Die zu Lebzeiten vielgelesene Autorin wurde bekannt durch ihren Roman Aus guter Familie (1895), der die „Leidensgeschichte eines Mädchens“ (Untertitel), einer typischen „höheren Tochter“ der Wilhelminischen Ära, erzählt. Das Buch verkaufte sich bis 1931 in 28 Auflagen und war der erste Bestseller, den der S. Fischer Verlag in seiner Verlagsgeschichte hatte.[1] Weitere Bestseller waren etwa ihr Roman Ellen von der Weiden (1900), die NovellensammlungFrauenseelen (1901) oder der Roman Der Amerikaner (1907). Heute ist Gabriele Reuter nahezu vergessen.
Gabriele Reuter war die Tochter des aus Treptow an der Tollense in Pommern stammenden internationalen Großkaufmanns im Textilhandel, Carl Reuter, und dessen Frau Johanna, geb. Brehmer.[2] Sie war eine Urenkelin der Dichterin Philippine Engelhard, der sie in Grüne Ranken um alte Bilder von 1937 ein literarisches Denkmal setzen wollte. Ihre Kindheit verbrachte sie teils bei der Verwandtschaft der Mutter in Dessau (1864–69), teils in Alexandrien (1869–72). Als der Vater 1872 starb, erfolgte die endgültige Rückkehr der Familie nach Deutschland. Reuter kam für ein Jahr in das Breymannsche Institut, auch Neu-Watzum.[3][4] Dann aber verlor die Familie durch die allgemeine Rezession und durch einen Betrugsfall bei der Auflösung des väterlichen Geschäfts 1873 ihr gesamtes Vermögen und zog in eine kleine Wohnung in Neuhaldensleben.
Die Verantwortlichkeit für die jüngeren Brüder und die zunehmend depressive Mutter bedingten eine für die Zeit ungewöhnlich frühe Selbstständigkeit Gabriele Reuters. Die finanziellen Sorgen führten außerdem dazu, dass sie schon als junges Mädchen ihr Schreibtalent als eine Verdienstquelle nutzte. 1875/76 erschienen erste literarische Publikationen über Ägypten in Lokalblättern. Es folgten konventionell geschriebene Romane mit exotischem Kolorit. Von dem so verdienten Geld finanzierte Reuter 1879 den Umzug der Familie nach Weimar, wo sie sich als junge Schriftstellerin zu etablieren versuchte. Um 1890 unternahm sie erste eigenständige Reisen nach Berlin, Wien und München zu diversen Schriftstellertagungen und machte Bekanntschaft mit anderen Künstlern ihrer Zeit, darunter mit dem Anarchisten und Lyriker John Henry Mackay, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verband, und mit Henrik Ibsen.[3]
Der Roman war ein enormer Erfolg, löste in Literaturzeitschriften und feministischen Blättern eine erregte Debatte aus und machte Reuter über Nacht berühmt. Im selben Jahr zog sie mit ihrer Mutter wieder nach München, da sich inzwischen einer ihrer Brüder als Arzt dort niedergelassen hatte. Am 28. Oktober 1897 gebar sie in Erbach (bei Ulm) ihre uneheliche Tochter Elisabeth Reuter, genannt Lili, die später den Maler Johannes Maximilian Avenarius heiratete. Der Vater war Benno Rüttenauer.
1899 zog Reuter nach Berlin um. In den dreißig Jahren, die sie dort lebte, erschienen zahlreiche Romane, Novellen, Jugendbücher und Essays, die immer wieder das Thema des Geschlechter- und Generationenkonflikts aufgriffen. Gabriele Reuter wurde gerühmt für ihre feine psychologische Ausgestaltung und galt als „Dichterin der weiblichen Seele“.
