Die Gasse der dunklen Läden

Buchcover im Original

Die Gasse der dunklen Läden (französischer Originaltitel: Rue des Boutiques Obscures) ist ein Roman des französischen Schriftstellers Patrick Modiano. Er erschien im Jahr 1978 in der Programmreihe Collection Blanche der Éditions Gallimard. Die deutsche Übersetzung von Gerhard Heller erschien zuerst 1979 im Propyläen Verlag. Diese Übersetzung wurde auch für spätere deutsche Ausgaben des Romans in anderen Verlagen genutzt: 1984 im Aufbau Verlag und seit 1988 in diversen Ausgaben im Suhrkamp Verlag.

Inhalt

Paris im Herbst 1965. „Guy Roland“ nennt sich ein Mann, der vor langer Zeit sein Gedächtnis verloren hat. Selbst an den eigenen Namen und seine Herkunft kann er sich nicht mehr erinnern. Bisher hat er in einer kleinen Privatdetektei gearbeitet, aber als diese jetzt schließt – damit setzt die Handlung ein –, begibt er sich auf die Suche nach der eigenen Identität.

Schritt für Schritt, von einer Begegnung zur nächsten, fügt sich ein Bild zusammen. Die Spur führt ihn in die 1940er Jahre, in die Zeit der deutschen Okkupation Frankreichs. Zunächst gibt es eine falsche Fährte: Nein, er ist nicht, wie zuerst vermutet, Freddie Howard de Luz, aber er war mit diesem Freddie befreundet. Die Dinge verkomplizieren sich, da er gleich zwei Namen geführt hat, seinen wirklichen: Jimmy Pedro Stern, und einen Decknamen: Pedro McEvoy. Mehr und mehr setzen einzelne Erinnerungen ein, schließlich kann er das Ereignis, das seine Amnesie ausgelöst hat, wachrufen.

Anfang der 1940er Jahre war er mit seiner Frau Denise und mit Freddie und dessen Frau aus Paris nach Megève geflohen. Bei dem Versuch, von dort aus über die Grenze in die Schweiz zu gelangen, waren Pedro und Denise an die falschen Leute geraten. Wie Pedro überlebt hat, bleibt ungeklärt; Denise blieb für immer verschwunden, vermutlich ermordet.

Pedro kann sich an Einzelheiten ihrer Flucht und ihres Aufenthalts in Megève erinnern, und dennoch bleibt eine Unsicherheit. Aus all den Nachforschungen, Fetzen und Bruchstücken von Erinnerungen „wird am Ende vielleicht ein Leben“, schreibt er, aber „ob es sich um das meine handelt? Oder um das eines anderen, in das ich geschlüpft bin?“[1]

Hintergrund

Der Titel

Mehrere Kapitel enthalten nur stichwortartig einzelne Informationen zu den Figuren der Handlung. Auf solch einer „Karteikarte“ zur Hauptfigur, Jimmy Pedro Stern, heißt es, er habe auf dem Meldezettel eines Hotels als seine Adresse angegeben: „Via delle Botteghe Oscure 2“ (Gasse der dunklen Läden, Nr. 2) in Rom.

Anzunehmen ist, dass Modiano mit dem Titel seines Romans auch einen Hinweis auf ein Buch eines Schriftstellerkollegen verbinden wollte. Georges Perec hatte fünf Jahre zuvor, 1973, das Buch La Boutique obscure veröffentlicht.

Der Übersetzer: Gerhard Heller

Gerhard Heller, Jahrgang 1909, war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als Verleger tätig und später ein gefragter Übersetzer. In den Jahren der deutschen Okkupation Frankreichs, von 1940 bis 1944, war er in der sogenannten Propaganda-Staffel und dann in der Deutschen Botschaft in Paris für den Bereich Literatur verantwortlich und damit u. a. auch für die Buchzensur zuständig.

