Fujimura Misao wurde 1886 in Hokkaidō geboren. Zu seiner Familie zählten Geschäftsleute, Politiker und Gelehrte.[1] Der Historiker Naka Michiyo (那珂 通世), der Gründer der Ostasienwissenschaften in Japan, war sein Onkel.[2] Als sein Vater Fujimura Yutaka (藤村 胖) 1899 starb, zog Misao nach Tokio.[1] Dort besuchte er die Erste Höhere Schule, die vorbereitende Schule für die ebenso prestigeträchtige und erste Universität Japans – der Kaiserlichen Universität Tokio.[3]
Am 22. Mai 1903 stürzte er sich von den Kegon-Fällen bei Nikkō in den Tod. Zuvor ritzte er ein Todesgedicht in einen Baum, welches später von den Behörden entfernt wurde.[4] Zwar blieb sein genaues Motiv unbekannt, jedoch ist Fujimura der „gepeinigten Jugend“ (煩悶青年, hammon seinen) zuzuordnen. Diese Jugendkultur bildete sich in der zweiten Hälfte der Meiji-Zeit heraus und stand im Kontrast zur „erfolgreichen Jugend“ (成功青年, seikō seinen). Hintergrund waren die in der frühen Meiji-Zeit eingeführten Konzepte der Self-Help und des risshin shusse (立身出世).[5]Self-Help, ein Begriff aus Samuel Smiles’ gleichnamigen Buch, steht für das selbstständig handelnde Individuum, dessen Wohl zum Wohl des Staates führt; risshin shusse wiederum steht für den persönlichen Aufstieg in der Gesellschaft durch eine gute Ausbildung auch anhand eines vorgezeichneten Lebensweges.[6] In der zweiten Hälfte der Meiji-Zeit war der soziale Aufstieg jedoch längst nicht so garantiert wie zu Anfang, und nach der harten Ausbildung waren die Eintrittsgehälter und -positionen ebenfalls nicht mehr so hoch.[5] Das Streben nach Individualismus aufgrund der Konzepte der Self-Help und des risshin shusse entfremdete diese Jugendlichen von der traditionellen kollektivistischen Gesellschaft. Diese Widersprüche und Isolation „peinigten“ einen Teil der Jugend, die sich andere Wege der Selbstverwirklichung wünschten und über den Sinn des Lebens nachdachten.[7]
Wegen seines geheimnisvollen Todesgedichts und seiner hohen sozialen Herkunft rief sein Tod starke Reaktionen hervor. Für Teile seiner Generation wurde er Vorbild und Iwanami Shigeo, sein Freund[4] und späterer Gründer von Iwanami Shoten, berichtete, wie viele von ihren Emotionen überwältigt wurden.[7] Diese Nachwirkungen zeigen sich darin, dass bis zum August 1907 mehr als 185 Menschen versuchten, seinen Selbstmord an den Kegon-Fällen nachzuahmen.[8] In dieser Hinsicht wird sein Gedicht auch mit GoethesDie Leiden des jungen Werthers verglichen,[5] das ebenfalls zu einer Suizidwelle führte und dem Werther-Effekt seinen Namen gab. Es gab aber auch ablehnende Stimmen; nicht wegen des Aktes des Selbstmordes an sich (der in der japanischen Gesellschaft weitaus weniger als in der christlich-abendländischen Kultur verpönt ist), sondern weil sein Suizid als egoistische Tat angesehen wurde.[7]
Auch bei der geistigen Elite fand sein Tod hohe Beachtung. So schrieb der Intellektuelle Kuroiwa Ruikō (1862–1920) als Herausgeber der Zeitung Yorozu Chōhō (萬朝報):
„Waga kuni ni tetsugakusha nashi, kono shōnen ni oite hajimete tetsugakusha o miru. Ina, tetsugakusha naki ni aruzu, tetsugaku no tame ni teishi suru sha naki nari.“
„Es gibt keine Philosophen in unserem Land; was diesen Jungen anbelangt, so sah ich zum ersten Mal einen Philosophen. Nein, wir sind nicht philosophenlos, aber keiner von diesen würde der Philosophie wegen sein Leben geben.“
– Kuroiwa Ruikō: Shōnen tetsugakusha o chōsu (少年哲学者を弔す, dt. „Kondolenz für den Knabenphilosophen“)[4]
Des Weiteren verarbeitete er Fujimuras Tod und die Reaktionen darauf in seiner Kritik Tenjinron (天人論) von 1904.[2]
Literarische Verarbeitung fand er u. a. bei dem Romanautor Izumi Kyōka, der Fujimura als Modell für die Figur des Muraoka Fujita (村岡 不二太) in seinem Werk Fūryūsen (風流線) nahm.[8] Aber auch Natsume Sōseki, der sich als Fujimuras früherer Englischlehrer teilweise mitverantwortlich für dessen Tod fühlte,[9][1] sprach diesen Vorfall in seinem Werk Kusamakura an.[10][11]
Yūyū taru kana tenjō,
Ryōryō taru kana kokon,
Go-shaku no shōku o motte kono dai o hakarantosu.
Horēsho no tetsugaku tsui ni nanra no ōtoritē o atai suru mono zo.
Ban’yū no shinsō wa tada hito koto ni shite tsukusu,
Iwaku “fukakai”.
Ware kono urami o idaite hammon tsui ni shi o kessuru ni itaru.
Sude ni gantō tatsu ni oyonde
kyōchū nanra no fuan arunashi.
Hajimete shiru
dai naru hikan wa dai naru rakkan ni itchi suru o
How immense the universe is!
