugbetrieb aufrecht;[20] geflogen wurde erst wieder nach deren Abzug im Jahr 1930.[21]
– Sammlung Peter Merschroth: Franzosenzeit[20] Hinter Griesheim beziehungsweise Crumstadt näherte sich der Grenzverlauf seinem südlichsten Ende am Rhein. Zwischen dem besetzten Biebesheim am Rhein und dem unbesetzten Gernsheim endete das Besatzungsgebiet des rechtsrheinischen Mainzer Brückenkopfs. Wie oben schon erwähnt, lag der Brückenkopf Mainz, wie die anderen Brückenköpfe auch, in einer entmilitarisierten Zone, die bereits im Waffenstillstandsvertrag festgelegt und durch den Versailler Vertrag bestätigt worden war. GrenzverschiebungenDer Grenzverlauf des Brückenkopfs war im Laufe seiner knapp zwölfjährigen Geschichte immer wieder Änderungen unterworfen. So gehörten im Frankfurter Westen Frankfurt-Nied[22] und Frankfurt-Griesheim ursprünglich nicht zum Besatzungsgebiet. Dem wurden sie erst ab dem 19. April 1919 angeschlossen.[23]:S. 400 (a) Nicht weit davon entfernt lagen weitere Orte, deren Zugehörigkeit zum Brückenkopf nicht eindeutig geklärt war. In einem Schreiben des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom Dezember 1921 an die Oberpostdirektion in Frankfurt heißt es dazu:
– Der Regierungspräsident in Wiesbaden: HHStAW Bestand 405 Nr. 5278: Grenzen des besetzten Gebietes (1920–1929), Blatt 67 f. In den Unterlagen des Regierungspräsidiums Wiesbaden finden sich einige weitere Hinweise, die die unterschiedlichen Auffassungen über den Grenzverlauf dokumentieren. Die größten – allerdings zeitlich begrenzten – Grenzverschiebungen entstanden jedoch in der Folge des Ruhraufstands 1920 und der Ruhrbesetzung von 1923. Die vor diesen beiden Ereignissen besetzten Gebiete, die durch den Versailler Vertrag festgelegt worden waren, bezeichnete das Preußische Statistische Amt als Alte besetzte Gebiete und unterschied sie von den später hinzugekommenen besetzten Gebieten, die das Amt als unrechtmäßig besetzt ansah, weil sie nicht durch den Versailler Vertrag legitimiert waren.[24]:p. 2 (Einleitung) Der Maineinbruch als Folge des RuhraufstandesGeographisch gesehen spielte sich ein Großteil des Ruhraufstandes innerhalb einer durch den Versailler Vertrag definierten entmilitarisierten Zone ab.
– Friedensvertrag von Versailles („Versailler Vertrag“) vom 28. Juni 1919, Teil III. Politische Bestimmungen über Europa, Abschnitt III. Linkes Rheinufer Der Reichsregierung war bewusst, dass sie bei ihrem Versuch, den Aufstand durch den Einsatz von Reichswehr und Freikorps zu beenden, in Konflikt mit den Alliierten kommen würde. In der zweiten Märzhälfte des Jahres 1920 liefen deshalb Verhandlungen, mit dem Ziel, einen begrenzten Einsatz deutscher Truppen in der entmilitarisierten Zone zu erlauben. Die französische Regierung wollte diesem Wunsch allerdings nur entsprechen, „wenn alliierte Truppen die Städte Frankfurt a. M., Hanau, Homburg, Dieburg und Darmstadt solange und in gleicher Stärke besetzen dürften, als deutsche Truppen über das bisher zugelassene Maß sich im Ruhrgebiet zur Bekämpfung der roten Armee befänden“.[24]:S. 45 Warum die Franzosen ausgerechnet auf der Besetzung dieser an den Mainzer Brückenkopf angrenzenden Städte bestanden, ist nicht dokumentiert,[25] doch wurde dieses Ansinnen grundsätzlich von der deutschen Seite und den Alliierten akzeptiert. Offenbar aber marschierten die deutschen Truppen Ende März / Anfang April bereits ohne eine formelle Zustimmung der Alliierten in das Ruhrgebiet ein, was die Franzosen am 3. März 1920 veranlasste, eine Verletzung des Artikels 44 des Versailler Vertrags zu konstatieren und in der Nacht vom 5. auf den 6. April 1920 Frankfurt und Darmstadt durch den Einmarsch von „weißen und farbigen Franzosen und Belgiern in das Maingebiet“[26] zu besetzen. Die bis zum vollständigen Abzug aller deutschen Truppen aus der neutralen Zone fortdauernde Besatzung betraf tatsächlich aber weit größere Gebiete als die der beiden Städte.[24]:S. 45–46 Die äußere Grenze war wie folgt von französischer Seite festgelegt worden:
– Preußisches Statistisches Landesamt: Besetzte Gebiete Deutschlands, S. 46 Innerhalb des Einbruchsgebietes waren die Auswirkungen recht unterschiedlich. In Frankfurt zählten zuvor 1.683 ha zum alt-besetzten Gebiet; zusätzlich besetzt durch den Maineinbruch wurden 11.793 ha.[24]:S. 51 In Höchst waren bereits 14.193 ha besetzt; hinzu kamen hier lediglich noch 152 ha.[24]:S. 52 Ähnlich auch im Kreis Groß-Gerau: Von dessen Gesamtfläche von 44.888 ha gehörten bereits 40.986 ha zum alt-besetzten Gebiet, das 1920 nur noch um 390 ha erweitert wurde. Umgekehrt dagegen im Kreis Offenbach, von dem 6.242 ha zum alt-besetzten Gebiet gehörten, nun aber weitere 31.404 ha zusätzlich besetzt und der Kreis somit komplett unter französischer Kontrolle gestellt wurde.[24]:S. 60–61 Am 17. Mai 1920 (Hanau: 18. Mai 1920) zogen sich die französischen Truppen aus dem Maineinbruchsgebiet am Rande des Mainzer Brückenkopfes zurück.[24]:S. 46 Der Ruhreinbruch als Folge der RuhrbesetzungDie von französischer Seite mit der Nichterfüllung der durch den Versailler Vertrag vorgegebenen Reparationsleistungen begründete Besetzung des Ruhrgebiets begann am 11. Januar 1923 mit dem Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet. Wenige Tage später, in der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1923, schieden die USA aus dem Kreis der Besatzungsmächte aus. Ihre Soldaten verließen Koblenz und wurden von französischen Truppen abgelöst.[24]:S. 2 Am 16. Januar 1923 erfolgte bereits die Ausdehnung der französischen Besatzung auf Gebiete südlich des eigentlichen Einbruchsgebiets. Betroffen hiervon waren die bislang unbesetzten Gebiete zwischen den Brückenköpfen Köln und Koblenz sowie zwischen den Brückenköpfen Koblenz und Mainz. Hinzu kamen Gebiete in Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe, am 10. April dann auch Gebiete östlich des Brückenkopfs Kehl.