Lowe-Syndrom
Das Lowe-Syndrom, auch okulo-zerebro-renales Syndrom (OCRL) genannt, ist eine seltene, X-chromosomal vererbte Multisystemerkrankung. HäufigkeitDas Lowe-Syndrom ist sehr selten. Für die Allgemeinbevölkerung wird die Prävalenz auf 1 : 500 000 geschätzt. Es sind dabei alle Ethnien betroffen.[1] Bedingt durch den X-chromosomalen Erbgang sind fast ausschließlich Jungen von der Erkrankung betroffen. Es sind äußerst seltene Fälle von X-Autosom-Translokationen beschrieben, bei denen auch Mädchen am Lowe-Syndrom erkranken.[2] Klinisches BildDas Lowe-Syndrom ist eine systemische Erkrankung, die sich auf mehrere Organsysteme auswirkt. Die betroffenen Patienten haben eine geistige Behinderung (mentale Retardierung), Muskelhypotonie, eine angeborene Katarakt (grauer Star) und eine selektive proximale Tubulopathie.[1] KataraktSchon bei der Geburt weisen alle Patienten eine dichte Katarakt auf, die sich in der Gebärmutter entwickelt (in utero). Die Katarakt wird durch eine veränderte Migration des embryonalen Epithels hervorgerufen.[3] Etwa die Hälfte der Patienten hat zudem ein Glaukom (grüner Star), zum Teil mit Buphthalmus (Augenvergrößerung). Das Glaukom manifestiert sich meist im ersten Lebensjahr.[1] Proximale TubulopathieBei der selektiven proximalen Tubulopathie handelt es sich um eine Funktionsstörung im proximalen Tubulus, die der des De-Toni-Fanconi-Syndroms entspricht. Man spricht daher auch von einem sekundären Fanconi-Syndrom. Die proximale Tubulopathie kann von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, verschlechtert sich aber mit zunehmendem Alter immer weiter. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt sind viele Kinder noch ohne Symptome, die aber während der ersten Lebensmonate auftreten und durch Hydrogencarbonat-, Salz- und Wasserverlust gekennzeichnet sind. Diese Mineralverluste führen bei den Kindern zu einer Gedeihstörung. In der zweiten Lebensdekade entwickeln die meisten Patienten ein chronisches Nierenversagen, das zu einer terminalen Niereninsuffizienz führen kann. Letzteres erfordert eine Nierenersatztherapie.[1] Die weiteren Symptome entsprechen dem De-Toni-Fanconi-Syndrom: Proteinurie und renale tubuläre Azidose. Der Phosphatverlust über die Nieren führt zu einer renalen Rachitis, zu einer Osteomalazie und zu Spontanfrakturen. Die erhöhte Calcium-Ausscheidung über den Harn (Hypercalciurie) bewirkt eine Nephrokalzinose und Nierensteine. Des Weiteren führt die Funktionsstörung im proximalen Tubulus zu einer Aminoacidurie und zu einer erhöhten Kalium-Ausscheidung, die eine Hypokaliämie auslöst.[1][4] NervensystemBei der Geburt haben die Kinder eine ernsthafte bis sehr schwere Muskelhypotonie, die zu einer Abwesenheit des tiefen Sehnenreflexes (Muskel-Eigen-Reflex) führen kann. Die Hypotonie kann wiederum zu schweren Problemen der Atemwege im ersten Lebensabschnitt führen. Die motorische Entwicklung ist gestört und die Kinder entwickeln die Fähigkeit des selbstständigen Gehens generell erst nach dem dritten Lebensjahr. Etwa 10 % der Patienten hat eine leichte geistige Behinderung. In vielen Fällen ist sie jedoch mittelschwer bis schwer mit Intelligenzquotienten unterhalb von 50. Der größte Teil der betroffenen (87 %) zeigt autoaggressives und heteroaggressives Verhalten, Reizbarkeit und Wutanfälle. Auch Zwangsstörungen sind häufig.[5] Etwa 50 % der Patienten über 18 Jahren hat epileptische Anfälle. Bis zu 9 % hat Fieberkrämpfe.[1][6][7] GenetikDas Lowe-Syndrom wird durch Mutationen auf dem OCLR1-Gen verursacht. Dieses Gen befindet sich auf dem langen Arm des X-Chromosoms auf Genlocus q25-q26. Das OCLR1-Gen besteht aus 24 Exons und codiert für das Enzym Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat-5-Phosphatase (Inositol-Polyphosphat-5-Phosphatase). Diese Phosphatase gehört zur Familie der 5-Phosphatasen vom Typ II und befindet sich normalerweise im trans-Golgi-Netzwerk.[1] Dort wird sie für den Polymerisationsprozess von Actin benötigt. Es dephosphoryliert dabei insbesondere Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat [PI(4,5)P2] zu Phosphatidylinositol-4-Phosphat [PI(4)P].[8] Mutationen in diesem Gen finden sich auf teilweise beim Dent-Syndrom. Durch den Mangel des Enzyms reichert sich das Substrat Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat in den Zellen der betroffenen Patienten an. DiagnoseAnhand der Symptome kann eine vorläufige Diagnose gestellt werden. Wegen des ausgesprochen seltenen Vorkommens der Erkrankung ist in jedem Fall eine labormedizinische Absicherung der Diagnose angebracht. Bedingt durch die allelische Heterogenität der Mutationen im OCRL1-Gen, kann eine pränatale DNA-Analyse nur bei Familien durchgeführt werden, bei denen die Mutation bereits bekannt ist. Die Messung der Aktivität der Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat-5-Phosphatase in kultivierten Amniozyten ist ein pränatales biochemisches Verfahren, das zur Diagnose des Lowe-Syndroms verwendet werden kann.[9] Differentialdiagnostisch ist unter anderem das Dent-Syndrom abzugrenzen. TherapieDas Lowe-Syndrom ist unheilbar. Die Therapie erfolgt rein symptomatisch und beinhaltet unter anderem Kataraktoperation, Glaukombehandlung, Sprach- und Physiotherapie. Gegen die Verhaltensstörungen können Neuroleptika, Stimulanzien, Benzodiazepine und Antidepressiva (beispielsweise Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) verschrieben werden. Mit Clomipramin, Paroxetin und Risperidon wurden gute Behandlungsergebnisse erzielt.[1] PrognoseFür die meisten Patienten führt die terminale Niereninsuffizienz oder die Hypotonie zu einem frühzeitigen Tod; typischerweise zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr.[1] ErstbeschreibungDas okulo-zerebro-renale Syndrom wurde erstmals 1952 von dem US-amerikanischen Pädiater Charles Upton Lowe und Kollegen als Syndrom mit Azidurie, verminderter Harnstoffproduktion, Hydrophthalmus und mentaler Retardierung beschrieben.[10] Weiterführende Literatur
Einzelnachweise
Weblinks
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