Nachama wurde als Sohn des Getreidehändlers Menachem Nachama und seiner Frau Oro im nordgriechischen Saloniki (Thessaloníki) geboren; er entstammt einer Familie sephardischerJuden, die 1492 aus Spanienvertrieben wurden und ins Osmanische Reich geflüchtet waren. Etliche von Nachamas Vorfahren waren bedeutende Rabbiner und Talmudgelehrte, und die Erinnerung an die verlorengegangene iberische Heimat wurde in der Familie über Jahrhunderte gepflegt: Bis zur Enteignung jüdischen Besitzes in Griechenland während der deutschen Okkupation bestand bei den Nachamas der Brauch, den Schlüssel des ehemaligen Hauses in Spanien vom Vater auf den ältesten Sohn weiterzuvererben.
Leben bis zur Shoa
Nach dem Besuch der jüdischen Elementarschule und des Französischen Gymnasiums trat Estrongo Nachama in das väterliche Geschäft ein und wurde Kantor der Synagoge in Thessaloniki. Im Zweiten Weltkrieg wurde er zur griechischen Armee einberufen, die im Frühjahr 1941 innerhalb weniger Wochen von der deutschen Wehrmacht geschlagen wurde. Die Stadt Saloniki fiel dabei am 9. April.
Im Frühjahr 1943 wurde die gesamte Familie Nachama nach Auschwitzdeportiert, wo Nachama die Häftlingsnummer 116155 auf den linken Unterarm tätowiert wurde. Seine Eltern, seine Schwestern Matilde und Signora und seine Braut Regina wurden ermordet. Estrongo Nachamas sängerisches Talent und die Schönheit seiner Baritonstimme fielen nicht nur seinen Mitgefangenen, sondern auch den Wachmannschaften auf. Er war zeitlebens davon überzeugt, dass sein Gesang es war, der es ihm ermöglicht hatte, nicht nur Auschwitz, sondern auch den Todesmarsch der Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen zu überleben. Am 5. Mai 1945 befreite ihn die Rote Armee in der Nähe von Nauen; Estrongo Nachama feierte von nun an dieses Datum als seinen „zweiten Geburtstag“.
Berlin als neue Heimat
Estrongo Nachama begab sich ins nahe gelegene Berlin ursprünglich nur mit dem Vorsatz, dort wieder zu Kräften zu kommen, bevor er in seine Heimat zurückkehren konnte. In den Wirren der ersten Nachkriegswochen erwies sich die Umsetzung dieses Vorhabens als schwierig. In dieser Zeit lernte Nachama seine spätere Frau Lilli kennen, die die NS-Diktatur im Versteck überlebt hatte. Über sie kam er in Kontakt zur jüdischen Gemeinde Berlins, die ihrerseits auf das außergewöhnliche Potential des jungen Griechen als Sänger aufmerksam wurde. Er sang bei Erich Nehlhans vor, der in der Gemeinde u. a. für Kultusangelegenheiten zuständig war, und wurde angestellt.
Kantor im Berlin der Nachkriegszeit
Die Verheerungen der Shoa hatten die Jüdische Gemeinde zu Berlin zwar nahezu vollständig vernichtet, doch bemühte man sich nach Kräften, die Tradition der Stadt als eines der bedeutenden Zentren aschkenasischer Kultur lebendig zu erhalten. Für Nachama bedeutete dies zunächst eine erhebliche Herausforderung, da er sich als Sepharde erst in die ihm fremde Ästhetik der liturgischen Musik in den mitteleuropäischen Synagogen einarbeiten und einfühlen musste.
Nachamas Wirken als „Brückenbauer“
Seit 1948 war Estrongo Nachamas Stimme mindestens einmal wöchentlich im RIAS, später im Deutschlandradio zu hören, wenn dort am Freitag die Sabbatfeier mit dem RIAS Kammerchor übertragen wird. Auf diesem Wege wurde seine Stimme schnell auch den nichtjüdischen Berlinern bekannt.