[24]:S. 70–71 Der Volksstaat Hessen war von diesen neuerlichen Besetzungen weniger stark tangiert als 1920; sie betrafen überwiegend Gebiete im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden, zu denen auch die Orte im Flaschenhals gehörten. Mit dessen Besetzung bis hinauf nach Limburg und Camberg (beide besetzt am 15. Mai 1923, während umliegende Landgemeinden schon Mitte April besetzt worden waren)[24]:S. 286 schufen die Franzosen nun ein zusammenhängendes Gebiet, das die beiden Brückenköpfe Koblenz und Mainz vereinte. Es wurde eine neue Grenzlinie festgelegt, die das Gebiet zwischen den beiden Brückenköpfen zum unbesetzten Hinterland hin abgrenzte: „Straße und Eisenbahnlinie längs des Emsbaches; Ost- und Nordgrenze der Gemeinden Lindenholz, Hausen, Ennerich, Mühlen, Limburg“.[24]:S. 70[27] Das nahe Weilburg und der Oberlahnkreis, die unbesetzt blieben, wurden „zu Grenzposten an der neuen Demarkationslinie zum französisch besetzten Gebiet und mussten zahlreiche von der Besatzungsmacht Ausgewiesene aufnehmen. […] Nach Beendigung des passiven Widerstandes konnten die Ausgewiesenen bis Weihnachten 1924 in ihre Heimat zurückkehren.“[2]:S. 127 Mühlhausen spricht von 1.300 Vertriebenen, die das damals selbst nur 3.600 Einwohner zählende Weilburg aufnehmen musste. Im Volksstaat Hessen waren nur Darmstadt und einige Umlandgemeinden von der Besatzungsausweitung betroffen. In der Stadt selbst besetzten „am 3. März […] französische Soldaten die Darmstädter Eisenbahnwerkstätten und das Elektrizitätswerk am Hauptbahnhof und schnitten damit die Waldkolonie und den Waldfriedhof für anderthalb Jahre von der Darmstädter Innenstadt ab.“[28]:S. 7 Das Passieren der Grenze zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Stadtgebiet war nur an der Brücke Dornheimer Weg möglich und erforderte einen Passierschein.[29] „Das Tor geht zu“ ist die Überschrift des ersten Kapitels in dem 1923 spielenden Buch Grenze: Besetztes Gebiet. Ballade eines Landes von Elisabeth Langgässer. Sie lebte und arbeitete selbst von 1920 bis 1928 im alt-besetzten Griesheim als Lehrerin, erwähnte diesen Ort aber nie[30]:S. 101, 106 und beschrieb sehr anschaulich den Alltag unter der französischen Besatzung, nicht zuletzt auch die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, um die Grenze in den unbesetzten Teil von Darmstadt zu passieren. Am 16. November 1924 endete für die ein Jahr zuvor besetzten Gebiete von Darmstadt und einigen Nachbargemeinden die Besatzung.[24]:S. 370–371 Die danach geltende Grenze im Darmstädter Südwesten wurde in einem Zeitungsartikel sehr detailliert beschrieben.
– Deutsche Allgemeine Zeitung vom 18. April 1925: HHStAW Bestand 405 Nr. 5278: Grenzen des besetzten Gebietes (1920–1929), Blatt 106 Der Artikel endete aber mit einer skeptischen Beurteilung des neuen Grenzverlaufs: „Die neue Grenze bedeutet zwar im ganzen eine Zurückverlegung der im Januar 1923 anläßlich des Rhein-Ruhreinbruchs vorgeschobenen Grenze und bleibt innerhalb der 30-Kilometer-Grenzlinie des Brückenkopfs Mainz. Sie geht jedoch über die Grenzlinie, wie sie vor dem Ruhreinbruch gestanden hat, hinaus.“ Der BesatzungsverlaufDie vertraglich fixierten BesatzungszeitenIn vielen Quellen zum Brückenkopf Mainz wird der Dezember 1918 als Beginn der Besatzungszeit genannt. Französische Vorkommandos tauchten mancherorts aber bereits wenige Tage nach dem Waffenstillstandsabkommen auf, so am 14. November 1918 in Kronberg im Taunus, während die eigentliche Besatzung Mitte Dezember vonstattenging: Wiesbaden wurde am 13. Dezember 1918 besetzt, Königstein im Taunus einen Tag später,[2]:S. 122 ebenso Höchst[31]:S. 20. Auch das strategisch bedeutsame Griesheim wurde am 13. Dezember eingenommen.[32] Andernorts dauerte es noch etwas länger, so in Buchschlag, wo der Einmarsch am 22. Dezember 1918 erfolgte,[33]:S. 41 und in Langen am 23. Dezember 1918.[34] Unter dem Vorbehalt, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag erfüllt, waren dort präzise Vorgaben über die Dauer der Besatzungszeiten in den Brückenkopf-Gebieten gemacht worden.
– Friedensvertrag von Versailles („Versailler Vertrag“) vom 28. Juni 1919, Teil XIV. Bürgschaften für die Durchführung. Abschnitt I. Westeuropa Die politischen Entwicklungen der 1920er Jahre und die Verträge nach dem Versailler Vertrag sowie die innenpolitischen Entwicklungen in Frankreich führten dazu, dass die ursprünglich festgelegten Besatzungszeiten nicht vollständig eingehalten wurden. In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1923 verließen die amerikanischen Truppen als erste die von ihnen besetzten Gebiete, gaben den Brückenkopf Koblenz auf und schieden de facto als Besatzungsmacht aus. Der Brückenkopf befand sich fortan unter französischer Kontrolle.[24]:S. 2 (Einleitung) Um die Jahreswende 1925/26 zogen sich die Briten aus dem Brückenkopf Köln zurück und übernahmen von den Franzosen einen Teil des Brückenkopfs Mainz (siehe unten), bevor sie sich Ende 1929 zusammen mit den Belgiern komplett aus dem Rheinland zurückzogen. Kurzfristig kehrten die Franzosen noch einmal in die von den Briten aufgegebenen Teile des Brückenkopfs Mainz zurück, bevor auch dort am 30. Juni 1930 die Besatzungszeit offiziell endete.[2]:S. 123 Stadien des historischen BesatzungsverlaufsSowohl Peter Maresch[1]:S. 8 f. als auch Walter Mühlhausen[2]:S. 122 beschreiben die Besatzungszeit als eine Abfolge unterschiedlicher Phasen.
Die Gründe für diese Entwicklung in der letzten Phase der Besatzungszeit sind nicht eindeutig zu identifizieren. Nicolas Beaupré bringt den französischen Rückzug aus Teilen der besetzten Gebiete mit den finanziellen und wirtschaftlichen Problemen Frankreichs im Jahr 1924 in Verbindung, die sich auf die französische Innenpolitik auswirkten und zum Sieg linker Parteien bei den Wahlen Ende des Frühjahrs 1924 führten.
– Nicolas Beaupré: Das Trauma des großen Krieges, S. 69 Diese innerfranzösische Entwicklung hatte den Weg für die Verabschiedung des Dawes-Plans geebnet, der die Pläne Frankreichs zur Abtrennung des Rheinlandes von Deutschland begraben und gleichzeitig die Grundlage für die Anbahnung einer erneuten Annäherung zwischen Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten gelegt hatte, obwohl die Franzosen selbst auf der Londoner Konferenz (1924) „de facto gegenüber den Briten, Amerikanern und Deutschen isoliert“ gewesen waren.[35]:S. 70 f.
