Hans Driesch war seit 1899 mit der Schriftstellerin Margaretha Reifferscheidt (1874–1946) verheiratet. Eines seiner Kinder war der Komponist Kurt Driesch.[2] Bei seinem Begräbnis auf dem Neuen Johannisfriedhof[3] wurde nach seinem Wunsch aus Richard WagnersParsifal gespielt.[4]
Experimentelle Forschungen
Ab 1891 führte Driesch an der Zoologischen Station Neapel experimentelle entwicklungsmechanische Studien an Seeigelkeimen durch. Er trennte die Keime in ihrem zweizelligen Stadium der Furchungszellen durch heftiges Schütteln in einem kleinen Glasrohr. Die überlebenden Furchungszellen entwickelten sich genauso, als wenn sie nicht von ihrer Schwesterzelle getrennt worden wären.[5] Jede der Zellen war also in der Lage, einen kompletten Organismus hervorzubringen. Dementsprechend bezeichnete Driesch die gesamte Entwicklungsmöglichkeit einer Zelle als ihre „prospektive Potenz“ und das, was bei einer normalen Entwicklung tatsächlich aus der Zelle hervorgeht, als ihre „prospektive Bedeutung“. Beim Seeigel ist die prospektive Potenz der Blastomeren größer als die prospektive Bedeutung.[6][7]
Driesch variierte diese Experimente vielfach mit unterschiedlichen Organismen und stieß dabei immer wieder auf deren Fähigkeit, Zerstückeltes und Zerstörtes selbsttätig wiederherzustellen. Weil es Driesch nicht gelang, dies im Hinblick auf die biologische Morphogenese auf mechanistische und damit materialistische Weise zu erklären, irritierte ihn dieses Ergebnis.[8] Bei einem „Mechanismus“ seien die „Anordnung der Teile, die 'Konstellation', die 'Struktur' und die letzten Wirkungsgesetze zwischen den Teilen“ das Entscheidende. Die bei Drieschs Experimenten beobachteten Ergebnisse seien jedoch durch einen in dieser Weise verstandenen Mechanismus nicht zu erklären.[9]
Philosophie
Das in Drieschs Augen unter mechanistischen und materialistischen Voraussetzungen nicht erklärbare Ergebnis seiner Experimente führte ihn zur Philosophie. Seine Ausgangsfrage lautete: „Ist eine gegebene rein materielle Struktur als Grundlage des Formbildungsgeschehens denkbar oder nicht?“[10] Den Begriff „Mechanismus“ verstand er dabei wie folgt: Alle künftigen Zustände können aus einem gegenwärtigen Zustand abgeleitet werden, wenn in Bezug auf den gegenwärtigen Zustand bekannt sind: 1. die Lagen jedes materiellen Elements, 2. die Geschwindigkeit jedes Elements und 3. das Gesetz der Wechselwirkung zwischen den Elementen. In diesem Sinne seien die künftigen Geschehnisse die geometrische Summe aller einzelnen Bewegungen und Kräfte der materiellen Elemente.[11]
Driesch hielt es für unmöglich, die Morphogenese der Organismen auf diese Weise hinreichend zu erklären. Obwohl Driesch es war, der den Begriff des biologischen Systems einführte,[12] war er der Meinung, dass auch eine systembiologische Sicht an diesem Tatbestand nichts ändere: „Geordnete Ganzheit ist kein 'Mechanismus', und aus echtem Mechanismus kann sich nie Ganzheit ergeben [...]“[13]
Driesch forderte daher zusätzlich zu den physiko-chemischen Vorgängen einen Naturfaktor, der die geordnete Ganzheit des Organismus erzeugt. In diesem Faktor sah er den entscheidenden Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebten. Er nannte ihn, ausgehend von Aristoteles, „Entelechie“. Gelegentlich sprach er auch von „X-Agentien“.[14] Es handle sich dabei um einen immateriellen Faktor, der – da alles Materielle räumlich ist – wie von „außerhalb“ in den Raum hineinwirke. „Die vitale Kausalität, mit dem Begriff der Entelechie als einem nicht-materiellen, 'in den Raum hinein' wirkenden Agens arbeitend, heißt Ganzheitskausalität, weil der Organismus ganz ist und nach Störungen wieder ganz ganz wird.“[15] Nicht auf die Bezeichnung komme es jedoch an, sondern „nur auf die Einsicht, dass ein der Materie gegenüber grundsätzlich Fremdes am Werk ist, das, anders gesagt, nicht von der Materie aus, sondern mit der Materie hier gearbeitet wird.“[16]
In Leipzig ist eine große Straße im Stadtteil Leutzsch nach Hans Driesch benannt, sie verlängert die Achse der Emil-Fuchs-Straße, in der sein ehemaliges Wohnhaus steht. Im Kölner Stadtbezirk Lindenthal wurde das Wirken von Hans Driesch ebenfalls durch die Benennung einer Straße geehrt[24], desgleichen 1967 im Hamburger Stadtteil Eidelstedt mit der Benennung des Drieschwegs.[25]
Driesch wirkte über viele Jahre als Mitarbeiter an der populärwissenschaftlichen illustrierten Monatsschrift Reclams Universum mit, die anlässlich seines 60. Geburtstags in ihrer Ausgabe vom 27. Oktober 1927 seiner gedachte.