Außerdem betreute er den Gottesdienst der jüdischen Angehörigen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in der Synagoge am Hüttenweg. Seine griechische Staatsbürgerschaft ermöglichte es ihm, selbst nach der Teilung Berlins 1961 ungehindert in den Ostteil der Stadt einzureisen und den dortigen Teil der Gemeinde, vor allem in der Synagoge in der Rykestraße im Prenzlauer Berg, zu besuchen. Seit 1957 unterstützte ihn Kantor Leo Roth, der, da aus Österreich stammend, ähnliche Freizügigkeit genoss.
Durch etliche Platteneinspielungen (unter anderem auch mit dem RIAS-Kammerchor) und Auftritte in Europa, Israel und den USA erlangte Nachama internationale Beachtung. Diese für einen Kantor ungewöhnliche Popularität nutzte er häufig für sein Engagement im Sinne der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen. Bezeichnend für dieses lebenslange Eintreten für den interreligiösen Dialog ist der Umstand, dass einer von Estrongo Nachamas letzten großen Gesangsauftritten im April 1998 im Berliner Dom stattfand. Zum 80. Geburtstag Nachamas verfasste Wolfgang Kohrt ein Porträt des Kantors für die Berliner Zeitung.[1]
Estrongo Nachama wurde auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Berlin beigesetzt.
Am 16. Februar 2024 wurde in Berlin-Dahlem ein Platz nach ihm benannt.
Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz
Der Estrongo Nachama Preis für Toleranz und Zivilcourage wird von der Berliner Stiftung Meridian seit 2013 in Gedenken an Estrongo Nachama vergeben.[5][6]
Schabbat-Feier. Oberkantor Estrongo Nachama Live. Chor der Synagoge Herbartstraße, Orgel und Leitung: Monika Almekias-Siegl
Es tönt von der Erde zum Himmel empor. Gebetsgesänge für die Neue Synagoge. Oberkantor Estrongo Nachama, RIAS Kammerchor, Leitung: Uwe Gronostay, Orgel: Harry Foss
Esther Slevogt: Die Synagoge Pestalozzistrasse. „Deinem Hause gebühret Heiligkeit, Ewiger, Für alle Zeiten.“ Mit einer CD (= Hermann Simon [Hrsg.]: Jüdische Miniaturen. Band127). Hentrich & Hentrich, Berlin 2012, ISBN 978-3-942271-68-4.
Rabbiner Andreas Nachama (Hrsg.): Shema tefilatenu: Gebete für den jüdischen Fest- und Lebenszyklus; für den Gebrauch in Synagoge, Schule und Haus; aus der Sammlung von Oberkantor Estrongo Nachama. Mit einer Einleitung von Andreas Nachama und Geleitwort von Walter Homolka (= Jüdische Merkbücher. Band1). Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, ISBN 978-3-95565-058-2.
Katerina Oikonomakou: Der Sänger von Auschwitz. Estrongo Nachama. Kapon Editions, Athen 2017, ISBN 978-6-18520913-1 (griechisch, Online [abgerufen am 26. Februar 2018]).
↑Michael Brenner: Nach dem Holocaust (= Beck’sche Reihe). C.H.Beck, München 1995, ISBN 978-3-406-39239-9, S.155 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 17. Februar 2018]).
↑Berlin am 27. November (1995). In: Tagesfakten.Luisenstädtischer Bildungsverein, abgerufen am 17. Februar 2018: „Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen überreicht im Roten Rathaus (Mitte) dem jüdischen Kantor Estrongo Nachama das Große Bundesverdienstkreuz. Nachama war seit 1947 Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.“
↑Käßmann mit Preis für Zivilcourage und Toleranz geehrt. Reformationsbotschafterin Margot Käßmann ist am Montagabend in Berlin mit dem Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz geehrt worden. In: evangelisch.de. Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik gGmbH, 6. September 2016, abgerufen am 4. Juni 2018.
↑Auszeichnung für Götz Aly. Der Politologe und Historiker erhält den Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz. In: juedische-allgemeine.de. 18. April 2018, abgerufen am 4. Juni 2018.