– Nicolas Beaupré: Das Trauma des großen Krieges, S. 71 Beauprés Analyse kann erklären, warum Frankreich dem Teilrückzug aus dem Mainzer Brückenkopf zustimmte, der nur die Stadt Wiesbaden und Gemeinden im Regierungsbezirk Wiesbaden betraf,[38] aber sie lässt offen, warum die Briten nach ihrem Rückzug aus Köln die Franzosen im südlichen Brückenkopf ablösen wollten. Jedenfalls wurde Wiesbaden im Zuge dieser Entwicklung Ende 1925 zum Hauptquartier der Britischen Rheinarmee und blieb es bis November 1929. Zu dem Zeitpunkt verlegte die Interalliierte Rheinlandkommission (IRKO) ihr Hauptquartier von Koblenz nach Wiesbaden, und die britischen Truppen zogen ab.[39] Der Besatzungsverlauf in WiesbadenBereits ab Januar 1925 gab es in Wiesbaden eine lebhafte Debatte darüber, ob die Briten kommen oder die Franzosen bleiben sollten. Wie die Akten des Regierungspräsidiums zeigen, war die Presse in diesem Zusammenhang oft besser informiert als die staatlichen Akteure, und letztere sahen sich immer wieder veranlasst, Journalisten privat oder offiziell über den Fortgang des Entscheidungsprozesses zu befragen.[40] Ursprünglich ging es darum, nach dem Abzug aus Köln einen neuen Standort für das britische Hauptquartier zu finden. Es gab mehrere Optionen, darunter Koblenz, und in Bezug auf Wiesbaden war lange Zeit unklar, ob die Briten eine auf das Stadtgebiet beschränkte „Insellösung“ anstrebten oder weitergehende Pläne hatten. Mitte 1925 ging die Stadt Wiesbaden davon aus, dass die Franzosen offiziell wohl abziehen würden, befürchtete aber, dass die Stadt Sitz der IRKO werden könnte. Die Angst ging um, dass unter deren Präsidenten, dem Franzosen Paul Tirad, Wiesbaden weiterhin eine französisch beherrschte Stadt bleiben könnte, was wegen der Erinnerungen potentieller Gäste an den von Frankreich begonnenen Ruhrkampf negative Auswirkungen auf den Kurbetrieb hätte. In einem Schreiben des Magistrats vom 27. Juli 1925 an den „Herrn Reichsminister“ in Berlin heißt es deshalb:
– Magistrat der Stadt Wiesbaden: Verlegung des englischen Hauptquartiers nach Wiesbaden oder Verlegung der Interalliierten Rheinlandkommission von Coblenz nach Wiesbaden, Schreiben vom 27. Juli 1925[40]:Blatt 35 ff. Nachdem in den Folgemonaten die Spekulationen über die geplanten Umgruppierungen weitergingen, konnte die Rheinische Volkszeitung am 3. November 1925 erstmals eine Nachricht bringen, die der späteren Lösung sehr nahe kam und die Verlegung des IRKO-Hauptquartiers nicht mehr thematisierte. Die Einigung unter den Alliierten – voran der zwischen Franzosen und Briten – wurde in Zusammenhang gebracht mit der für den 1. Dezember 1925 beabsichtigten Unterzeichnung der Verträge von Locarno.[40]:Blatt 56 Zur Gewissheit wurde das dann in einer Meldung der Frankfurter Zeitung vom 24. November 1925, in der das Eintreffen eines ersten britischen Bataillons für den 10. Dezember 1925 angekündigt wurde – verbunden mit der Hoffnung „auf die Belebung des Kur- und Wirtschaftslebens der Stadt“.[40]:Blatt 59 Am 4. Dezember 1925 konnte die gleiche Zeitung dann vermelden, dass „die ersten englischen Truppen […] nun in geringer Zahl hier, gewissermaßen als Quartiermacher, eingetroffen“ waren.[40]:Blatt 60 Weitere Berichte gehen dann davon aus, dass sich der Abzug der Briten aus Köln und deren Übersiedelung in den Brückenkopf Mainz noch bis Ende Januar 1926 erstrecken wird. Mit dem endgültigen Abzug der Franzosen wird bis zum 3. Januar 1926 gerechnet. Am 29. Januar 1926 stattete der Oberkommandierende der französischen Rheinarmee, Adolphe Guillaumat, laut der Rheinischen Volkszeitung dem Höchstkommandierenden der Britischen Rheinarmee, Sir John Du Cane, in Wiesbaden einen Abschiedsbesuch ab; einen Tag später, am 30. Januar, wurde am britischen Hauptquartier in Köln die britische Flagge eingeholt und damit offiziell das Ende der englischen Besetzung des Brückenkopfs Köln besiegelt.[40]:Blatt 85 Den umgekehrten Akt in Wiesbaden kommentierte am 2. Februar 1926 in der Frankfurter Post[41] ein in Anlehnung an den Deutschen Michel mit Michel unterzeichnender Kommentator.
– Frankfurter Post, 2. Februar 1926[40]:Blatt 86 Mit dem Wechsel von der französischen zur britischen Besatzung und der Verhinderung der IRKO-Ansiedelung in Wiesbaden hatten sich im Prinzip die Wünsche des Wiesbadener Magistrats trotz der zuvor zitierten rechtskonservativen Schmähungen erfüllt. Drei Jahre lang blieb dieser Zustand erhalten, bevor 1929 die Haager Konferenzen für eine neue Situation sorgten. In deren Folge wurde im August 1929 die Räumung der Besatzungszone um Koblenz zum 30. November 1929 festgelegt, womit auch der Wegzug der IRKO zu erfolgen hatte. Zugleich wurde in Den Haag auch beschlossen, dass zum 30. Juni 1930 die endgültige Räumung des gesamten Rheinlandes zu erfolgen habe.[42] Von den Haager Beschlüssen war Wiesbaden in zweifacher Weise betroffen. Zum einen begannen die Briten am 14. September 1929 mit ihrem Abzug aus Wiesbaden und zogen sich bis zum Jahresende zusammen mit den Belgiern komplett aus dem Rheinland zurück.[43], zum anderen wurde Wiesbaden nun doch noch Sitz der IRKO, wenn auch nur für sieben Monate. Diese nahm am 20. November 1929 in einem Hotel ihre Tätigkeit auf[42], und in ihrem Gefolge kamen erneut französische Truppen nach Wiesbaden – als Ehrenwache für die IRKO.[43]
– Marius Munz: Rheinlandbesetzung[43] Verwaltungsstrukturen und Alltag unter der BesatzungWie eingangs schon zitiert, war durch das Waffenstillstandsabkommen festgelegt worden, dass die Gebiete auf dem linken Rheinufer durch die örtlichen Behörden unter Aufsicht der Besatzungstruppen der Alliierten und der Vereinigten Staaten verwaltet werden. Nach dem Versailler Vertrag war es dann die IRKO, die Interalliierte Rheinlandkommission, der „die deutsche Verwaltung im besetzten Gebiet unterstellt [war]. Ihre Kontrolle nahm sie in Form eines Systems von Bezirks- und Kreisdelegierten wahr, die den jeweiligen deutschen Verwaltungsstellen vor Ort an die Seite gestellt wurden.“[44] Auch wenn Schlemmers anschließende Ausführungen nur dem linksrheinischen Besatzungsgebiet gelten, betrafen die von ihm beschriebenen Sachverhalte auch die rechtsrheinischen Brückenköpfe.
