Ethnomethodologie

Ethnomethodologie ist eine praktische Forschungsrichtung in der Soziologie, die von Harold Garfinkel in Kalifornien (USA) begründet wurde. Sie beschäftigt sich mit alltäglichen Interaktionen und untersucht soziale Tatsachen als Resultat von Interaktionsprozessen, wobei das Augenmerk auf den Methoden liegt, mit denen diese alltäglichen Interaktionen bewerkstelligt werden.

Die Bezeichnung „Ethnomethodologie“, die Garfinkel in den 1950ern aufbrachte, ist vage an die thematische Gliederung der Anthropologie angelehnt (und damit nur bedingt aus dem Griechischen abgeleitet): ethnos bezeichnet hier die Mitglieder einer Gruppe und ihr Wissen, methodologie steht für dessen systematische Anwendung in lokal-situativen Praktiken durch die Mitglieder selbst. Garfinkels 1967 erschienenes Buch Studies in Ethnomethodology, eine Sammlung aus empirischen Studien und theoretischen Überlegungen, gilt als Ursprungstext dieser Forschungsrichtung. Es gibt explizite Bezüge zum Werk des Phänomenologen Alfred Schütz[1] sowie des Wissenssoziologen Karl Mannheim.[2]

Vorgehensweisen und Fokus

Beim ethnomethodologischen Arbeiten kommt es darauf an, abstrakte Theorien über die soziale Wirklichkeit zu vermeiden. Stattdessen wird untersucht, mit welchen alltagspraktischen Handlungen diese soziale Wirklichkeit hergestellt wird (siehe auch Praxeologie). Ethnomethodologische Forschung liefert präzise Beschreibungen der Methoden, die von Mitgliedern einer Gesellschaft, Gruppe oder Gemeinschaft verwendet werden, um das zu tun, was auch immer sie tun. Das können hochspezialisierte, technische Tätigkeiten sein oder Verhalten im Alltag.

Für die Ethnomethodologie sind die formalen Strukturen praktischer Handlungen von Interesse, es soll weder psychologisiert noch über Absichten spekuliert werden. Jegliche Kategorien und Schemata, die zur Analyse von Handlungen dienen, sind nur dann sinnvoll anzuwenden, wenn nachweisbar ist, dass sich die Handelnden tatsächlich selbst an diesen Kategorien und Schemata orientieren. Dieser Bezug zur praktisch erfahrbaren Wirklichkeit verweist auf die Verwandtschaft der Ethnomethodologie zur Phänomenologie.[3]

Von der Ethnomethodologie besonders intensiv bearbeitete Forschungsfelder sind die Schwesterdisziplin Konversationsanalyse, die Arbeit[4] und Arbeitsplatzstudien[5] und Studien zur Wissenschafts-,[6] Rechts- und Medizinsoziologie oder auch Computer Supported Cooperative Work (CSCW). Maynard und Clayman geben einen Überblick über die Breite ethnomethodologischer Ansätze in der sozialwissenschaftlichen Forschung.[7] Einen weiteren Überblick bietet 1990 ein Sammelband von Jeff Coulter.[8] Den aktuellen internationalen Stand ethnomethodologischer Forschung versammeln Ruth Ayaß und Christian Meyer in der Anthologie Sozialität in Slow Motion erstmals in deutscher Übersetzung.[9]

Annahmen der Ethnomethodologie nach Garfinkel

  1. Die Sprache ist unpräzise, da sie von sogenannten okkasionellen („gelegentlichen“) oder indexikalen Ausdrücken durchzogen ist.
  2. Diese indexikalen Ausdrücke werden von den Teilnehmern im Interaktionsverlauf ständig interpretiert.
  3. Damit Interaktion flüssig verläuft, müssen die Teilnehmer auf Grundlage von Vertrauen in korrekte Interpretationsleistungen der anderen Teilnehmer handeln.
  4. Die Teilnehmer an der Interaktion interpretieren die Phänomene so, dass für sie nachvollziehbar Sinn entsteht – es findet ständig eine sinnhafte Normalisierung statt.
  5. Die sinnhafte Normalisierung wird interaktiv hergestellt, aktiv aufrechterhalten und mitunter sozial eingefordert (siehe Krisenexperimente).

Aus diesen methodologischen Annahmen ergab sich zum einen der methodische Ansatz des Krisenexperiments sowie zum anderen die Erkenntnis, dass Wissenschaft ihren herausgehobenen, objektiven Standpunkt nicht beibehalten kann, da sie ebenfalls auf Sprache rekurrieren muss, die wiederum von indexikalen Ausdrücken durchzogen ist. Hieraus ergibt sich das (mal schwächer, mal stärker ausgeprägte) Selbstverständnis einiger Ethnomethodologen, nicht eigentlich Wissenschaft, sondern vielmehr Handwerk zu betreiben.

