Lili BoulangerLili Boulanger (* 21. August 1893 in Paris als Marie-Juliette Olga Boulanger; † 15. März 1918 in Mézy-sur-Seine (Département Yvelines) bei Paris) war eine französische Komponistin. Sie stammte aus einer traditionsreichen Musikerfamilie. Ihre Mutter Raïssa Myschezkaja (1858–1935) war Sängerin, ihr Vater Ernest (1815–1900) Komponist und ihre ältere Schwester Nadia (1887–1979) Komponistin, Dirigentin und Musikpädagogin. LebenKindheit und JugendDie Boulangers hatten seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Stadt Paris einen guten Ruf als eine exzellente Musikerfamilie. In ihrem offenen Haus hatten die Kinder von klein auf die Gelegenheit, von Schauspielern, Musikern, Dichtern, Schriftstellern und bildenden Künstlern umgeben zu sein. Zu den engen Freunden der Familie gehörten u. a. Charles Gounod, Jules Massenet und Camille Saint-Saëns. Trotz einer chronischen Bronchialpneumonie und Morbus Crohn erhielt Lili Boulanger früh Unterricht in Orgel bei Louis Vierne, Klavier, Violoncello, Violine und Harfe. Sie war keine eingeschriebene Studentin, sondern begleitete ihre Schwester Nadia sporadisch – wenn es ihre Gesundheit erlaubte – ans Conservatoire de Paris. Ungefähr mit sieben Jahren probierte sie das dort Gehörte daheim am Klavier aus und begann dadurch, sich vieles selbst beizubringen. Die musikalischen Gespräche mit ihren Eltern waren ebenso prägend. Am 14. April 1900 starb Ernest Boulanger überraschend im Gespräch mit Nadia – ein Schock für die ganze Familie. Um diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten, komponierte Lili mit elf Jahren das Lied La Lettre de Mort für Sopran Solo, das sich allerdings nicht erhalten hat. Auch weitere Werke aus dieser frühen Phase vernichtete sie später selbstkritisch. Ihr erster öffentlicher Auftritt als Violinistin fand am 5. September 1901 statt. Um diese Zeit besuchte sie auch den Kompositionsunterricht von Gabriel Fauré, traf in diesem Umfeld Charles Koechlin, Florent Schmitt und Maurice Ravel. Mit großem Sprachtalent, das demjenigen ihrer Mutter vergleichbar war, beherrschte sie auch Russisch, Deutsch und Italienisch. Da sie nicht regulär zur Schule gehen konnte, stellte sie sich selbst ein Literaturprogramm zusammen. Im weiteren Freundeskreis der Boulangers befand sich auch Raoul Pugno, der über Lilis musikalisches Talent dermaßen erstaunt war, dass er sie in ihrem Entschluss, Komponistin werden zu wollen, bedingungslos unterstützte. 1904 zogen die Boulangers in die Rue Ballu 36 unterhalb von Montmartre. Eine der Schlüsselpersonen in dieser Zeit war die fiktive Figur der Princesse Maleine aus dem gleichnamigen Stück des symbolistischen Dramatikers Maurice Maeterlinck: Maleine – mit der sich Lili am meisten identifizierte – war eine einsame Prinzessin, deren Reich zerstört war und deren Geliebter eine andere Prinzessin heiraten musste. Aus dieser Geschichte entwickelte sich nach und nach Lilis Boulangers einzige Oper La Princesse Maleine, die unvollendet blieb. Im Alter von sechzehn Jahren fasste sie den Entschluss, Komponistin zu werden und, wie zuvor ihr Vater Ernest, den Prix de Rome zu gewinnen. Zunächst befasste sie sich – aufgrund der Eindrücke in ihrem Umfeld – mit religiöser Musik, da sie auch durch die Arbeit ihrer Schwester Nadia als professionelle Orgelspielerin inspiriert wurde. 1904 erlebte sie die Uraufführung des Psalms 47 von Florent Schmitt, das auch kompositorisches Vorbild für etliche ihrer späteren Kompositionen für Orgel, Orchester und vor allem für Chor wurde. Das Ziel „Rom-Preis“ verfolgte sie trotz zahlreicher krankheitsbedingter Unterbrechungen, ebenso ihre weiterführenden kompositorischen Studien. Das 1912 verfasste Vokalquartett Renouveau wurde von der Kritik positiv aufgenommen.[1] Prix de RomeBereits 1912 versuchte Lili Boulanger, beim Prix de Rome teilzunehmen, zog sich aber wegen gesundheitlicher Probleme aus dem Wettbewerb zurück. Da generell die musikalische Qualität der Mitstreiter zu wünschen übrig ließ, wurde der Wettbewerb für dieses Jahr dann ganz abgesagt.