– Martin Schlemmer: Die Rheinlandbesetzung (1918–1930) Die IRKO regierte mit Hilfe von Verordnungen. Diese „hatten die Kraft von Gesetzen, mußten auch von der deutschen Regierung anerkannt werden; auch mußten die deutschen Beamten den Verordnungen der Militärbehörden Folge leisten. Dagegen unterlag die Anwendung der deutschen Gesetze der Genehmigung der Rheinlandkommission, die Militärgerichte konnten sich alle Akten von den deutschen Gerichten ausliefern lassen.“[45]:S. 19 Auf der rechtsrheinischen Seite ergaben sich zusätzliche Schwierigkeiten dadurch, dass der 30-KM-Radius keine Rücksicht nahm auf bestehende „Verwaltungsgrenzen, politische Verhältnisse oder das vorhandene Verkehrssystem“.[46]:S. 110 Bei Maresch und in vielen zeitgenössischen Schilderungen finden sich Hinweise darauf, dass insbesondere zu Beginn der Besatzungszeit, der oben erwähnten Phase 1 (Dezember 1918–Juni 1919), die Franzosen sehr rigide in das Alltagsleben der Menschen eingriffen und auch in die tradierten Verwaltungsstrukturen. So wurden zum Beispiel um die Jahreswende 1918/19 die Gemeinden Langen, Egelsbach und Buchschlag, die alle im besetzten Gebiet lagen, von dem in Teilen unbesetzten Kreis Offenbach abgetrennt und dem Kreisamt im besetzten Groß-Gerau angegliedert.[47]:S. 94 Ähnliches geschah im Hochtaunuskreis, der zur Hälfte Besatzungsgebiet war. Der Landrat und die Kreisverwaltung residierten im unbesetzten Bad Homburg, die französische Standortkommandantur aber in Königstein. Der dortige Standortkommandant verlangte, dass der verantwortliche Kreisverwalter jederzeit zur Verfügung der Besatzungsbehörden stehen müsse, was wiederum vom Landrat abgelehnt wurde, der sich weigerte, in das besetzte Gebiet zu reisen. In Absprache mit dem Regierungspräsidium Wiesbaden wurde deshalb am 30. Dezember 1918 der Hilfskreis Königstein mit dem zum Landrat ernannten Königsteiner Bürgermeister gebildet, der erst 1928 wieder aufgelöst wurde. Ihm gehörten 22 Gemeinden des Obertaunuskreises und 6 Gemeinden des Kreises Usingen an.[46]:S. 110 f. Ein ähnliches Konstrukt wurde für den Freistaat Flaschenhals gewählt, dessen Gemeinden zwar alle im Regierungsbezirk Wiesbaden lagen, bis Dezember 1918 aber zu unterschiedlichen Landkreisen gehört hatten.[10]:S. 22
Aufgrund der Grenzziehungen für die Brückenköpfe Koblenz und Mainz verfügten diese unbesetzten Gemeinden über keinen direkten Zugang mehr zu den übergeordneten Behörden, da alle Verbindungswege durch besetzte Gebiete führten. Die Zuständigkeit für den Flaschenhals wurde von deutscher Seite zunächst dem Regierungspräsidium Wiesbaden entzogen und einer Verwaltungsabteilung beim ebenfalls preußischen Oberpräsidium in Kassel übertragen. Deren kommissarische Führung oblag dann dem Landrat des Landkreises Limburg und galt bis zum 29. Juni 1920 für alle „von ihren Kreishauptstädten abgeschnittenen Gemeinden der Kreise Unterlahn, St. Goarshausen, Rheingau und Untertaunuskreis“.[10]:S. 19–22 Die Grenzziehungen betrafen nicht nur die Verwaltungsstrukturen, sondern auch den Alltag der Menschen beiderseits der Grenze.
Anfangs war zum Beispiel den im Hilfskreis Königstein lebenden Arbeitern der Weg zu ihren Arbeitsstätten in Oberursel oder Frankfurt ebenso versperrt wie den Arbeitern im besetzten Westkreis Offenbach der Weg nach Offenbach oder Darmstadt. Für den Übertritt vom besetzten in das unbesetzte Gebiet benötigten sie einen Passierschein beziehungsweise einen von den Besatzern ausgestellten neuen Pass, die rote Carte d’Identité, die seit dem 6. März 1919 jede Person, die über 12 Jahre alt war, mit sich führen musste.[45]:S. 13 Die mit dieser Situation verbundenen Strapazen bei der Bewältigung des Alltags beschrieb der Langener Karl Freitag.
– Karl Freitag: zitiert nach Heidi Fogel: Eine Stadt zwischen Demokratie und Diktatur : Dokumentation zur Geschichte Langens von 1918–1945, Magistrat der Stadt Langen, 1983, S. 15 Eine weitere Folge der Grenzziehung und deren strenger Kontrolle waren Versorgungsengpässe – beiderseits der Grenze. Wie Schäfer am Beispiel Langens beschrieb, versuchten die Franzosen die Not innerhalb des Besatzungsgebietes dadurch zu lindern, dass sie Waren aus dem Westen heranschafften. Für Schäfer war dies vorrangig ein Akt des Werbens der Franzosen um die Gunst der Deutschen.[45]:S. 12 Diese begrenzte Besserstellung der Bewohner innerhalb des Besatzungsgebietes eröffnete denen aber auch neue Erwerbsquellen:
– J. W. Schäfer: Aus schwerer Zeit. Erinnerungen aus dem Grenzgebiet des Mainzer Brückenkopfes, S. 18 Schmuggel gehörte auch zur Überlebensstrategie im Freistaat Flaschenhals. Dessen Versorgung über den Rhein oder die am Rhein entlang verlaufende Eisenbahnlinie gestatteten die Franzosen nicht, und die Versorgung aus der nächstgrößeren Stadt Limburg war schon deshalb beschwerlich bis unmöglich, weil es dorthin keine durchgehende Landverbindung gab, die nicht durch einen der beiden Brückenköpfe führte. Diese zu passieren, erforderte Erlaubnisscheine, „die teilweise nur sehr schwer zu besorgen waren“.[10]:S. 26 Allerdings begünstigte die Lage des Flaschenhalses auch, dass dort Schmuggel nicht nur zur Deckung des Eigenbedarfs, sondern regelrecht als Gewerbe betrieben wurde.[10]:S. 29 Separatistische Bestrebungen IWährend die Verhandlungen über den Versailler Vertrag liefen, gab es mancherorts schon Veränderungen, die auf einen Übergang in die Phase 2 (1919–1924) der Besatzungszeit deuteten. Karl Pusch ging gar soweit, dass er für Langen das Ende der Besatzung auf den September 1919 datierte. Zu dem Zeitpunkt wurden die lokalen Truppen abgezogen und nur noch 16 französische Soldaten, 3 Gendarmen sowie 1 Zollbeamter blieben „noch bis September 1924 als Grenzschutz und Zollkontrolle“ zurück.[47]:S. 96 Vergleichbar war auch die Situation in Griesheim, wo „außer einer kleinen Wache auf dem Griesheimer Bahnhof alle anderen Besatzungstruppen abgezogen wurden [21.2.1920]“[32], und ähnlich wie Pusch beschrieb auch Schäfer die Situation in Langen, stellte aber fest: „Mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden am 10. Januar 1920, der Inkraftsetzung des Friedens, nahmen die Leiden der Bevölkerung im besetzten Gebiet nicht das ersehnte Ende.“[45]:S. 18, S. 19 Vielmehr waren gerade der angrenzende Restkreis Offenbach und die Stadt Darmstadt in der Folge des Maineinbruchs im April einer Besatzungsausweitung durch die französischen Truppen unterworfen.