Über die Problematik, dass jemand mit dieser Vergangenheit der Übersetzer eines Autors wird, in dessen Werk allgemein und in dem zu übersetzenden Buch speziell die Okkupationszeit eine zentrale Rolle spielt, war Heller selbst sich im klaren. Es entwickelte sich kurzzeitig sogar eine Korrespondenz zwischen Autor und Übersetzer.[2]

Das Thema Amnesie

Patrick Modiano: „Ich habe mich schon immer mit Amnesie beschäftigt, einem Thema, das in der Literatur von Giraudoux und Anouilh behandelt wurde und das mir vor allem im amerikanischen Film Noir aufgefallen war. Den Anstoß gab mir ein Film von Mankiewicz. ... Das ist ein Thema, das mich schon immer verfolgt hat.“[3]

Einige reale Personen

Innerhalb seiner Fiktion lässt Modiano einige reale Personen auftreten:

  • (real) Porfirio Rubirosa: (fiktiv) Pedro war dessen Sekretär und Freund.
  • (real) Freddie McEvoy[4]: (fiktiv) Freddie Howard de Luz und Pedro McEvoy.
  • (real) Galina „Gay“ Orloff[5]: (fiktiv) Freddie Howard de Luz war mit ihr verheiratet.
  • (real) Alexandre „Alec“ Scouffi[6]: (fiktiv) Denise hatte eine Wohnung in dem Haus, in dem Scouffi ermordet wurde: 27, rue de Rome, Paris XVII.

Auszeichnung

Der Roman wurde 1978 mit dem französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet.

Ausgaben

  • Patrick Modiano: Rue des Boutiques Obscures. Éditions Gallimard, Paris 1978, ISBN 978-2-07-028383-5.
  • Patrick Modiano: Die Gasse der dunklen Läden. Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1979, ISBN 978-3-549-05576-2.
  • Patrick Modiano: Die Gasse der dunklen Läden. Aufbau Verlag (Edition Neue Texte), Berlin (DDR) 1984.
  • Patrick Modiano: Die Gasse der dunklen Läden. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-46617-9.

Literatur

  • Patrick Modiano: Ein Stammbaum. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München 2007, ISBN 978-3-446-20922-0.
  • Dominique Rabaté: Identification d’un homme. In: Maryline Heck, Raphaëlle Guidé (Redaktion), Patrick Modiano, Les Cahiers de l’Herne, 2012, S. 206–209. (Französisch.)

Einzelnachweise

  1. Alle Zitate sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, entnommen aus: Patrick Modiano: Die Gasse der dunklen Läden, Suhrkamp 2014 (s. Ausgaben).
  2. Sechs Briefe Hellers an Modiano aus den Jahren 1979 bzw. 1981 sind abgedruckt in: Maryline Heck, Raphaëlle Guidé (Redaktion), Patrick Modiano, Les Cahiers de l’Herne, 2012, S. 206–209.
  3. Patrick Modiano, am 9. Mai 2013 in der Libération aus Anlass der Veröffentlichung einer Sammlung von zehn seiner Romane: „J’ai toujours tâtonné autour de l’amnésie, un thème traité en littérature par Giraudoux ou Anouilh et qui m’avait surtout frappé dans les films noirs américains. C’est un film de Mankiewicz qui m’a donné l’impulsion. ... C’est un thème qui m’a toujours poursuivi.“ (online verfügbar auf liberation.fr vom 9. Mai 2013; französisch; abgerufen am 4. März 2022).
  4. Patrick Modiano, in Ein Stammbaum (s. Literatur): „Die Personen, die ich unter all jenen, mit denen er (mein Vater) damals verkehrte, identifiziert habe, sind ... Freddie McEvoy, ein australischer Bobchampion und Autorennfahrer, mit dem er sich kurz nach dem Krieg ein ‚Büro‘ auf den Champs-Élysées teilte.“
  5. Patrick Modiano, in Ein Stammbaum (s. Literatur): „Bevor sie in die kalte Nacht des Vergessens verschwindet, möchte ich noch eine andere Russin erwähnen, die zu jener Zeit seine (meines Vaters) Freundin war, Galina, genannt ‚Gay‘ Orloff. Sie war in sehr jungen Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Mit zwanzig tanzte sie in Florida in einer Revue, und da hatte sie einen kleinen dunkelhaarigen, sehr gefühlvollen und sehr höflichen Mann kennengelernt, dessen Geliebte sie geworden war: Lucky Luciano.“
  6. „Scouffi war Literat, er veröffentlichte zahlreiche Artikel in verschiedenen Zeitschriften, dazu Gedichte aller Art und zwei Romane: Hotel Zum Goldfisch und Schiff vor Anker.“ (Zutreffend in: Die Gasse der dunklen Läden, Suhrkamp 2014, S. 104.)