Zwischen 1904 und 1908 lebte sie zeitweise auf dem Monte Verità von Ascona. Über diese Zeit schrieb sie einen Schlüsselroman Benedikta, der 1923 erschien. In ihm sind einige Protagonisten der Reformsiedlung unschwer zu erkennen: die Mitgründerin der Kolonie Lotte Hattemer, die als feurige Revolutionärin gezeichnet wird; ihr Liebhaber, der anarchistische Dichter und spätere Psychotherapeut Johannes Nohl; die Leiter der Naturheilanstalt: Ida Hofmann und Henri Oedenkoven; der Dichterprophet und Einsiedler Gusto Gräser, der im Wald lebt; der Arzt und Anarchist Raphael Friedeberg und schließlich sie selbst als „Benedikta“. Im Mittelpunkt steht der Revolutionär Friedeberg, für dessen umstürzlerische Ideen sich Benedikta zunächst begeistert, die sie aber entschieden ablehnt, nachdem aus ihnen der blutige Ernst der Revolution von 1918/19 geworden ist. Es handelt sich um den zweiten Schlüsselroman über den berühmten „Wahrheitsberg“ von Ascona nach dem Demian-Roman von Hermann Hesse, der 1919 erschienen war. Im Unterschied zu diesem ist Reuters Erzählung realistischer in der Personen- und Milieuschilderung und ungleich entschiedener in der politischen Positionierung.
Einen Skandal verursachte noch einmal ihr Roman Das Tränenhaus (1908), in dem sie auf recht drastische Weise die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende schilderte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs arbeitete sie außerdem als Kolumnistin für die Wiener Neue Freie Presse und in den letzten Lebensjahren als Rezensentin für die New York Times. 1929 kehrte die Siebzigjährige zurück nach Weimar, wo sie am 16. November 1941 verstarb.
Reuters Erfolgsroman Aus guter Familie ist eines der ersten Werke aus weiblicher Feder, das sich nach den innovativen literarischen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dem konsequenten Realismus bzw. Naturalismus, ausrichtete. Zusammen mit Helene Böhlaus Roman Der Rangierbahnhof (1896) gab er das Muster ab für zahlreiche weitere weibliche Bekenntnis- oder Selbstfindungsromane der Epoche. Die Debatte um den Roman kreiste zunächst vor allem um die Frage, ob das Werk ein Tendenzroman sei oder nicht.
Reuters Haltung zur zeitgenössischen Frauenbewegung war zwiespältig, wenn nicht distanziert: Die frauenrechtlerische Publizistin Helene Stöcker würdigte das Werk Reuters trotzdem mehrfach, Hedwig Dohm äußerte sich anlässlich des Erscheinens von Das Tränenhaus eher skeptisch. Antifeministen warfen Reuter dagegen eine zu einseitig weibliche Perspektive vor. Reuter ließ sich weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen. Aus guter Familie wurde wegen der sozialen Repräsentativität der Protagonistin außerdem vielfach mit GoethesWerther verglichen.
Thomas Mann interpretierte den Roman nach dem Muster des zeitgenössischen Künstlerromans. Er schrieb 1904 über Verfasserin: „Gabriele Reuter ist vielleicht die souveränste Frau, die heute in Deutschland lebt; nicht weil sie die 'emanzipierteste' wäre, sondern weil sie auch über die 'Emanzipation' schon hinaus ist - von jeher darüber hinaus war und zwar vermöge ihrer künstlerichen Weiblichkeit. In ihrer Weiblichkeit liegt ihre Stärke und Tiefe, und mit ihr ist sie, wie mir scheint, 'moderner' als alle streitbaren Frauenzimmer der Neuzeit, die den Gipfel der Modernität erklommen zu haben meinen, wenn sie sich den Doktorhut aufs geschorene Haupt stülpen.“[5]
Werke
Romane
Glück und Geld. Roman aus dem heutigen Egypten. Friedrich, Leipzig 1888.
Kolonistenvolk. Roman aus Argentinien. Friedrich, Leipzig 1891. (Enßlin & Laiblin, Reutlingen 1926)
Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Fischer, Berlin 1895.
Neuausgabe: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. 2 Bände. TransMIT, Marburg 2006, ISBN 3-936134-19-7 (Text) und ISBN 3-936134-20-0 (Dokumente).
Vom Mädchen, das nicht lieben konnte. Ullstein, Berlin 1933.
Kurzprosa, Novellen und Erzählungen
Episode Hopkins. Zu spät. Zwei Studien. Pierson, Dresden 1889.
Neuausgabe als: Episode Hopkins. Zwei Novellen. Fischer, Berlin 1897.
Der Lebenskünstler. Novellen. Fischer, Berlin 1897.
Frauenseelen. Novellen. Fischer, Berlin 1901.
Gunhild Kersten. Novelle. DVA, Stuttgart 1904.
Wunderliche Liebe. Novellen. Fischer, Berlin 1905.