– J. W. Schäfer: Aus schwerer Zeit. Erinnerungen aus dem Grenzgebiet des Mainzer Brückenkopfes, S. 19 Direkte Auswirkungen auf den Alltag der Bevölkerung in Darmstadt und den anderen Gebieten sind nicht überliefert, und die Franzosen zogen sich am 17. Mai 1920 – nicht zuletzt auch auf Druck ihrer britischen und amerikanischen Verbündeten[10]:S. 38 – wieder aus dem Einbruchsgebiet zurück. Wenig friedlich war das französische Intermezzo allerdings in Frankfurt verlaufen.[50]
– Ralph Zade: Frankfurt 1920 – Unter französischer Besetzung[51] Wie real die Bedrohung der französischen Kolonialsoldaten in der Stadt war, ist nicht dokumentiert, aber Zade macht deutlich, dass im Vorfeld dieses Zwischenfalls bereits Gerüchte kursierten, in denen falsche Behauptungen erhoben wurden, zum Beispiel die, dass Soldaten aus dem Senegal im Goethe-Haus einquartiert worden seien. In rassistischer Überheblichkeit verwies Hans Drüner zudem noch mehr als 10 Jahre später auf die „Mißstimmung“, die in der Stadt wegen des französischen Einmarsches bereits geherrscht und sich noch gesteigert habe „durch den Anblick der zahlreichen braunen und schwarzen Truppen, deren Verwendung in der hochkultivierten Stadt als besonders widerwärtig und demütigend empfunden wurde“.[23]:S. 403 Diese Gerüchte und Stimmungen verdichteten die Geschehnisse an der Hauptwache zu einer „Hinmordung wehrloser Frauen und Kinder durch schwarze Truppen“ und gipfelten in einer ausgedehnten Medienkampagne gegen den Einsatz nichtweißer Besatzungstruppen im Rheinland.[52] Ganz im Sinne dieser Ideologie schrieb Heinz Gorrenz, Chefredakteur der Frankfurter Nachrichten, noch 1930, nur wenige Tage nach dem Abzug der Besatzungstruppen, von „der Kulturschande einer Sklavenzeit […], in der das Mutterland der deutschen Kultur zu einer Negerkolonie degradiert werden sollte“.[53] Der Maineinbruch war einer der vielen Ansatzpunkte, durch die die französische Besatzungsmacht – oft im Widerspruch zu ihren Alliierten – versuchte, ihren Machtanspruch zu erweitern. Ein anderer war die Unterstützung separatistischer Bestrebungen im gesamten Rheinland, wodurch sie „schon im Sommer 1919 und ein zweites Mal im Herbst 1923 versuchte[…], die französisch besetzten Länder am Rhein zu einer von Preußen oder sogar vom Deutschen Reich unabhängigen ‚Rheinischen Republik‘ zu formieren“.[28] Der Brückenkopf Mainz avancierte 1919 zu einem Zentrum dieser Bestrebungen, soweit erkennbar aber nur in seinem preußischen Teil, dem Regierungsbezirk Wiesbaden. Protagonist dieser Bewegung war Hans Adam Dorten, der am 1. Juni 1919 in Wiesbaden eine selbständige Rheinische Republik ausrief. Dem folgte am 2. Juni 1919 ein Generalstreik gegen die separatistischen Bestrebungen[54] und am 4. Juni 1919 ein gescheiterter Versuch der Separatisten, das Regierungspräsidium unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Franzosen versagten aufgrund des starken Widerstandes aus der Bevölkerung ihre weitere Unterstützung, und ebenfalls am 4. Juni musste General Charles Mangin, einer der Hauptunterstützer der separatistischen Bestrebungen, auf Druck der Briten und US-Amerikaner „seine Unterstützung für Dorten aufgeben und gegenüber einer angloamerikanischen Kommission, die am selben Tag in Mainz einen Putschversuch in der Pfalz untersuchte, seine Neutralität erklären“.[55] Separatistische Bestrebungen IIDie separatistischen Bestrebungen gingen auch nach diesem Misserfolg weiter, aber einen neuen Höhepunkt erreichten sie erst im Zuge der Ruhrbesetzung ab 1923. Davor lagen noch die Inflationsjahre, die auch für die Bevölkerung im Brückenkopf Mainz mit Versorgungsengpässen, steigenden Preisen sowie steigender Arbeitslosigkeit einhergingen und als Folge davon auch mit Ausschreitungen und Verhaftungen.[56] In diese schwierige Zeit platzte dann die Ruhrbesetzung, die mit einer erneuten Verschärfung im besetzten Gebiet des Brückenkopfes und – wie oben schon beschrieben – zu Grenzverschiebungen und neuen Besetzungen führte.
– Heinz Knoth: Jahre der Bedrängnis: Höchst, S. 25 f. Der von Knoth erwähnte „Konfliktfall für zahllose Beamte“ trat auf den unterschiedlichsten Verwaltungsebenen ein, wie die oben erwähnte Aufzählung der ausgewiesenen Mandatsträger zeugt. Zu den dort genannten gehört auch Bruno Asch, der Bürgermeister in Höchst war. Was Knoth am Beispiel von Höchst zeigt, verdeutlicht die teils absurden Züge der französischen Besatzungspolitik.
– Heinz Knoth: Jahre der Bedrängnis: Höchst, S. 26 Der im Zitat erwähnte Bruno Asch lebte nach seiner Ausweisung in Frankfurt-Bockenheim und versuchte von dort aus so gut wie möglich seine Höchster Dienstgeschäfte auszuüben.[17]:S. 181 Nachdem die IRKO seine Ausweisung „im Gnadenwege“ zurückgenommen hatte, konnte Asch im Mai 1924 wieder nach Höchst zurückkehren. „Er ist einer der ersten leitenden Verwaltungsbeamten des besetzten Gebietes, der die Erlaubnis zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit erhält.“[17]:S. 186 Wegen der großen Wohnungsnot in Höchst, verursacht auch durch die vielen für Franzosen beschlagnahmten Wohnungen, musste er aber weiterhin in Frankfurt wohnen bleiben.[58] Nicht überall beteiligten sich die Verwaltungsbeamten am passiven Widerstand gegen die Besatzer.
