Nach einem Dokument vom Anfang des 17. Jahrhunderts wird Ockeghem als „en son temps trésoir de l'église St. Martin de Thour et natif de St. Ghislain“ beschrieben. Er war somit gebürtig etwa zwölf Kilometer westlich von Mons im heutigen französischsprachigen Belgien; seine Familie stammt aber vielleicht aus dem ca. 50 Kilometer nördlich davon gelegenen Dorf Okegem (heute Stadtteil von Ninove) im flämischsprachigen Gebiet. Es ist anzunehmen, dass er seine musikalische Ausbildung an der Kollegiatkirche Saint-Germain in Mons erhielt, der nächstgelegenen Kirche mit guter musikalischer Einrichtung. Dies würde auch seinen Bezug zu Gilles Binchois erklären, der nach seinem Weggang aus Mons 1423 noch lebenslang Kontakt zur Stadt Mons und den dortigen Kirchen hielt. Erstmals persönlich belegt ist Ockeghem vom 24. Juni 1443 bis zum 23. Juni 1444 als erwachsener Sänger an der Marienkirche Antwerpen unter Johannes Pullois; die Dokumente dieser Kirche aus der Zeit davor und danach sind nicht erhalten. Durch Eintragung in die Rechnungsbücher des Hofs von Herzog Karl I. von Bourbon (Amtszeit 1434–1456) ergibt sich eine Anstellung Ockeghems in Moulins als erstem von sieben Kapellsängern, die Stoff für ihre Roben erhalten haben. Aus dem undatierten Eintrag geht nicht hervor, wie lange er damals schon am Hof tätig war und wie lange er blieb; es wird vermutet, dass seine Tätigkeit von 1446 bis 1448 dauerte.
Ein späteres Dokument unterrichtet darüber, dass er ab 1. Oktober 1451 Sänger an der Hofkapelle des französischen Königs Karl VII. war; der älteste originale Zahlungsbeleg stammt aus dem Rechnungsjahr, das am 30. September 1453 endete. Als Neujahrsgeschenk 1454 überreichte er seinem Dienstherrn eine Musikhandschrift und erhielt dafür eine große Menge scharlachroten Stoffs im Wert von 44 livres tournois und wird „premier chapelain“ genannt. In zahlreichen Dokumenten ist belegt, dass er dieses Amt über 40 Jahre lang innehatte, auch noch während der Regierungszeit der beiden folgenden Könige Ludwig XI. und Karl VIII. von Frankreich. Durch Vergleich der üblichen Zahlungen an die Sänger der Hofkapelle mit seinem Gehalt ergibt sich, dass er häufig mehr bekam und manchmal das Doppelte erreichte; hinzu kamen extra Vergütungen für Sonderleistungen, wie für die Teilnahme am „los de Noël“ für die Königin am 24. Dezember 1454 und an einem Te Deum im Schloss Vendôme am 5. November 1458 zur Feier der Papstwahl von Pius II., auch an den Exequien und dem Begräbnis von Karl VII. im Juli 1461. Daneben konnte er im Laufe der folgenden Jahre eine Reihe von Pfründen für sich gewinnen, darunter eine an Notre-Dame in Paris.
An der bekannten Kirche Saint-Martin in Tours war Ockeghem, parallel zu seinem Amt bei Hofe, seit dem 10. März 1454 Kanoniker und wurde dort am 17. April 1459 als Schatzmeister (trésoir de l'église) eingesetzt – ein Amt, das vom König vergeben wurde und eines der einflussreichsten und bestbezahlten Ämter in Frankreich war. Er besaß zwar eine königliche Abwesenheitserlaubnis (18. April 1461), dennoch war er nach dem Zeugnis zahlreicher Dokumente bis zu seinem Tod regelmäßig in Tours anwesend. Die Zahl der Dokumente, die in dieser Zeit Ockeghem betreffen, übersteigt bei weitem die Zahl von Dokumenten aller anderen Komponisten dieser Zeit, ohne dass sie eine ausführlichere Auskunft über seine kompositorische Tätigkeit geben (Nachweise über den Erwerb von Häusern, zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen über finanzielle und kirchenordnungsmäßige Angelegenheiten besonders ab 1465). Die zuletzt erwähnten Streitigkeiten dauerten bis zwei Jahre vor seinem Tod und dürften seine Aktivitäten als Komponist zumindest zeitweise ziemlich eingeschränkt haben.
Als Ludwig XI. König von Frankreich wurde, wählte er Tours zu seiner bevorzugten Residenz. Dies erleichterte Ockeghem seine doppelten Pflichten als „premier chapelain“ und als Schatzmeister von Saint-Martin wesentlich, und sein Gehalt wurde öfters durch Extrazahlungen aufgestockt. Außerdem scheint er als anerkannter Komponist von seinen Reisemöglichkeiten ausgiebiger Gebrauch gemacht zu haben. So sind in den 1460er Jahren Aufenthalte in Cambrai und Bourges belegt und eine diplomatische Reise nach Spanien im Januar 1470. In den 1470er Jahren vermehren sich Bezugnahmen auf Johannes Ockeghem, die auf eine besondere Hochschätzung hindeuten (schriftliche Äußerungen des humanistischen Dichters Petrus Paulus Senilis, eine Motette von Loyset Compère, ein Brief von Galeazzo Maria Sforza aus Mailand, eine mehrfache Erwähnung in Schriften von Johannes Tinctoris, Jean Molinet und dem italienischen Autor Francesco Florio). Von Erasmus von Rotterdam stammt die Bezugnahme auf die „aurea vox Okegi“. Ockeghem war als Mensch und Musiker gleichermaßen geschätzt wie hervorragend. Guillaume Crétin rühmt ihn in seiner Déploration, er habe sich im Umgang mit Höhergestellten niemals erniedrigt und sei gegenüber Leuten niedrigeren Standes nie anmaßend gewesen. Menschliche Güte sei ihm ein Bedürfnis gewesen, und zu Lebzeiten habe er den Armen seines Ortes eine erhebliche Unterstützung zukommen lassen. Seine äußere Erscheinung soll imponierend und eindrucksvoll gewesen sein.
