Helene Böhlau war die älteste Tochter des Weimarer Verlagsbuchhändlers Hermann Böhlau (1826–1900) und dessen Frau Therese geb. Thon (1831–1911). Sie genoss eine sorgfältige Privaterziehung. Etwa 1873 lernte sie in Weimar den Architekten und Privatgelehrten Friedrich Arnd kennen; später entwickelte sich daraus eine außereheliche Beziehung. Um Helene neben seiner ersten als zweite Frau heiraten zu können, konvertierte der evangelische Arnd zum Islam und nannte sich fortan Omar al Raschid Bey.[4] Helenes Vater verbot ihr daraufhin das Haus.
Nach der Hochzeit 1886 lebte das Ehepaar ein Jahr lang in Konstantinopel, dann – nach der Scheidung von seiner ersten Frau – in München. Helene Böhlau veröffentlichte weiterhin unter ihrem Geburtsnamen, manchmal mit dem Zusatz „Frau al Raschid Bey“. Zu ihrem Freundeskreis gehörte auch die Schriftstellerin und Kunstkritikerin Anna Spier, Ehefrau des Politikers und Privatgelehrten Samuel Spier, der Böhlau 1903 im Gedenken an „Unsere grünen Sommer!“ ihr Sommerbuch Altweimarische Geschichten widmete. Auch den Roman Halbtier! widmete sie Anna Spier. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahre 1911 wohnte Helene Böhlau in Ingolstadt, München, Widdersberg und Augsburg. Ihr 1895 geborener Sohn Omar al Raschid Bey, später Hermann Ottokar Böhlau genannt, bildete 1915 als Gefreiter in München Rekruten aus, darunter Victor Klemperer; nach seinem Studium arbeitete er als Arzt.
Helene Böhlau starb am 26. März 1940 im Krankenhaus in Augsburg[5] und fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Widdersberg in dem an der Kirche gelegenen Familiengrab (Inschrift „Helene Böhlau al Raschid Bey“).[6]
Leistungen
Helene Böhlau gehörte zu ihrer Zeit zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen. Der Literaturkritiker Max Lesser nannte sie 1901 gemeinsam mit Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal und Peter Altenberg die bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin der Gegenwart.[7]
Ab 1882 veröffentlichte sie Novellen und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman mit dem Titel Reines Herzens schuldig erschien 1888. Das Werk Helene Böhlaus umfasst sowohl ambitionierte Kunst- als auch Gebrauchsliteratur. Ihre frühen, vom Naturalismus beeinflussten feministischen Romane Der Rangierbahnhof (1896), Das Recht der Mutter (1896) und Halbtier![8] (1899) wurden von den Zeitgenossen beachtet und insgesamt positiv rezensiert (wenn auch gelegentlich ein Zug ins „zu“ Genialische, Absonderliche moniert wurde). Einem größeren Publikum war Helene Böhlau vor allem bekannt als Autorin der Ratsmädelgeschichten (1888; weitere Bände 1897, 1905 und 1923) und diverser Altweimarischer Geschichten (1897ff.).
Beim 50. Jahrestag ihrer Gründung 1909 ehrte die Deutsche Schillerstiftung Böhlau zu Schillers Geburtstag durch eine Ehrengabe. Der Wiener Zweig der Schillerstiftung offerierte ihr 1915 zum Geburtstag der Marie von Ebner-Eschenbach den Ertrag ihres Eschenbach-Fonds.[9]
Die Böhlaustraße in Weimar[10] erinnert an Helene Böhlau.
Werke (Auswahl)
Viele Erzählungen sind in Zeitschriften erschienen, bevor sie (manchmal leicht überarbeitet) in Buchform herauskamen, z. B. in Deutsche Rundschau, in Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte, in Vom Fels zum Meer, in Die Gartenlaube. Umfassendes Schriftenverzeichnis bei Becker 1988, S. 170ff. Viele Werke Böhlaus wurden mehrfach neu aufgelegt, oft in wechselnden Zusammenstellungen.
Novellen. 1882. Digitalisat. (Neuausgabe unter dem Titel Salin Kaliske. 1902; Inhalt: Im Banne des Todes; Salin Kaliske; Maleen)
Der schöne Valentin. Die alten Leutchen. Zwei Novellen. 1886.[11]Digitalisat.
Wie die Enkelin der Ratsmädel zum Blaustrumpf wurde, in: Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten. Altweimarische Liebes- und Ehegeschichten.Deutsche Buchgemeinschaft o. J., ca. 1930, S. 128–166; zuerst in Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten, 1897 (S. 122–159, Digitalisat), 1899.[20]
Föhn. Roman. 1931.