– Peter Maresch: Der Hilfskreis Königstein und die Rheinlandbesetzung im Hochtaunus, S. 115 Die von Maresch erwähnten Eisenbahner waren neben den Angehörigen der Verwaltung wichtige Stützen des passiven Widerstands gegen die Besatzer und hatten deshalb auch unter den Repressalien der Besatzungsmacht besonders zu leiden. Walter Kuhl, der die Eisenbahnsituation vornehmlich aus der südhessischen Perspektive betrachtet, schreibt, dass am 30. Januar 1923 im Gebiet des Brückenkopfs der Eisenbahnverkehr von und nach dem unbesetzten Gebiet vollständig eingestellt worden und seit dem 2. Februar 2023 auch der Fuhrwerks- und Automobilverkehr aus dem Ried nach Darmstadt unterbrochen war.[59] In Betrieb war nur noch die Strecke von Frankfurt nach Darmstadt, die aber von der Bevölkerung nur unter erschwerten Bedingungen genutzt werden konnte (siehe: Der Bahnhof Neu-Isenburger in der Zwischenkriegszeit). Züge, die von Mannheim kamen, endeten im Grenzort Gernsheim, aber auch der Verkehr auf dieser Strecke wurde Ende Januar 1923 bis Mitte März 1924 nur eingeschränkt bedient.[59] Im Nordwesten, wo die Franzosen inzwischen, wie oben erwähnt, den Flaschenhals besetzt hatten, bestand nun die Möglichkeit einer durchgehenden Zugverbindung zwischen den beiden Brückenköpfen. Doch dafür benötigten die Franzosen geschultes Reichsbahnpersonal. Die Eisenbahner aber schlossen sich dem Generalstreik an, verschlossen die Bahnschranken und ließen die Schlüssel ebenso verschwinden wie die Personalakten. Insbesondere die Kauber Eisenbahner „zeigten sich zumeist ebenso stur und kooperationsunwillig wie ihre Kollegen in den kommunalen Verwaltungen. Deshalb traf sie auch vielfach das gleiche Schicksal. Sie wurden ausgewiesen und ihre Dienstposten von französischem Eisenbahnpersonal übernommen.“ Zurückkehren und ihren Dienst wieder aufnehmen durften sie erst im September 1924.[10]:S. 55 f. In der Zwischenzeit betrieben die Franzosen unter der Bezeichnung „Regie-Eisenbahn“ eine „Notbahn“. Eine solche Regie-Bahn war auch die Notlösung am südlichen Ende des Brückenkopfes, wo sich die Franzosen in ähnlicher Weise sich ihren Anweisungen widersetzenden Eisenbahnern gegenübersahen und diese in der Folge ins unbesetzte Gebiet auswiesen.[59] Nach Kuhl zeichnete sich ab Ende Oktober 2023 eine Entspannung im Eisenbahnverkehr ab. Der erfolgte zwar weiterhin unter der Kontrolle der französischen Regie-Bahn, doch waren die Franzosen auch bereit, unterhalb der Leitungsebene entlassene Eisenbahner wieder einzustellen. Nach einem am 1. Dezember 2023 getroffenen Abkommen zwischen der Regie-Bahn und der deutschen Eisenbahnverwaltung normalisierte sich der Zugverkehr auch im Brückenkopf und auf den Verbindungslinien heraus und hinein wieder etwas.
– Walter Kuhl: Die Regiebahn 1923 und 1924 Die Situation im Brückenkopf und an seinen Rändern normalisiert sich im Herbst 1924. Verkehrsbeschränkungen bei der Einreise in das französisch besetzte Gebiet werden aufgehoben, die Zollgrenze fällt weg und die als Folge der Ruhrbesetzung besetzten Gebiete am westlichen Rand von Darmstadt, in Eschollbrücken, Hahn bei Pfungstadt und Gernsheim werden in der Nacht vom 16. auf den 17. November 1924 von den Franzosen geräumt.
– Elisabeth Langgässer: Grenze: Besetztes Gebiet, S. 123 Die in der Folge der Ruhrbesetzung erschwerten Lebensbedingungen für die Menschen in den alt-besetzten (Brückenkopf Mainz) und in den neu-besetzten Gebieten (neben den zuvor genannten Orten am Rande Darmstadts auch die Gemeinden im Flaschenhals) und die zeitgleich galoppierende Hyperinflation wurde von den 1920 gescheiterten Separatisten erneut für die Propagierung einer Rheinischen Republik genutzt, abermals mit Unterstützung der Besatzungsmächte Belgien und Frankreich.[60]:S. 170 IRKO-Präsident Tirard erkannte am 26. Oktober 1923 das von dem schon erwähnten Hans Adam Dorten und Josef Friedrich Matthes gebildete „Regierungskabinett“ als legitime Regierung der Rheinischen Republik an und gestand ihnen weitgehende Vollmachten zu.
– Marius Munz: „Wiesbaden est boche, et le restera.“ S. 170. Bei dem erwähnten Rheinlandschutz handelte es sich um eine Ende August 1923 von den Separatisten gegründete „paramilitärische Schutztruppe. Der Rheinlandschutz rekrutierte seine Mitglieder aus jungen Männern, die zuvor als Streikbrecher im Ruhrkampf oder als Saalwachen bei separatistischen Veranstaltungen tätig gewesen waren.“ (ebd., S. 169) Die separatistischen Aktivitäten waren diesmal breiter gestreut als 1920, aber nach Munz hatten die Separatisten in Nassau „zwar Mitglieder und Aktivisten, jedoch war der Zuspruch durch die Bevölkerung sehr gering“.[60]:S. 171 Zibell und Bahles bestätigen dies für den Flaschenhals, wo die Separatisten zwischen November und Dezember 1923 mit Unterstützung bewaffneter französischer Soldaten die Rathäuser sämtlicher Gemeinden erstürmten und fortan die Macht ausübten.[10]:S. 64 Unterstützung seitens der Bevölkerung sei ihnen aber nicht zuteilgeworden, und „im Januar 1924 fand der Separatisten-Spuk im ‚Flaschenhals‘ sein definitives Ende“.[10]:S. 66 In Königstein drangen am Abend des 1. November 1923 etwa 300 schwer bewaffnete Separatisten in die Stadt ein. Sie besetzten das Rathaus und das Landratsamt des Hilfskreises, konnten sich aber nur sehr kurz halten. Sie sollen vor allem am Widerstand aus der Arbeiterschaft gescheitert sein und zogen bereits nach einem Tag in Richtung Idstein weiter.[46]:S. 117 f. In Idstein war es zunächst ein mit einer Deutschen verheirateter Franzose, der Ende Oktober 1923 die Rheinische Republik ausrufen wollte, dafür aber eine Tracht Prügel von Idsteiner Jugendlichen bezog.[61] Am 2. November 1923 besetzte dann ein Separatistenkommando in Begleitung eines französischen Kommandos das Idsteiner Rathaus. Ihr Interesse galt auch der Druckerei der Idsteiner Zeitung, da dort das Notgeld für den Untertaunuskreis gedruckt wurde, das sie in ihren Besitz bringen wollten. Dieses Anliegen war offenbar so wichtig, dass sich am 3. November auch Dorten persönlich zu einem Besuch in Idstein einfand. Das gedruckte Geld erhielten sie nicht ausgehändigt, und es kam auch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Idsteiner Bürgern und den Separatisten, über deren endgültigen Abzug ist aber nichts bekannt.[61] Weiter südlich, in Langen, wo die Franzosen am 29. Juni 1923 den Bahnhof besetzten und die Eisenbahnverbindung zwischen Frankfurt und Heidelberg unterbrachen, wurden auch die Straßenverbindungen in die Nachbarorte unterbrochen und stark gesicherte Grenzposten eingerichtet. Den Separatisten verschaffte dies aber keinen Raum.