Das letzte Dokument, in dem er erwähnt wird, ist vom 28. Juli 1486 und spricht von ihm als dem „prothocapellanus“ von König Karl VIII. In seinem Testament vom 14. März 1488 vermachte Ockeghem sein ganzes Vermögen dem Kapitel von Saint-Martin. Das Datum seines Todes am 6. Februar 1497 ergibt sich aus dem Beleg einer Rückzahlungsforderung seines Nachfolgers als Schatzmeister, Evrard de la Chapelle. Sein Ableben fand ein großes Echo in französischen und lateinischen Trauerkompositionen und Nekrologen, hierunter besonders die mehrere hundert Strophen umfassende Déploration von Guillaume Crétin, in der auch einige überlieferte Werke Ockeghems erwähnt werden und die Komponisten der jüngeren Generation aufgefordert werden, dem Andenken des „maistre et bon père“ lamentationes zu widmen. Zwei solcher Trauergesänge, die dann von Josquin des Prez vertont wurden, schrieb der Dichter Jean Molinet.
Bedeutung
Johannes Ockeghem gilt heute als der bedeutendste Komponist der Generation zwischen Dufay und Josquin. Er war der erste Komponist, der sein Augenmerk in besonderer Weise der zyklischen Messe zuwandte. Sein Requiem ist die erste vollständige Vertonung der Totenmesse. In seinen Werken war er mit großer Wahrscheinlichkeit der erste, bei dem die Bassstimme der Musik die zentrale Bedeutung bekam, die sie für die nächsten 400 Jahre behalten sollte. Außerdem weisen seine Kompositionen eine bemerkenswerte stilistische Bandbreite auf. Kaum etwas aus der Faktur, das heißt der Kompositionsweise seiner Chansons, erinnert an den Stil, der in seinen Messzyklen zu finden ist. Von seinen Motetten verdienen die Déploration auf den Tod von Gilles Binchois und das eindrucksvolle Gaude Maria besondere Beachtung. Es ist zwar zu vermuten, dass von Ockeghem mehr Werke verloren gegangen sind als für einen Komponisten seines Formats üblich, aber der bis heute überlieferte Teil hat bereits zu seinen Lebzeiten Kenner in Erstaunen versetzt. Es existiert aus dem 15. Jahrhundert von anderen Komponisten kein Werk mit mehr als zwölf Stimmen, jedoch ist durch mehrere unabhängige Zeugen sichergestellt, dass es von Ockeghem eine 36-stimmige Motette gegeben haben muss, die nicht überliefert ist. Auch die Details der Missa prolationum machen deutlich, dass Ockeghems kontrapunktische Fähigkeiten die jedes anderen weit übertroffen haben. Guillaume Crétin und Nicole le Vestu berichten übereinstimmend, dass das Werk wegen seiner fehlerfreien kontrapunktischen Arbeit Erstaunen hervorgerufen hat.
Die historische Bedeutung von Johannes Ockeghem erschöpft sich jedoch nicht in seiner besonderen Kunst satztechnischer Mittel, sondern sie beruht vor allem auf der Tatsache, dass er den polyphonen Stil der franko-flämischen Musik nach allen Richtungen hin entwickelt hat und damit nachfolgenden Generationen von Komponisten den Weg bereitet hat. Die Musik Ockeghems hat zu jener klassischen Vokalpolyphonie geführt, die die europäische Musik für mehr als ein Jahrhundert geprägt hat.
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Lexikon der Alten Musik BR-Klassik: Ockeghem, Johannes in: br-klassik.de, 18. Dezember 2020; abgerufen am 8. Februar 2021 (Lexikonartikel mit zusätzlichem Audiobeitrag inkl. Musikbeispielen)
↑Marc Honegger, Günther Massenkeil (Hrsg.): Das große Lexikon der Musik. Band 6: Nabakov – Rampal. Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 1981, ISBN 3-451-18056-1.
↑Das Porträt eines Musikers wurde in einer Hypothese von Reinhard Strohm als Ockeghem identifiziert, in: Philippe Vendrix (Hrsg.): Johannes Ockeghem : actes du XLe Colloque international d'études humanistes, Tours, 3-8 février 1997. Paris, Klinckseick, 1998. [pp. 167–172.] In WorldCat sind Exemplare der Kongressakten in der Sorbonne und der Bibliothèque nationale de France nachgewiesen WorldCat page op. cit. Bemerkenswert ist, daß im Internet dieses Porträt in mehreren Varianten von zwei zueinander spiegelbildlichen Versionen kursiert - die Spiegelung kann durch ein reproduktionstechnisches Versehen verursacht oder absichtlich zur Verschleierung der Quelle erfolgt sein. Welche Version die originale ist, ist unbekannt.