Driesch war pazifistischer und demokratischer Gesinnung, musste daher als einer der ersten Professoren aufgrund seines früheren Eintretens für pazifistisch gesinnte Kollegen unter dem Zwang der NS-Diktatur seine Emeritierung beantragen und war so von seiner Hochschullehrtätigkeit ausgeschlossen.[26]
Angesichts einer im Jahr 1928 gehaltenen Rede Hans Drieschs vor dem Reichsgericht in Leipzig, in der er sich indirekt auch für Mitglieder der Deutschen Liga für Menschenrechte einsetzte, die wegen ihres öffentlich geäußerten radikalen Pazifismus angeklagt waren, beschrieb der Dichter Tucholsky Driesch als „höchst couragiert,“[28] der für die Angeklagten „in verdienstvoller Weise eingetreten“ sei,[29] aber er bedauert, dass Driesch nicht viel eindeutiger und ohne Rücksichten auf Konventionen geredet habe.[30]
Otto Heinichen: Drieschs Philosophie. Eine Einführung, Leipzig 1924.
Will Durant : Die großen Denker, Zürich 1926, S. 441–451.
Aloys Wenzl : Hans Driesch: Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie und Philosophie heute, Basel 1951
Emil Ungerer: Hans Driesch. Die Eigengesetzlichkeit des organischen Lebens. In: Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa. 2. Mediziner, Biologen, Anthropologen. Hgg. Hans Schwerte & Wilhelm Spengler. Reihe: Gestalter unserer Zeit Bd. 4. Stalling, Oldenburg 1955, S. 218–227.
Reinhard Mocek: Wilhelm Roux, Hans Driesch. Zur Geschichte der Entwicklungsphysiologie der Tiere ("Entwicklungsmechanik"), Jena 1974.
Horst H. Freyhofer: The Vitalism of Hans Driesch. The Success and Decline of a Scientific Theory, Frankfurt/Main, Bern 1982.
Walter Hof: Die philosophische Reichweite der modernen Naturwissenschaft, Leer 1984, S. 15–26.
Thomas Miller: Konstruktion und Begründung. Zur Struktur und Relevanz der Philosophie Hans Drieschs. G. Olms Verlag, Hildesheim 1991. ISBN 978-3-487-09514-1
Kurt Tucholsky ; Lerne lachen ohne zu weinen. Auswahl 1928–1929; Berlin 1985
↑Jeanische Zeitschrift für Naturwissenschaft 1889 und 1890
↑Vgl. Kurt Driesch: Hans Driesch als Mensch, in: Philosophisches Jahrbuch 57 (1947) 19–21.
↑Sein Leichnam und der seiner Frau wurden später nach Berlin überführt.
↑Kurt Driesch: Hans Driesch als Mensch, in: Philosophisches Jahrbuch 57 (1947) 19–21, hier 20.
↑Hans Driesch: Philosophie des Organischen. 4. Auflage, Leipzig 1928, S. 42 f.
↑Hans Driesch: „Entwicklungsmechanische Studien. I–II. Der Wert der beiden ersten Furchungszellen in der Echinodermententwicklung. Experimentelle Erzeugung von Teil- und Doppelbildungen.“ In: Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Band 53, 1891.
↑Biologie Oberstufe. Gesamtband. Herausgegeben von Ulrich Weber. Berlin 2001, S. 218.
↑Hans Driesch: Lebenserinnerungen. Basel 1951, S. 74
↑Hans Driesch: Biologische Probleme höherer Ordnung. 2. Auflage. Leipzig 1944, S. 28.
↑Hans Driesch: Die Überwindung des Materialismus. Zürich 1935, S. 32.
↑Hans Driesch: Philosophie des Organischen. 4. Auflage. Leipzig 1928, S. 311.
↑Heinz Penzlin: Das Phänomen Leben. Grundfragen theoretischer Biologie. Springer Verlag, Berlin und Heidelberg 2014, S. 45.
↑Hans Driesch: Wirklichkeitslehre. Ein metaphysischer Versuch. 2. Auflage. Leipzig 1922, S. 79.
↑Hans Driesch: Parapsychologie. Kindler Taschenbücher, München o. J. (ca. 1970), S. 109.
↑Hans Driesch: Systematische Selbstdarstellung. (Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, hrsg. von Hermann Schwarz) Berlin 1933, S. 156
↑Hans Driesch: Biologische Probleme höherer Ordnung, S. 15 f.
↑Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 46.
↑Hans Driesch: Grundprobleme der Psychologie. 2. Auflage. Leipzig 1929.