– Alfred Kurt: Stadt und Kreis Offenbach in der Geschichte, S. 184 f Dem Langen benachbarten Egelsbach wollten im Oktober 1923 etwa 150 Separatisten, die per Auto aus Rüsselsheim und Groß-Gerau gekommen waren, einen Besuch abstatten. Die Bevölkerung hielt sich zu deren Abwehr bereit, und die Feuerwehr hatte ihre Spritzen in Stellung gebracht. Da die Separatisten davon offenbar Kenntnis erhalten hatten, wandten sie sich statt der Gemeinde Egelsbach dem außerhalb gelegenen Gutshof Bayerseich zu. „Hier sollen sie die Räume durchsucht, Verköstigung erzwungen und Jagdwaffen, Ferngläser u.ä. mitgenommen haben.“[62] Ob es die gleiche Separatistengruppe war, die auch Langen besucht hatte, ist nicht überliefert, aber naheliegend. Einer ihrer wenigen Anhänger in Egelsbach, ein Drogeriebesitzer, verließ die Gemeinde erst Anfang Juli 1930 nach dem Ende der Besatzungszeit. Er wurde von einigen Einwohnern mit Prügeln verabschiedet, da er als Denunziant und Schreiber von Drohbriefen, unter anderem auch an die Adresse der Lokalzeitung, bekannt gewesen sei.[62] Innerhalb der Separatistenbewegung kam es zu Auseinandersetzungen und Abspaltungen, wodurch auch Ende November die Zusammenarbeit zwischen Dorten und Matthes zum Erliegen kam. Dorten selbst hatte bereits am 18. November 2023 seine Aktivitäten nach Bad Ems verlagert und dort die alleinige Exekutivgewalt über die Rheinische Republik übernommen. Ende November wurde dieser die Pfalz eingegliedert.[60]:S. 172 Einen Monat später war aber auch dieses Kapitel Geschichte.
– Marius Munz: „Wiesbaden est boche, et le restera.“ S. 173 In Wiesbaden, Dortens früherer separatistischer Wirkungsstätte, gab es „bis in den Juni 1923 […] keine bedeutsamen Aktionen durch Separatisten“ mehr.[60]:S. 174 Nun gründeten sich erneut separatistische Vereinigungen und entsprechende Propagandaaktionen wurden gestartet. Am 23. September 1923 fand im Kurhaus eine Großveranstaltung mit über 3.500 Teilnehmern statt, an der zu dem Zeitpunkt Matthes und Dorten noch gemeinsam teilnahmen. „Die Teilnehmer kamen zumeist von außerhalb, aus Rheinhessen, Nassau und der Rheinprovinz und waren mit Zügen nach Wiesbaden gebracht worden.“[60]:S. 176 Am 22. und 23. Oktober 1923 besetzten Separatisten zuerst das Rathaus und danach weitere öffentliche Gebäude „wie das Regierungspräsidium, das Landratsamt, das Landeshaus und den städtischen Fuhrpark“.[60]:S. 177 Die Polizei weigerte sich, sich dem separatistischen Stadtdelegierten zu unterstellen, und wurde daraufhin entwaffnet. Der französische General Jean Jules Henri Mordacq (* 12. Januar 1868 in Clermont-Ferrand; † im April 1943)[63] übernahm die Polizeigewalt und übertrug sie der französischen Gendarmerie und dem Militär.[60]:S. 178 Die Gewerkschaften und die Arbeiterparteien stellten sich dem mit einem Generalstreik entgegen, der auch von den politischen Parteien unterstützt wurde. Versuche, die von den Separatisten besetzten Gebäude zurückzuerobern, schlugen allerdings fehl, und es kam zu einer Art Waffenstillstand in der Stadt. Am 29. Oktober wurde die Übernahme der Zivilgewalt durch die Regierung der Rheinischen Republik in Koblenz verkündet, was aber keine weiteren Auswirkungen hatte. Die Stadtverordnetenversammlung stellte am 2. November 1923 fest, dass der Dienstbetrieb der Behörden nicht beeinträchtigt sei, obwohl zu dem Zeitpunkt die Verwaltungsgebäude noch in der Hand der Separatisten waren, geschützt durch General Mordacq und ein von diesem nach Wiesbaden verlegtes Spahi-Regiment.[60]:S. 178–180 Auch im Umfeld von Wiesbaden, in den heutigen Vororten Schierstein, Dotzheim, Biebrich und Bierstadt kam es zu Versuchen der Separatisten, die Rathäuser zu übernehmen. Sie scheiterten aber meist am Widerstand aus der Bevölkerung. In Biebrich kam es allerdings am 30. November 1923 „zu einem gewaltsamen Zusammenstoß, als eine größere Gruppe versuchte das Rathaus zu stürmen. Die Polizisten, die das Rathaus bewachten, schossen schließlich in die Menge und vertrieben die Separatisten. Dabei starben neun Menschen, drei weitere wurden verletzt.“[60]:S. 181 Im Januar 1924 endete im Brückenkopf Mainz der zweite Versuch zur Etablierung einer Rheinischen Republik. Die Gründe, die Munz für das Scheitern der Separatisten in Wiesbaden anführt, hatten, wie die zuvor schon geschilderten Beispiele aus anderen Orten zeigen, über Wiesbaden hinaus Gültigkeit.
– Marius Munz: „Wiesbaden est boche, et le restera.“ S. 182 Das Ende des Brückenkopfs MainzDas Scheitern der separatistischen Bestrebungen im Januar 1924 und das nur wenige Monate danach eintretende Ende der Ruhrbesetzung markieren den Übergang zur Phase 3 der Besatzungszeit im Brückenkopf. Begünstigt wurde das durch eine Beruhigung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse außerhalb des Besatzungsgebiets. Die Einführung der Rentenmark führte zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung, und außenpolitische Verträge wie das schon erwähnte MICUM-Abkommen begünstigten das zusätzlich. Das wirkte sich auch auf das Besatzungsgebiet aus, wenngleich der Einfluss der Besatzungsmacht spürbar blieb.