How eternal history is!
I wanted to measure the immensity with this puny five-foot body.
What authority has Horatio’s philosophy?*
The true nature of the whole creation.
Is in one word – “unfathomable.”
With this regret, I am determined to die.
Standing on a rock on the top of a waterfall.
I have no anxiety.
I recognize for the first time.
Great pessimism is nothing but great optimism.
Wie gewaltig das Universum ist!
Wie ewig die Geschichte ist!
Ich wollte jene Größe mit diesem kümmerlichen Fünf-Fuß-Körper messen.
Welche Autorität hat Horatios Philosophie?*
Die wahre Natur der gesamten Schöpfung.
Liegt in einem Wort – „unergründlich“.
Mit diesem Bedauern bin ich bestimmt zu sterben.
Auf einem Felsen über einem Wasserfall stehend.
Habe ich keine Angst.
Ich erkenne zum ersten Mal.
Großer Pessimismus ist nichts als großer Optimismus.
* Für diese Zeile mit „Horatio’s philosophy“ gibt es zwei Deutungen:
Üblicherweise wird sie in Verbindung mit der Ansprache von ShakespearesHamlet zu seinem Freund Horatio im 1. Akt, 5. Szene gesetzt: “There are more things in heaven and earth, Horatio. Than are dreamt of in your philosophy.” (dt. „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“)
Der Philologe für abendländische Klassik Itsumi Kiichirō identifiziert in seinem Buch Ratin-go no Hanashi (ラテン語のはなし. Taishūkan Shoten, 2000, ISBN 978-4-469-21262-4) Horatio mit dem römischen Dichter Horaz. Fujimura kritisiert damit dann Horaz’ epikureische Einstellung des carpe diem.
Hammonki
Im Mai 1907 erschien beim Verlag Yanagi Shobō das Buch Hammonki (煩悶記), das Fujimura vier Jahre nach seinem Tod geschrieben haben soll. In diesem beschreibt der angebliche Fujimura, dass er nicht Selbstmord beging, sondern sich versteckte, dann auf einem Piratenschiff um die Welt segelte und schließlich nach Frankreich ging. Das Buch wurde sofort nach Erscheinen von den Behörden verboten, einerseits um weitere Nachahmungstaten zu verhindern, andererseits wohl aber auch wegen seines sozialistisch-anarchistischen Inhalts. Von dem Buch sind lediglich drei noch erhaltene Kopien bekannt. Eine besitzt der Literaturkritiker Tanizawa Eiichi (谷沢 永一), bei dem man lange Zeit davon ausging, dass es das einzige noch erhaltene Exemplar sei. Ein weiteres besitzt der Literaturwissenschaftler Noma Sōshin (野間 光辰). Große Aufmerksamkeit erregte der Fund einer dritten Kopie, die beim Kanda-Furumoto-Bücherfestival 2005 für 1,47 Millionen Yen angeboten wurde.[13][14][15]
Siehe auch
Matsumoto Kiyoko, deren Selbstmord in einem Vulkan hunderte Nachahmer fand
Literatur
土門公記 (Domon Kōki): 藤村操の手紙-華厳の滝に眠る16歳のメッセージ. Shimotsuke Shimbunsha, 2002, ISBN 4-88286-175-5
↑ abcd藤村 操. In: 日本ペンクラブ:電子文藝館.Nihon PEN Club, 9. Februar 2005, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 26. Dezember 2014; abgerufen am 21. Februar 2010 (japanisch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.japanpen.or.jp
↑ abc
William N. Ridgeway: Gender, the Body, and Desire in the Novels of Natsume Sôseki (1867–1916), Focusing on Meian. 2002, hdl:10125/3034, S.176–177 (Dissertation an der University of Hawaiʻi at Mānoa).
↑
Shingo Shimada: Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und nationale Identitätskonstruktion. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-593-38224-1, S.93–100.
↑ abcLawrence Fouraker: “Voluntary Death” in Japanese History and Culture. (PDF) In: 2nd Global Conference on Dying and Death. 2003, S. 4–5, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 19. Januar 2015; abgerufen am 6. Juni 2010 (englisch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.inter-disciplinary.net, überarbeiteter Neuabdruck: Lawrence Fouraker: “Voluntary Death” in Japanese History and Culture. In: Asa Kasher (Hrsg.): Dying and Death. Inter-Disciplinary Perspectives. Editions Rodopi, Amsterdam 2007, ISBN 978-90-420-2245-4, S.159–160.
↑ ab
Charles Shirō Inouye: The Similitude of Blossoms. A Critical Biography of Izumi Kyōka (1873–1939), Japanese Novelist and Playwright. Harvard University Press, 1998, ISBN 0-674-80816-9, S.185 (Digitalisat bei Google Books).
↑Time of Composition I. Universitätsbibliothek Tōhoku, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 20. Oktober 2008; abgerufen am 6. April 2010 (englisch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.library.tohoku.ac.jp
↑
Mamoru Iga: The Thorn in the Chrysanthemum. Suicide and Economic Success in Modern Japan. University of California Press, Berkeley / Los Angeles / London 1986, ISBN 0-520-05648-5, S.157 (Google Books).
↑藤村操をかたり著述? 「煩悶記」に147万円の売値. In: asahi.com.Asahi Shimbun-sha, 15. Oktober 2005, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 28. Mai 2009; abgerufen am 1. Juni 2010 (japanisch).Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.asahi.com
Japanischer Name: Wie in Japan üblich, steht in diesem Artikel der Familienname vor dem Vornamen. Somit ist Fujimura der Familienname, Misao der Vorname.