Kuno Raeber wuchs in Luzern auf. An den Universitäten in Zürich, Genf, Paris und Basel studierte er Philosophie, Geschichte sowie Literatur und promovierte 1950 über die «Geschichtsbibel» von Sebastian Franck. Zunächst sehr religiös und kurz Novize in einem Jesuiten-Kloster, verlor er bald seinen christlichen Glauben und widmete sich intensiv den alten Mythen. Er war von 1951 bis 1952 Direktor der Schweizer Schule in Rom und anschließend am Tübinger Leibniz Kolleg sowie am Europa-Kolleg in Hamburg tätig. Ab 1958 lebte er als freier Schriftsteller. Er war Mitglied der Gruppe 47, verbrachte längere Zeit in den USA und wurde 1978 als Mitglied im P.E.N.-Zentrum aufgenommen. Raeber hatte seinen Wohnsitz in München, lebte zeitweise in Rom und starb 1992 während eines Besuchs in Basel an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung.
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Raebers literarisches Schaffen ist von Religion und früher Geschichte geprägt. Er fügt in seine in der Gegenwart handelnden Erzählstücke – ähnlich wie Jorge Luis Borges – religiöse, mythische und vergangene historische Welten ein: Mythos und Realität schieben sich bei ihm ineinander und vermischen sich. Seine Prosa ist deshalb nicht leicht zu lesen, sie ist verschlüsselt, sprachgewaltig, voller Zeitsprünge und zudem bis zum Extrem mit Sexualität, Gewalt und Mord bestückt.
Sehr oft ist sein Bezug zum alten Rom erkennbar; er fühlte sich in der Stadt zu Hause, hier spielen nicht nur viele Romane wie zum Beispiel Sacco di Roma, hier interviewte er auch Max Frisch, Uwe Johnson und seine Freundin Ingeborg Bachmann,[2] die ihn zu seinen Schreibexperimenten ermutigte.
Prosa
Raeber schrieb Essays, Rezensionen, Hörspiele, Theaterstücke, Reisebücher und Erzählungen. Seine Romane sind sehr unterschiedlich angelegt. Sein umfangreicher und preisgekrönter Roman Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze besteht zum Beispiel aus neunundsiebzig Prosastücken, die umrahmt sind von den Geständnissen einer Katze, Episoden einer Beichte jenes reichen Römers Alexius, der nach der Legende Frau und Kinder verließ, viele Jahre als Bettler und Einsiedler lebte und später zurückkehrte und unerkannt unter der Treppe lebte und erst kurz vor dem Tod sich offenbarte. Doch zugleich ist dieser Alexius auch der Anführer einer New Yorker Rockerbande, und so inszeniert der Autor in diesem Roman phantasiereich immer weitere historische und mythische Begebenheiten. Beat Mazenauer bezeichnet den Autor als «eigenwilligen Geist», er wäre «ein wacher Traditionalist» gewesen, «der sich nicht in Nostalgie verkroch, sondern die große, vitale Tradition der Geschichte mit allen ihren Spielarten hochleben ließ. Rom, trotz allem, repräsentierte für ihn diese Tradition».[3]
Der Roman «Das Ei»
Der einzige Schauplatz des wegen seiner pornographischen und blasphemischen Passagen umstrittenen Romans Das Ei ist Rom. 1972 hatte ein Ungar, der sich für Christus hielt, mit einem Hammer auf die Pietà von Michelangelo eingeschlagen. Der Autor denkt sich in diese Figur hinein und lässt tiefenpsychologische Deutungen vom Aufstand der Söhne gegen die Mutter beziehungsweise Gottesmutter anklingen. Das oft sehr drastische Geschehen, manchmal an Notre-Dame-des-Fleurs von Jean Genet erinnernd, wirkt auf den Leser verstörend: Der Autor lässt den Täter sich in seinen Identitätswahnvorstellungen als Christus, als Kaiser Joseph II. oder als homosexuellen Papst austoben. Den Schlusspunkt seiner wütenden Abrechnung mit Kirche und Christentum setzt eine Bombe in Form eines Eis – das Ei ist ein christliches Auferstehungssymbol –, welche den Petersdom völlig zerstört. Das Werk fällt durch seine ungewöhnliche Wortgewalt und Drastik sowie seine befremdenden Phantasievorstellungen auf.
Lyrik
Raeber widmete sich zunächst der Lyrik. Seine frühen Verse waren beeinflusst durch Autoren wie Hölderlin, Rilke, George. Seit der 1957 erschienenen Gedichtsammlung Die verwandelten Schiffe steht Raebers Lyrik die Welt als ein unerschöpfliches Materialien-Arsenal («der größte Synkretismus», wie es im Klappentext heißt) zur Verfügung. Ausgelotet wird das in den zwei weiteren Bändchen Gedichte (1960) und Flussufer (1963). Das Kontrastprogramm dazu bilden, nach 18-jähriger Pause, die Reduktionen (1981): 101 Gedichte, meist nur wenige Zeilen umfassend und «durch knappes lakonisches, ganz auf das Gewicht von Wort und Vers konzentriertes Sprechen geprägt».[4] Raebers letzter Gedichtband Abgewandt Zugewandt (1985) stellt den Hochdeutschen Gedichten die Abteilung Alemannische Gedichte gegenüber, deren experimenteller Charakter durch ein begleitendes Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma kommentiert wird.