Eines Toten Wiederkehr und andere Novellen. Reclam, Leipzig 1908.
Im Sonnenland. Erzählung aus Alexandrien. Hillger, Berlin 1914.
Vom weiblichen Herzen. Novellen. Hillger, Berlin 1917.
Essayistisches und Autobiographisches
John Henry Mackay. Eine litterarische Studie. In: Die Gesellschaft. 7, 1891, S. 1304–1314.
Marie von Ebner-Eschenbach. Schuster & Loeffler, Berlin 1904.
Annette von Droste-Hülshoff. Marquardt, Berlin 1906.
Das Problem der Ehe. 1907.
Liebe und Stimmrecht. Fischer, Berlin 1914. (in Auszügen wiederabgedruckt in: Emanzipation und Literatur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-23747-5, S. 204–210)
Der Krieg und die Mädchen. In: Scherls Jungmädchenbuch. Scherl, Berlin o. J. [1914], S. XI–XX.
Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Fischer, Berlin 1921.
Grüne Ranken um alte Bilder. Ein deutscher Familienroman. Grote, Berlin 1937.
Dramen
Ikas Bild. Lustspiel. 1894.
Das böse Prinzeßchen. Ein Märchenspiel für Kinder in drei Aufzügen. Fischer, Berlin 1905.
Kinder- und Jugendbücher
Sanfte Herzen. Ein Buch für junge Mädchen. Fischer, Berlin 1909.
Was Helmut in Deutschland erlebte. Eine Jugendgeschichte. Perthes, Gotha 1917.
Großstadtmädel. Jugendgeschichten. Ullstein, Berlin 1920.
Das Haus in der Antoniuskirchstraße. Abel & Müller, Leipzig 1927.
Grete fährt ins Glück. Weise, Berlin 1935.
Literatur
Faranak Alimadad-Mensch: Gabriele Reuter. Porträt einer Schriftstellerin. Lang, Bern 1984, ISBN 3-261-03418-1.
Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Deutsche Literatur von Frauen. Band 2, Beck, München 1988, ISBN 3-406-33021-5, S. 169–205.
Günter Helmes: Gabriele Reuter: Leben und Werk. In: Gabriele Reuter: Ellen von der Weiden. Ullstein, Berlin 1997, ISBN 3-548-24167-0, S. 175–192.
Günter Helmes: Gabriele Reuter: „Ellen von der Weiden“. In: Reclams Romanlexikon. Band 3. Stuttgart 1999, ISBN 3-15-018003-1, S. 17f.
Günter Helmes: Gabriele Reuter: „Aus guter Familie“. In: Reclams Romanlexikon. Band 3. Stuttgart 1999, ISBN 3-15-018003-1, S. 15–17.
Annette Kliewer: Gabriele Reuter. In: Britta Jürgs (Hrsg.): Denn da ist nichts mehr, wie es die Natur gewollt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen um 1900. AvivA Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-932338-13-8, S. 12–140.
Cornelia Pechota Vuilleumier: „O Vater, laß uns ziehn!“ Literarische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé. Olms, Hildesheim 2005, ISBN 3-487-12873-X.
Ulrich Hauer: Gabriele Reuter. Jugendjahre in Alt- und Neuhaldensleben. In: Jahresschrift der Museen des Landkreises Börde. Band 49 (16), Haldensleben 2009, S. 37–74.
Denise Roth: Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes 'Effi Briest' und Gabriele Reuters 'Aus guter Familie' poetologisch entschlüsselt. WVB Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2012, ISBN 978-3-86573-679-6.
Annette Seemann: Gabriele Reuter : Leben und Werk einer geborenen Schriftstellerin (1859–1941). Weimarer Verlagsgesellschaft, [Wiesbaden] [2016], ISBN 978-3-7374-0248-4.
↑Eine verwandtschaftliche Beziehung zum niederdeutschen Dichter und Literaten Fritz Reuter, einem geringfügig jüngeren Altersgenossen ihres Vaters, der seit den frühen 1850ern zeitweilig in Treptow an der Tollense lebte und hier erste Werke verfasste, besteht nicht oder ist nicht bekannt.
↑ abcGisela Brinker-Gabler, Karola Ludwig, Angela Wöffen: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800–1945. dtv München, 1986. ISBN 3-423-03282-0. S. 250 f.