[2] Sie komponierte weiter. Mitte August 1912 stellte sie eines ihrer bekanntesten Werke, die Hymne au Soleil für gemischten Chor, fertig. Nach einem Jahr intensiver Studien nahm sie mit ihrer Komposition Faust et Hélène, einer Kantate für Tenor, Bariton, Mezzosopran und Orchester, am Wettbewerb um den „Rom-Preis“ 1913 teil. In der Endrunde des Wettbewerbs zeigten sich die männlichen Komponisten stürmisch und erhitzt. Im Gegensatz dazu brachte Lili Boulanger mit ihrem bescheidenen, ruhigen und klaren Auftreten ihre Musiker – darunter auch Nadia Boulanger, die 1908 den zweiten Hauptpreis gewonnen hatte – ohne Forcierung zu Höchstleistungen, was die Seite der Männer kindisch aussehen ließ.[3] Lili Boulanger gewann den Wettbewerb. Als erste Frau errang sie die höchste Auszeichnung premier grand prix – eine Sensation. Quasi über Nacht wurde sie zu einer internationalen Berühmtheit. Die Zeitschrift Musica schrieb über ihren Erfolg:
The Musical Leader kündigte 1913 Lili Boulanger wie folgt an:
Der Preis bestand in einem Aufenthalt in der Villa Medici in Rom und einem Stipendium – ab sofort durften auch Komponistinnen in der Villa Medici leben und arbeiten. Außerdem schloss sie mit Ricordi einen Verlagsvertrag ab, der ihr künftig ein jährliches Gehalt sicherte. Dies war eine absolute Ausnahmeerscheinung, da Komponistinnen damals noch kaum eine Lobby hatten.[5] Im selben Jahr gewann sie auch ein Stipendium der Stiftung Yvonne de Gouy d’Arsy und den Prix Lepaulle für ihre Kompositionen Renouveau und Pour les Funérailles d’un Soldat. Wenige Wochen nach dem Triumph beim Prix de Rome wurde das prämierte Werk, ihre Kantate Faust et Hélène, in Paris erstmals aufgeführt. Le Monde Musical kommentierte:
Krankheit und letzte WerkeNach vielen weiteren Konzerten steckte sich Lili Boulanger im Winter 1913 bei ihrer Schwester Nadia mit Masern an. Zusätzlich erkrankte sie an einer bereits früher in Erscheinung getretenen Magen-Darm-Erkrankung und an einer schweren Lungenentzündung. In dieser Zeit erkannte sie, wie sehr ihr Leben an einem seidenen Faden hing – fortan komponierte sie wie in fieberhafter Eile, weil sie das Gefühl hatte, nicht alt zu werden. Zwar konnte sie ihr Stipendium in Rom noch antreten, ihr Leben dort aber infolge der gesundheitlichen Schwankungen nicht fortführen. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs zerstreute sich die Schar der Studierenden in Rom im Oktober 1914. Mit ihrer besten Freundin Miki Piré, die in Nizza im Hôpital du Grand-Hôtel Verwundete pflegte, arbeitete Lili Boulanger karitativ, indem sie mit musikalischen Soldaten rege Briefkontakte führte oder ihre im Feld entstandenen Werke korrigierte. Als sie spürte, wie sehr die Soldaten diese Aufmerksamkeit und Hilfestellungen brauchten, gründete sie gemeinsam mit ihrer Schwester Nadia das Comité Franco-Americain du Conservatoire und überarbeitete nebenbei für Drucklegungen auch ihre älteren Werke. 1916 erfuhr sie von ihrem Arzt, dass ihre Krankheit sehr weit fortgeschritten sei und sie wohl nur noch knapp zwei Jahre zu leben habe. Immer wieder überfielen sie große Schmerzen und Fieberschübe. Eine Blinddarmoperation am 31. Juli 1917 sollte Linderung der Beschwerden bringen, aber das Gegenteil war der Fall: Während der Operation stellten die Ärzte fest, dass ihr Darm bereits zu zerstört sei. Aus ihrer Korrespondenz mit Miki Piré haben sich einige Briefe erhalten, die ihre Liebe, Dankbarkeit und tapfere Haltung ausdrücken:
