Christus, der ist mein Leben ist ein geistliches Lied, das erstmals 1609 mit zwei unterschiedlichen Chorsätzen von Melchior Vulpius veröffentlicht wurde,[1] der vermutlich auch die Melodieⓘ/? komponierte.
Der Textdichter ist nicht bekannt. Einer älteren, offenbar nicht zu belegenden Tradition zufolge soll der Text um 1600 von einer Gräfin Anna von Stolberg verfasst worden sein.[2][3]Christian Wilhelm Anton Stromberger hält diese für die Äbtissin Anna III. zu Stolberg (1565–1601).[4] Andere Autoren identifizieren diese Dichterin mit Adriana von Stolberg geb. Mansfeld-Arnstein (1559–1625), Gemahlin von Graf Heinrich XI. zu Stolberg-Stolberg (1551–1615).[5][6][7] In älteren Gesangbüchern wird der Text gelegentlich fälschlich Simon Graf (1603–1659) zugeschrieben, der zum Zeitpunkt des Erstdrucks allerdings erst sechs Jahre alt war.
Im Evangelischen Gesangbuch steht das Lied unter der Nummer 516 zu Beginn des Abschnitts „Sterben und ewiges Leben“, im katholischen Gotteslob unter der Nr. 507 (GLalt 662) im Abschnitt „Tod und Vollendung“.
Die Melodie entwickelte sich zu einer „Hauptmelodie des protestantischen Gemeindegesangs“:[8] Auf sie werden auch die Lieder Ach bleib mit deiner Gnade (Text: Josua Stegmann 1627; EG 347; GL 436) und Nun schreib ins Buch des Lebens (Text: Straßburg 1850; EG 207) gesungen. Katholischen Gottesdienstbesuchern ist die Melodie auch von dem Lied Beim letzten Abendmahle bekannt (Text: Christoph von Schmid 1807; GL 282, GLalt 537).
1. CHristus der ist mein Leben
Sterben ist mein Gewin /
Dem thu ich mich ergeben
Mit Fried fahr ich dahin.
2. Mit Freud fahr ich von dannen
Zu Christ dem Bruder mein /
Auff daß ich zu ihm komme
Vnd ewig bey ihm sey.
3. Ich hab nun vberwunden
Creutz / Leiden / Angst vnd Noth
Durch sein heylig fünff Wunden
Bin ich versöhnt mit Gott.
4. Wenn meine Kräffte brechen
Mein Athem geht schwer auß /
Und kan kein Wort mehr sprechen
HErr nim mein Seufftzen auff.
5. Wenn mein Hertz vnd Gedancken
Zergehn als wie ein Liecht /
Das hin vnd her thut wancken
Wenn ihm die Flam gebricht.
6. Als denn fein sanfft vnd stille
Herr laß mich schlaffen ein /
Nach deinem Rath vnd Willen
Wenn kömpt mein Stündelein.
7. Vnd laß mich an dir kleben
Wie ein Klette am Kleid /
Vnd ewig bey dir leben
In himlischr Wonn vnd Freud.[1]
Heute verbreitete Fassung
Christus, der ist mein Leben,
Sterben ist mein Gewinn;
ihm will ich mich ergeben,
mit Fried fahr ich dahin.
Mit Freud fahr ich von dannen
zu Christ, dem Bruder mein,
auf daß ich zu ihm komme
und ewig bei ihm sein.
Ich hab nun überwunden
Kreuz, Leiden, Angst und Not;
durch seine heilgen Wunden
bin ich versöhnt mit Gott.
Wenn meine Kräfte brechen,
mein Atem schwer geht aus
und kann kein Wort mehr sprechen:
Herr, nimm mein Seufzen auf.
Wenn mein Herz und Gedanken
zergehen wie ein Licht,
das hin und her tut wanken,
wenn ihm die Flamm gebricht:
alsdann laß sanft und stille,
o Herr, mich schlafen ein
nach deinem Rat und Willen,
wenn kommt mein Stündelein.