Der häufig genannte Begriff der „handlungstheoretischen Orientierung“ der Ethnomethodologie ist eine Zuschreibung, die vor allem seitens Soziologien anderer Disziplinen vorgenommen wird.

Im Hinblick auf soziale Ordnung ist für die Ethnomethodologie nicht die Verbindlichkeit und Stärke von moralischen Normen entscheidend, wie dies Émile Durkheim oder Talcott Parsons angenommen hatten, sondern die innere Konstruktion (Interpretation) in Relation zu persönlich favorisierten Auslegungsvarianten von sozialen Normen in der jeweiligen Interaktion; die genaue Funktionsweise bleibt in der Ethnomethodologie ungeklärt.[10]

Grundbegriffe

Ethnomethodologische Indifferenz

Indifferenz (übersetzt aus dem englischen indifference: „Gleichgültigkeit, Beiläufigkeit“) meint, dass kein Forschungsgegenstand einem anderen prinzipiell vorzuziehen ist.[11] Vorerfahrungen des Forschenden werden unterdrückt (oder „phänomenologisch ausgeklammert“). Die Verfahren zum Beschreiben, Analysieren und Darstellen richten sich immer nach den sich lokal stellenden Anforderungen. Alles ist gleichermaßen interessant oder uninteressant: Immer geht es um die echtzeitliche Produktion von Sinn in einem intersubjektiv geteilten Zusammenhang.

Nach Maßgabe der ethnomethodologischen Indifferenz gibt es keine bevorzugten Forschungsgebiete oder Themen: „Wie ein Fest abgesagt wird“ oder „Wie jemand Jazz spielen gelernt hat“ sind genauso legitime Untersuchungsgegenstände wie „Das Fahren von 18-Tonnern auf Fernstraßen“ oder „Das praktische Durchführen von Untersuchungen der empirischen Sozialforschung“ – Forscher können lernen und darstellen, wie es gemacht wird, indem sie hingehen und „beobachten, wie es gemacht wird“. Es findet keine Modellierung nach Art einer Theorie statt.

Krisenexperimente

Krisenexperimente werden häufig stereotypisch als die Methode der Ethnomethodologie gekennzeichnet; dabei beschränkte sich die Zeit, in der Garfinkel und Kollegen diese Experimente durchführten, vor allem auf die 1960er Jahre.[12] Sie sind weniger Experiment als vielmehr „Hilfestellungen für eine langsame Vorstellungskraft“. Sie sollen dem Soziologen helfen, die Basisregeln des Alltags zu erkennen, indem Akteure, die vor unerwartete Situationen gestellt wurden, dazu gezwungen wurden, zu erklären, was vor sich geht. An dieser Stelle führt Garfinkel den Begriff des accounting ein („Rechenschaft ablegen, darstellen, erklären“), der in der Ethnomethodologie eine besondere Rolle spielt.[13]

Tatsächlich hat Garfinkel den Begriff „Krisenexperiment“ nicht selbst verwendet. In den Krisen wird gezeigt, dass die Stabilität sozialer Normen in der Interaktion in beständig geleisteter Arbeit der Interaktanten besteht. Die Selbstverständlichkeit der funktionierenden Interaktion ist eine soziale Leistung der Beteiligten. Später nutzte Garfinkel sogenannte „tutorial exercises“ in der Lehre, um seinen Studenten zu demonstrieren, dass Erlebnisse durch praktische Handlungen hervorgebracht werden.[14]

Durkheims Aphorismus

Émile Durkheim empfahl, dass soziale Tatbestände als Dinge behandelt werden sollen. Üblicherweise wird das so verstanden, dass die Objektivität sozialer Tatsachen als gegeben angesehen wird und damit die Basis aller soziologischen Analyse stellt. In der Lesart von Garfinkel und Harvey Sacks hingegen stellt sich diese Objektivität sozialer Tatbestände als intersubjektiv hergestelltes Produkt interaktiver Arbeit dar.[15] Die prozesshafte Herstellung sozialer Tatbestände selbst wird so zum Forschungsgegenstand.