Nur noch mit größter Mühe konnte sie sich einigermaßen aufrecht halten. Während dieser Zeit vollendete sie eines ihrer größten und bedeutendsten Werke, das Pie Jesu – gleichsam ihr eigenes Requiem – für Sopran, Streichquartett, Harfe, Orgel und Orchester, ihre Lieblingsinstrumente. Sie war körperlich so schwach geworden, dass sie die letzten Zeilen ihrer Schwester Nadia nur noch diktieren konnte. Auf diese Weise entstanden auch noch D’un soir triste und kleine Teile von La Princesse Maleine. Da Paris zu dieser Zeit im Norden und Osten unter starkem Artilleriebeschuss stand, beschlossen die Boulangers, Lili nach Mézy-sur-Seine zu bringen, wo sie von Miki Piré und ihrer Schwester Nadia hingebungsvoll gepflegt wurde. Lili Boulanger starb im Alter von 24 Jahren am 15. März 1918, nach Schilderungen Nadias friedlich und gelöst. Am 19. März wurde sie auf dem Friedhof Montmartre bestattet (südwestliche Ecke der Sektion 33).[8] In dem Familiengrab ruhen auch ihre Großmutter Marie-Julie Boulanger, ihre Eltern und Nadia, die 61 Jahre nach ihrer Schwester 1979, im Alter von 92 Jahren, starb. RezeptionWirkungsgeschichteNadia Boulanger setzte sich unermüdlich für eine Aufführung der Werke ihrer Schwester ein. Zu Lili Boulangers Beerdigung hatte sie das Werk Lux aeterna für Sopran, Streichinstrumente, Harfe und Orgel komponiert,[9] das sie zu jedem sich jährenden Todestag aufführen ließ. 1939 gründete sie in Boston zusammen mit amerikanischen Freunden den Lili Boulanger Memorial Fund mit zwei Zielen: Pflege der Musik Lili Boulangers und der Erinnerung an die Komponistin sowie finanzielle Unterstützung von jungen Musikern.[10] Seit 1942 hat die Stiftung jährlich einen Musikpreis verliehen, zumeist an einen Preisträger, in einigen Jahren an zwei Preisträger.[11] Doch erst in den 1960er Jahren wurden Lili Boulangers Werke mit Hilfe von Schallplattenaufnahmen wieder öffentlich bekannt. Marc Blitzstein, Autor der Zeitschrift Saturday Review, äußerte sich am 28. Mai 1960 über die Ersteinspielungen einiger Werke Lili Boulangers folgendermaßen:
1962 führte Nadia Boulanger mit dem New York Philharmonic Orchestra, das sie bereits 1939 als erste Frau überhaupt dirigiert hatte, Werke ihrer Schwester auf. 1965 gründete sich die Vereinigung Les Amis de Lili Boulanger mit der Aufgabe, deren Werke bekannt zu machen und Stipendien an junge Komponisten zu vergeben.[13] 1968 (50 Jahre nach Lili Boulangers Tod) organisierte der Freundeskreis eine Ausstellung in der Bibliothèque nationale de France in Paris und einige Konzerte. Am 16. August 1972 wurde die Vereinigung als gemeinnützig anerkannt.[13] Zu ihren Ehrenmitgliedern zählten u. a. Königin Elisabeth von Belgien, George Auric, Marc Chagall, Marcel Dupré, Yehudi Menuhin, Olivier Messiaen, Darius Milhaud, Arthur Rubinstein und Igor Strawinsky. Yehudi Menuhin und Clifford Curzon spielten auch erstmals Lilis Werke Nocturne, Cortège und D’un Matin de Printemps ein. 1993, im Jahr des 100. Geburtstages, benannte sich der Verein in Association des Amis de Nadia et Lili Boulanger um und widmete sich nun dem Werk beider Schwestern. Schon 1982 war außerdem die Fondation internationale Nadia et Lili Boulanger geschaffen worden, eine bei der Fondation de France angesiedelte Stiftung. Sie wurde im Jahr 2009 aufgelöst. Ihre Aufgaben gingen dann auf das neu gegründete Centre international Nadia et Lili Boulanger über.[13] Dieses veranstaltet zweijährlich den Concours international de chant-piano Nadia et Lili Boulanger, einen internationalen Gesangswettbewerb.[14] Die Association des Amis de Nadia et Lili Boulanger hatte den Gesangswettbewerb im Jahr 2001 ins Leben gerufen.[13] Mittlerweile gilt Lili Boulanger als meistaufgeführte Komponistin und als eine der Hauptfiguren des französischen Impressionismus. Ihr künstlerischer Nachlass sowie einige persönliche Gegenstände befinden sich in der Bibliothèque nationale de France in Paris. EhrungenDer Asteroid (1181) Lilith wurde 1927 von seinem Entdecker Benjamin de Jekhowsky zu Ehren Lili Boulangers so benannt.[15] Am 15. Oktober 1970 wurde in Paris die Kreuzung der Rue Ballu mit der Rue Vintimille Place Lili-Boulanger benannt. Eine Gedenktafel für Nadia und Lili Boulanger wurde an ihrem ehemaligen Wohnhaus angebracht. Beide Schwestern hatten hier von 1904 bis zu ihrem Tod gelebt und gearbeitet. Werke (Auswahl)Vokalmusik
Instrumentalmusik
Literatur
Einspielungen (Auswahl)
Film
WeblinksCommons: Lili Boulanger – Sammlung von Bildern Noten Online-Lexika
Filme/Podcasts
Einspielungen auf YouTube
Einzelnachweise
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