In dir, Herr, laß mich leben
und bleiben allezeit,
so wirst du mir einst geben
des Himmels Wonn und Freud.[9]
Inhalt
Das Sterbelied Christus, der ist mein Leben lässt sich inhaltlich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil (Strophen 1–3) stellt ein Glaubensbekenntnis dar, das den Grundgedanken von Phil 1,21 Lut zitiert und möglicherweise nach dem Vorbild von Martin LuthersNunc-dimittis-Paraphrase Mit Fried und Freud ich fahr dahin (1524) gestaltet ist. Aus der Perspektive des Sterbenden wird Christus in mehrfacher Hinsicht als Grund der Hoffnung bekannt, nämlich als gegenwärtiges Leben, als letztes Ziel und als Überwinder des Todes.
Der zweite Teil (Strophen 4–7) ist als persönliches Gebet formuliert, in dem Christus um Beistand im Sterben angeflehrt wird, und das seinen Ausgangspunkt sowohl in biblischen Gedanken (Apg 7,58 Lut, Röm 8,26 Lut) wie auch im barockenVanitas-Motiv hat.
Das Bild von der Klette am Kleid wurde in späteren Zeiten als missverständlich oder anstößig empfunden, weswegen die siebte Strophe auch in der Gesangbuchrestauration des 19. Jahrhunderts nicht original wiederhergestellt, sondern durch alternative Dichtungen ersetzt wurde.[10] Im Evangelischen Gesangbuch von 1995 entschied man sich hier zum Abdruck der ökumenischen Fassung, die erstmals 1975 im katholischen Gotteslob veröffentlicht wurde.[8]
Georg Philipp Telemann nahm das Lied als Basis seiner gleichnamigen ChoralkantateTWV 1:138,[11] die zwischen 1747 und 1754 als Auftrag der Stadt Danzig entstand. Telemann vertonte den gesamten Text, der quasi als Doxologie um eine achte Strophe („Wohl in des Himmels Throne / sing ich Lob, Ehr und Preis, / und ewig bei dir wohne, / Vater, Sohn, Heilger Geist.“) erweitert wurde; zwischen den Strophen sind kommentierende Rezitative eines unbekannten Dichters eingeschoben.[12]
Michael Fischer: 516 – Christus, der ist mein Leben. In: Gerhard Hahn, Jürgen Henkys (Hrsg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Band9. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-50332-6, S.57–62.
Johannes Zahn: Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder. Band 1. Bertelsmann, Gütersloh 1889, S. 37, Nr. 132 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
↑Eduard Emil Koch: Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs. Zweiter Hauptteil: Die Lieder und Weisen. Band 8. Neu bearbeitet von Richard Lauxmann. 3. Auflage. Belser, Stuttgart 1876, S. 614–618 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
↑Philipp Schaff (Hrsg.): Deutsches Gesangbuch: eine Auswahl geistlicher Lieder aus allen Zeiten der christlichen Kirche für kirchlichen und häuslichen Gebrauch. Kohler & Söhne, Philadelphia 1893, S. 810 f., Nr. 451 (online bei hymnary.org).
↑Christian Wilhelm Anton Stromberger: Geistliche Lieder evangelischer Frauen der 16., 17. u. 18. Jahrhunderts. Ricker’sche Buchhandlung, Gießen 1854, S. 23–26 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
↑Johannes Müller: „Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“. In: Neues sächsisches Kirchenblatt. 1930, Nr. 5 vom 2. Februar 1930, ZDB-ID 544586-3, Sp. 69–72 (archive.org).
↑Walter Schulz: Reichssänger. Schlüssel zum deutschen Reichsliederbuch. Ott, Gotha 1930, S. 214.
↑Jean M. Woods, Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Metzler, Stuttgart 1984, ISBN 3-476-00551-8, S. 123 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
↑Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. Evangelischer Presseverband für Bayern, München 1995, ISBN 3-583-12100-7, S. 907 f., Nr. 516.
↑Ute Poetzsch (Hrsg.): Georg Philipp Telemann. Christus, der ist mein Leben. Choralbearbeitung TVWV 1:138. Klavierauszug. Bärenreiter, Kassel usw. 2016, ISMN979-0-006-56305-0(Suche im DNB-Portal), Vorwort S. IV f.