Spuk in Alt-Weimar. Erzählungen. 1935. (Auszug aus: Ratsmädel- und Altweimarische Geschichten)
Gesammelte Werke. Erste Abteilung. Die Erzählungen aus Altweimar in vier Bänden. Weimar [1927].
Gesammelte Werke. Zweite Abteilung. Romane und Novellen in fünf Bänden. Weimar [1929]. (Band 3 stimmt überein mit Band 4 von 1915.)
Autobiographie
Al Raschid Bey, Frau Helene, verw., geb. Böhlau. In: Geistiges und Künstlerisches München in Selbstbiographien. Hrsg. W. Zils-München. München 1913, S. 6–8.
Literatur
Hubert Amft: Auf der Suche nach der „neuen Frau“ – Leben, Werk und Frauenbild Helene Böhlaus. In: Hubert Amft: Dem Geist des Ortes verpflichtet. Lebensbilder und Werk von sechs Weimarer Schriftstellerinnen. Weimar 2005, ISBN 3-910053-38-6, S. 99–136.
Gertrud Bäumer: Der Tendenzcharakter des modernen Frauenromans. In: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. 10. Jg., 1903, S. 449–456.
Josef Becker: Helene Böhlau. Leben und Werk. ADAG Administration und Druck, Zürich 1988 DNB947139257. (Dissertation Universität Zürich 1988).
Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen. Band 2. C. H. Beck, München 1988, S. 169–205, ISBN 3-406-33118-1.
Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Lexikon. Metzler, Stuttgart 1981, ISBN 3-476-00456-2, S. 4. (mit falschem Geburtsdatum)
Maike Heimeshoff: „die Dinger von Deiner Frau sind net übel!“ Künstlerinnen und Abhängigkeit von männlicher Anerkennung am Beispiel von Helene Böhlaus „Halbtier!“ und „Der Rangierbahnhof“. GRIN, München 2011, ISBN 978-3-640-99589-9.
Maria Rassow: Helene Böhlau und Weimar. In: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. 27. Jg. 1919–1920. Berlin 1920, S. 45–49.[22]
Verda Seehausen: Helene Böhlau. In: Britta Jürgs (Hrsg.): „Denn da ist nichts mehr, wie es die Natur gewollt.“ Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen um 1900. Aviva, Berlin 2001, ISBN 3-932338-13-8, S. 260–280.
Sandra L. Singer: Free soul, free women? A study of selected fictional works by Hedwig Dohm, Isolde Kurz, and Helene Böhlau (= Studies in modern German literature, Band 75). Lang, New York 1995, ISBN 0-8204-2557-5.
Martha Strinz: Helene Böhlau. In: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. 9. Jg., 1902, S. 417–427.
Elena Tresnak: Theodor Fontane: „Wegbereiter“ für weibliche Emanzipation um 1900? Vergleichende Untersuchung literarischer Weiblichkeitskonzepte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Theodor Fontanes „Cécile“ (1887) und Helene Böhlaus „Der Rangierbahnhof“ (1896). Igel, Hamburg 2011, ISBN 978-3-86815-545-7 (Dissertation Universität Kiel 2010).
Friedrich Zillmann: Helene Böhlau. Ein Beitrag zu ihrer Würdigung. Xenien, Leipzig 1918 DNB578493578
↑Geburtsanzeige in Weimarer Zeitung vom 23. November 1856, S. 1112; getauft am 26. Dezember (Weimarer Zeitung vom 3. Januar 1857, S. 8). Taufbuch der ev. Kirchengemeinde Weimar 1856, S. 249, Nr. 1165 (laut Becker 1988, S. 4). Ältere Darstellungen geben 1859 als Geburtsjahr an; diese Fehlangabe stammte wahrscheinlich von Böhlau selbst.
↑Die Angabe „Widdersberg bei Herrsching“ bei Friedrichs ist falsch.
↑Vgl. Böhlaus Selbstanzeige in Das literarische Echo. 10. Jg. 1907/1908, Spalte 443f.
↑Autobiographischer Roman, auch als Gesammelte Werke 1915, Band 6, und als Gesammelte Werke 1929, Band 1, erschienen. Besprechung von Hermann Kienzl: Helene Böhlaus Lebensroman. In: Das literarische Echo. 13. Jg., 1910/1911, Spalte 1226–1230, und von Gertrud Bäumer: „Isebies.“ In: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. 18. Jg., 1910/1911, S. 526–528.