Der lyrische Nachlass umfasst rund 1000 Gedichte in über 5000 Niederschriften (Notizbuchentwürfe, Manuskriptblätter, Typoskripte), die Raebers Lyrik als ein kohärentes, sich «prozessual» entwickelndes «Metamorphosenwerk» verstehen lassen.[5]
Zikade
«Einst bleibt / von mir nur noch die Stimme. / Du wirst mich in allen / Zimmern suchen, / auf den Treppen, in den langen / Fluren, in den Gärten, / du wirst mich suchen im Keller, / du wirst mich suchen unter den Treppen. / Einst wirst du mich suchen. / Und überall wirst du nur meine Stimme / hören, meine hoch monoton / singende Stimme. Überall wird / sie dich treffen, überall...»[6]
Werke
Gesicht im Mittag. Vineta-Verlag, Basel 1950.
Studien zur Geschichtsbibel Sebastian Francks. Helbing & Lichtenhahn, Basel 1952 (= Diss. Univ. Basel).
Die verwandelten Schiffe. Gedichte. Luchterhand, Darmstadt 1957.
Gedichte. Claassen, Hamburg 1960.
Die Lügner sind ehrlich. Roman. Claassen, Hamburg 1960.
Calabria. Reiseskizzen. Biederstein, München 1961.
Reduktionen. Gedichte. Ullstein, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-548-38529-X.
Abgewandt zugewandt. Neue Gedichte. Hochdeutsch und Luzerner Alemannisch. Mit einem Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma. Ammann, Zürich 1985, ISBN 3-250-10032-3.
"Dieses enorme Gedicht...". Ausgewählte Gedichte in ihren Fassungen. Herausgegeben von Walter Morgenthaler und Thomas Binder. Chronos, Zürich 2020, ISBN 978-3-0340-1576-9.
Übersetzungen
Yves Berger: Der Süden. Roman. Hanser, München 1964.
Michèle Perrein: Ein Mädchen mit Namen Odile. Roman. Claassen, Hamburg 1958.
Film
Kuno Raeber. Eine Produktion des Saarländischen Rundfunks/Fernsehen, Dok. 12', 1974. Buch und Regie: Klaus Peter Dencker.
Heinrich Detering (Hrsg.): Kuno Raeber. (= Text + Kritik Zeitschrift für Literatur. Heft 209). edition text + Kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2016, ISBN 978-3-86916-464-9.
Jürgen Egyptien: Ein einziges großes Weltgedicht. In: literaturkritik.de, Nr. 7/2002.
Jürgen Egyptien: Metamorphosen des Erzählens. In: literaturkritik.de, Nr. 8/2003.
Jürgen Egyptien: (Post-)Moderne Sprachwirbel im Dienste einer Ästhetik der Erlösung. In: literaturkritik.de, Nr. 7/2005.
Jürgen Egyptien: Der Künstler als Märtyrer und die Kathedrale der Kunst. Zum Prosawerk von Kuno Raeber. In: Flucht und Dissidenz. Aussenseiter und Neurotiker in der Deutschschweizer Literatur. Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-35666-8, S. 69–91.
Wolfram Malte Fues, Walter Morgenthaler: Kuno Raebers Beschwörungen. Ein Gedichtzyklus im Dialog. Schwabe Verlag, Basel 2022. ISBN 978-3-7965-4621-1.
Christoph Gellner: Kuno Raebers literarischer Katholizismus. In: Stimmen der Zeit. Jg. 138, 2013, S. 784–787.
Ulrich Hohoff: Raeber, Kuno. In: Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Nymphenburger, München 1990, ISBN 3-485-03550-5.
Richard A. Klein (Hrsg.): Der Dichter Kuno Raeber. Deutungen und Begegnungen. scaneg, München 1992, ISBN 3-89235-777-3.
Franz Lennartz: Raeber, Kuno. In: Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik. Band 3, Kröner, Stuttgart 1983, ISBN 3-520-82101-X.
Walter Morgenthaler: Papier fürs Archiv? Zu Kuno Raebers Gedichtnachlass. In: Irmgard M. Wirtz, Magnus Wieland (Hrsg.): Paperworks: Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier. Chronos, Zürich 2017, ISBN 978-3-0340-1391-8, S. 209–225.
Walter Morgenthaler / Wolfram Malte Fues (Hrsg.): Kuno Raebers Romanwerk. Textfassungen und Interpretationen. Chronos, Zürich 2022 (Schweizer Texte, Neue Folge; 61), ISBN 978-3-0340-1676-6.
Christiane Wyrwa: Kuno Raeber – sein Werk und sein literarischer Nachlass. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs. Nr. 12. 1999, S. 70–74, ISSN1023-6341.
↑Kuno Raeber: Begegnungen mit Ingeborg Bachmann. In: Das Schönste. Monatszeitschrift für alle Freunde der Schönen Künste. München. Jg. 9, Heft 1, Januar 1963, S. 52–54.
↑Beat Mazenauer: Katholik, aber kein Christ. In: Der Bund. 7. Februar 2005.
↑Ulrich Hohoff in: Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. München 1990, S. 507.
↑Walter Morgenthaler: Lyrische Metamorphosen. Kuno Raebers Gedichte online. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Kuno Raeber. (= Text + Kritik Zeitschrift für Literatur. Heft 209). Richard Boorberg Verlag, München 2016, ISBN 978-3-86916-464-9, S.95.