– Alfred Kurt: Stadt und Kreis Offenbach in der Geschichte, S. 185 Dieser schleichende Übergang zur Normalität, wie er hier am Beispiel von Langen beschrieben wurde, vollzog sich ähnlich überall im Brückenkopf, wenngleich es im Regierungsbezirk Wiesbaden auch noch einen Wechsel von der französischen zur englischen Besatzungsmacht gab, die aber, wie oben schon beschrieben, häufig „positiver als die französische“ Besatzung empfunden und „als kleineres Übel hinter Separatisten und Franzosen“ hingenommen wurde.[46]:S. 118 Eine Sonderrolle spielte wieder einmal der Flaschenhals. Hier hatte die Besatzungszeit bereits mit dem Abzug der Franzosen im November 1924 geendet, was diesem Gebiet schon vor dem 30. Juni 1930 „ein relativ unscheinbares und ungefährdetes Dasein“ ermöglichte.[10]:S. 69 Das Schicksal des Brückenkopfs entwickelte sich parallel zu den Verhandlungen mit den Alliierten, die schließlich zu der um fünf Jahre vorgezogenen und auf den 30. Juni 1930 datierten Räumung der besetzten Gebiete führte. In vielen Orten wurde das mit Befreiungsfeiern gefeiert, und es wurden Gedenksteine errichtet. In Mainz wurde schon am 20. Juli 1930 in Anwesenheit von Reichspräsident Paul von Hindenburg das Befreiungsdenkmal eingeweiht, und in Langen erinnert daran bis heute ein Gedenkstein, der die Grenze zwischen dem besetzten und dem freien Gebiet markiert.[64]
Mit dem Ende der Besatzung erfolgten auch Korrekturen der besatzungsbedingten Gebiets- und Verwaltungsstrukturen. Die von den Franzosen dem Kreis Groß-Gerau angegliederten Gemeinden Buchschlag, Langen und Egelsbach gehörten fortan wieder zum Kreis Offenbach[66], und die Gemeinden im Hilfskreis Königstein waren bereits 1928 den früheren Kreisen wieder angegliedert worden, bevor der Hilfskreis selber zum 1. Oktober 1928 aufgelöst wurde.[46]:S. 119 Wie oben bereits am Beispiel von Egelsbach gezeigt, war der endgültige Abzug der Besatzungstruppen vielerorts, so auch in Wiesbaden, der Zeitpunkt für eine späte Abrechnung mit den Separatisten.[60]:S. 259 Fatima Adler – ein Besatzungskind aus dem BrückenkopfDer oben bereits zitierte Journalist Heinz Gorrenz, der wenige Tage nach der Befreiung des Rheinlandes die Kulturschande beschworen hatte, die dem „Mutterland der deutschen Kultur“ durch die Besatzer widerfahren sei, brachte diese vermeintliche Schandtat ausdrücklich in Verbindung zu Schwarzafrikanern und spielte damit auf die von der französischen Armee eingesetzten „Soldaten aus ihren afrikanischen Kolonien im besetzten Gebiet [an], deren Anwesenheit als nationale Erniedrigung aufgefasst wurde“[60]:S. 192 – als Schwarze Schmach eben. Die Schwarzafrikaner standen in dieser rassistischen Hierarchie auf der untersten Stufe, etwas über ihnen die marokkanischen Hilfstruppen, die schon erwähnten Spahis. Auf diese Unterscheidung legte auch der Wiesbadener Magistrat im August 1921 in einem Leserbrief an die New York Times wert, die über die Anwesenheit marokkanischer Soldaten in Wiesbaden berichtet hatte. In dem Schreiben heißt es,
– Marius Munz: „Wiesbaden est boche, et le restera.“ S. 192 Diese „weißen Franzosen“, deren Anwesenheit in Wiesbaden offensichtlich als weniger herabwürdigend empfunden wurde als die ihrer afrikanischen Hilfstruppen, waren ihrerseits nicht weniger rassistisch als die Deutschen und legten Wert auf Distinktion auch in ihrer Freizeit.
– Heinz Knoth: Jahre der Bedrängnis: Höchst, S. 24 Auf deutscher Seite stand im Zentrum der rassistischen Stereotype „das Bild der ‚weißen Frau‘ als Opfer des ‚schwarzen Mannes‘. […] Obwohl sexuelle Übergriffe durch Kolonialtruppen nur vereinzelt auftraten, wurden sie als Massenphänomen dargestellt.“[60]:S. 193 Nicht so von der in Griesheim wohnenden Elisabeth Langgässer, die bis 1928 einen der größten französischen Stützpunkte im Brückenkopf Mainz aus nächster Nähe kennenlernte. Zur Realität dieses Stützpunktes gehörten die 60 Kneipen und Bordelle in der 8.000 Einwohner zählenden Gemeinde,[30]:S. 106 die nicht ungern hier arbeitenden deutschen Bordellmädchen[67]:S. 8 ff. und die illegalen Abtreibungen[67]:S. 29. Aber zu Letzterem musste es nicht immer kommen, wie Langgässer ausführte.
– Elisabeth Langgässer: Kapitel 13: Franzosenkind, in: Grenze: Besetztes Gebiet, S. 112 Die schöne Anna entschließt sich, das Kind zu behalten, erhält für diesen Entschluss auch die Unterstützung ihrer Großmutter, ahnt aber, dass „das ganze Dorf mit Fingern auf sie deuten und sie verspotten“ wird.[67]:S. 121 In der Geschichte von der schönen Anna vermischen sich persönliche Erfahrungen von Langgässer, die Ende 1928 Griesheim und den Schuldienst verlassen musste, weil sie ein uneheliches Kind erwartete (von einem Deutschen)[30]:S. 102 mit den Realitäten der Besatzungszeit und deren Folgen. Sie missbraucht die Geschichte aber nicht für eine Opferdarstellung und auch nicht für deren zusätzliche Überladung mit einem farbigen Kolonialsoldaten als Täter. Langgässer lässt offen, ob der Vater von Annas Kind ein weißer oder ein farbiger Franzose war; und sie beschreibt Anna nicht als weißes Opfer eines schwarzen Mannes, was auch die Mutter von Fatima Adler nicht war, wie unten noch zu zeigen ist. Munz berichtet sehr wohl von Übergriffen und kriminellen Handlungen durch französische Soldaten in Wiesbaden, hält schwere Vergehen wie Vergewaltigungen aber eher für Ausnahmen, die, wenn sie von Angehörigen der Kolonialtruppen begangen worden waren, jedoch einen besonders starken Widerhall in der Presse gefunden hätten.[60]:S. 194 f. Auch wenn es mit Sicherheit Dunkelziffern gab – die Wiesbadener Statistik über die Zahl der unehelich geborenen Kinder stützt diese Einschätzung.
– Marius Munz: „Wiesbaden est boche, et le restera.“ S. 197 f. So, wie Annas Kind keine Folge eines sexuellen Missbrauchs war, so wenig waren das auch die 1923 in Wiesbaden geborene Fatima Adam (1923–2023) und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder. Sie waren Kinder einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters, eines schwarzen Soldaten. Fatimas Eltern lebten zusammen und hatten sich nach Aussage ihrer Tochter sehr geliebt. Sie wurden getrennt, als ihr Vater aus Deutschland abgezogen wurde.[68] In der Realität hätte der Tochter von Langgässers fiktiver Anna vermutlich das gleiche Schicksal gedroht wie der real-existierenden Fatima und deren Bruder: als Rheinlandbastard ausgegrenzt, verfolgt und medizinisch verstümmelt zu werden. Die beiden Kinder wurden 1937 von der Gestapo bei ihren Großeltern in Wetzlar abgeholt und in ein Frankfurter Krankenhaus gebracht. Dort wurden sie untersucht und analog zu der rassistischen Klassifizierung der Juden als Mischlinge 1. Grades eingestuft. Die Folge für die beiden Kinder: Zwangssterilisation. Fatima Adler überlebte die Zeit des Nationalsozialismus, aber ihr 1949 gestellter Antrag auf Wiedergutmachung (damals noch gestellt unter dem Namen Fatima Simon) wurde im Januar 1951 vom Regierungspräsidium Wiesbaden abgelehnt. Begründung: Obwohl aus rassischen Gründen sterilisiert, sei bei ihr laut dem amtsärztlichen Gutachten durch diesen Eingriff eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht eingetreten.[69] Für den Ablehnungsbescheid verantwortlich war Gustav Leißner. Die 2023 verstorbene Fatima Adam erzählte ihre Geschichte in einem am 1. Februar 2024 vom Saarländischen Rundfunk gesendeten Dokumentarfilm.[70] Dieser ist Teil einer größeren Recherche über „NS-Ärzte: Ihre Verbrechen, ihre Karrieren – Saarländische Mediziner und ihre Unterstützer nach 1945“.[71] LiteraturErzählungen, Autobiographien
Sachliteratur
WeblinksCommons: Brückenkopf Mainz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: British occupation of Königstein im Taunus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: French army in Germany 1918-1930 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einzelnachweise
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