Literatur

  • Heinz Abels: Interaktion, Identität, Repräsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie. 3. Auflage. Wiesbaden 2004.
  • Jörg R. Bergmann, Christian Meyer (Hrsg.): Ethnomethodologie reloaded. Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. trancript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5438-7 (Open Access).
  • Ruth Ayaß, Christian Meyer (Hrsg.): Sozialität in Slow Motion – Theoretische und empirische Perspektiven. VS Verlag, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-18346-6.
  • Daniela Böhringer, Ute Karl, Hermann Müller, Wolfgang Schröer, Stephan Wolff: Den Fall bearbeitbar halten. Gespräche mit jungen Menschen. Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit. Band 13, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2012, ISBN 978-3-86649-451-0.
  • Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Polity Press / Blackwell Publishing, Malden/MA 1984/1967, ISBN 0-7456-0005-0.
  • Karin Knorr Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.
  • Michael Parmentier: Ethnomethodologie. In: D. Lenzen (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. Band 1, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989.
  • Werner J. Patzelt: Grundlagen der Ethnomethodologie : Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. Wilhelm Fink Verlag, München 1987, ISBN 3-7705-2444-6.
  • Dirk vom Lehn: Harold Garfinkel. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2012, ISBN 978-3-89669-662-5.
  • Elmar Weingarten, Fritz Sack, Jim Schenkein: Ethnomethodologie : Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-518-07671-X.
  • Nicholas C. Mullins: Ethnomethodologie: Das Spezialgebiet, das aus der Kälte kam. In: Wolf Lepenies (Hrsg.): Geschichte der Soziologie. Band 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.

Einzelnachweise

  1. Vergleiche beispielsweise Harold Garfinkel, Harvey Sacks: On formal structures of practical actions. In: Harold Garfinkel (Hrsg.): Ethnomethodological studies of work. 1986, S. 162–163 (erstveröffentlicht 1969; deutsch: Über formale Eigenschaften praktischer Handlungen. In: E. Weingarten u. a.: Ethnomethodologie: Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. 1976, S. 130–176.)
  2. Ralf Bohnsack: Mannheims Wissenssoziologie als Methode. In: Dirk Tänzler (Hrsg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. UVK, Konstanz 2006, ISBN 978-3-89669-697-7, S. 271–291.
  3. Dirk vom Lehn: Harold Garfinkel. UVK, Konstanz 2012, ISBN 3-89669-662-9.
  4. Harold Garfinkel (Hrsg.): Ethnomethodological Studies of Work. Routledge & Kegan Paul, London 1986/1969, ISBN 0-7100-9664-X.
  5. Paul Luff, Jon Hindmarsh, Christian Heath (Hrsg.): Workplace studies: recovering work practice and informing system design. Cambridge University Press, Cambridge/New York 2000, ISBN 0-521-59821-4.
  6. Harold Garfinkel, Eric Livingston, Michael Lynch: The Work of a Discovering Science construed with Materials from the Optically Discovered Pulsar. In: Philosophy of the Social Sciences. Band 11, Nr. 2, 1981, S. 131–158.
  7. Douglas Maynard, Steven E. Clayman: The Diversity of Ethnomethodology. In: Annual Review of Sociology. Band 17, 1991, S. 385–418.
  8. Jeff Coulter (Hrsg.): Ethnomethodological Sociology. Edward Elgar, Aldershot 1990, ISBN 1-85278-150-5.
  9. Ruth Ayaß, Christian Meyer (Hrsg.): Sozialität in Slow Motion: Theoretische und empirische Perspektiven. VS Verlag, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-18346-6.
  10. Heinz Abels: Ethnomethodologie. In: Georg Kneer, Markus Schroer (Hrsg.): Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden 2009, S. 88/89.
  11. Harold Garfinkel, Harvey Sacks: On formal structures of practical actions. In: Harold Garfinkel (Hrsg.): Ethnomethodological studies of work. 1986, S. 166 (englisch).
  12. Harold Garfinkel: A Conception of and Experiments with ‘Trust’ as a Condition of Stable Concerted Actions. In: O. Harvey (Hrsg.): Motivation and Social Interaction. Ronald Press, New York 1963, S. 187–238 (englisch).
  13. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Polity Press, Oxford 1967 (englisch).
  14. Harold Garfinkel: Ethnomethodology’s Program: Working Out Durkheim's Aphorism. Hrsg.: Anne Rawls. Roman & Littlefield, Lanham / Boulder / New York / Oxford 2002, ISBN 0-7425-1642-3 (englisch).
  15. Harold Garfinkel, Harvey Sacks: On formal structures of practical actions. In: Harold Garfinkel (Hrsg.): Ethnomethodological studies of work. 1986, S. 160/161 (englisch).