Radikale nennt man die Wurzelzeichen (lateinisch radix „Wurzel“) der chinesischen Schrift, nach denen Schriftzeichen in chinesischen und japanischen Nachschlagewerken gefunden werden können.
Die Radikale sind nach Anzahl und Form der Striche geordnet. Dieses System von wiedererkennbaren Elementarzeichen hat sich bis heute erhalten. Die Zahl der Radikale, die in dem Lexikon Shuowen Jiezi („Erklärung der Schriftzeichen“) aus dem Jahr 121 n. Chr. noch 540 betrug, wurde immer weiter reduziert.
Die Zahl von 214 Radikalen wurde durch das renommierte Kangxi-Wörterbuch aus dem Jahre 1716 festgeschrieben. Einige moderne chinesische Wörterbücher der chinesischen Schrift verwenden statt der traditionellen 214 Radikale eine Liste von 227 Radikalen. Wichtig ist die Abgrenzung zu den 189 Radikalen der vereinfachten chinesischen Schrift, 1956 von der Regierung der Volksrepublik China erlassen und offiziell nur dort verwendet.
Systematik
Die nachfolgende Liste enthält die 214 traditionellen Radikale der chinesischen Schriftzeichen, die auch im Japanischen als Kanji und im Koreanischen als Hanja verwendet werden, und ihre Häufigkeit im 40.193 Zeichen umfassenden Kangxi-Wörterbuch, das heißt, in wie vielen Schriftzeichen die Radikale als Radikal („regierend“) Verwendung finden; neben dieser Funktion als Radikal sind die Zeichen oft auch vielen anderen Schriftzeichen als reguläre Komponente beigestellt.
Auffällig ist das enorme Missverhältnis in der Häufigkeit. Während die drei Radikale mit der größten Anzahl von Zeichenverbindungen, nämlich Gras 艹 (1.902 Schriftzeichen), Wasser 氵 (1.595 Schriftzeichen) und Holz 木 (朩) (1.369 Schriftzeichen) zusammen schon 12,1 Prozent aller Zeichen ausmachen, haben 128 Schriftzeichen am anderen Ende der Häufigkeitstabelle (mit jeweils weniger als 100 Schriftzeichenverbindungen) zusammen gerade 11,8 Prozent. Mit den zehn häufigsten Radikalen lassen sich 30 Prozent aller Schriftzeichen im Wörterbuch finden.
Im Chinesischen wird mit Suffixen die Position eines Radikals im Schriftzeichen angegeben: (字)旁 -(zì)páng (links oder rechts), (字)頭 -(zì)tóu (oben), (字)底 -(zì)dǐ (unten) und (字)框 -(zì)kuāng (Umrundung bzw. Einschließung). Generell gibt es bei diesen Bezeichnungen die Tendenz zur Dreisilbigkeit, weswegen -zì- (字, „Schriftzeichen“) mal eingeschoben, mal weggelassen wird. Ferner gibt es einige eigenständige Bezeichnungen für Elemente, die Sonderformen besitzen, wie z. B. 兩點冰 liǎngdiǎnbīng („zwei-Punkte-Eis“: 冫), 三點水 sāndiǎnshuǐ („drei-Punkte-Wasser“: 氵) oder 四點火 sìdiǎnhuǒ („vier-Punkte-Feuer“: 灬). Daneben existieren noch für jedes Radikal eigene Bezeichnungen, die traditionell im Kangxi Zidian verwendet werden, heute aber im Alltag generell wenig bekannt sind[1] (in der untenstehenden Tabelle unter Pīnyīn vermerkt).
Im Japanischen werden die Bezeichnungen der Radikale gemäß der verwendeten Position im Kanji oft mit den Endungen -hen (偏, links), -tsukuri (旁, rechts), -kanmuri (冠, oben), -ashi (脚, unten), -kamae (構, Umschließung), -tare (垂, links und oben) oder -nyō (繞, links und unten) versehen.
Die Zuordnung der Schriftzeichen in Unicode zu Codepoints erfolgt in einer traditionellen Ordnung. Die Reihe beginnt mit Radikal 1 (Codepoint U+4E00), darauf folgen alle Verbindungen mit dem Radikal aufsteigend nach der Anzahl der Zusatzstriche. Der nächste Abschnitt beginnt mit Radikal 2 (Codepoint U+4E28), darauf wiederum alle Verbindungen nach der Strichanzahl; das wiederholt sich bis zum Radikal 214 (Codepoint U+9FA0).
↑ abcdefghijklmnopqrstInnerhalb eines Radikal-Bereichs sind die
Zeichen nach der Anzahl der Zusatzstriche sortiert, bei den meisten Radikalen unabhängig von der eventuellen Ersetzung des Ursprungsradikals durch eine Kurzzeichen-Variante.
Bei einigen Radikalen hingegen gibt es zwei solcher Reihen, eine mit dem Ursprungsradikal und allen Zusatzstrichen, und daran anschließend eine zweite mit der Radikalvariante und wieder mit allen Zusatzstrichen.
Literatur
Edoardo Fazzioli: Gemalte Wörter. 214 chinesische Schriftzeichen – Vom Bild zum Begriff. Marixverlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-34-7.
Georg von der Gabelentz: Chinesische Grammatik. Mit Ausschluss des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache. 1881 (Reprint: Halle, VEB Max-Niemeyer-Verlag 1960, V. Lexikalische Anordnung der Schriftzeichen, § 155 - § 171)
Wang Hongyuan: Vom Ursprung der chinesischen Schrift. Sinolingua, Beijing 1997, ISBN 7-80052-328-4.
Li Leyi: Entwicklung der chinesischen Schrift am Beispiel von 500 Schriftzeichen. Verlag der Hochschule für Sprache und Kultur, Beijing 1993, ISBN 7-5619-0206-9.