Baubo erscheint darin als eine Einheimische (wörtlich: γηγενεῖς[1]) von Eleusis, der heutigen Stadt Elefsina.
Sie ist mit Dysaules verheiratet und die Mutter von Triptolemos und Eubuleus,[2] sowie der Töchter Protonoe und Nesa (oder Nisa)[3] oder nach der Lesung von Karl Müller der Mise.[4]
Aus ihrer Rolle im eleusinischen Mysterienkult ergibt sich auch Baubos Aufgabe als Begleiterin der Demeter: Nach der Entführung ihrer Tochter Persephone durch den Unterweltsgott Hades trauert Demeter und wird von Baubo durch obszöne Scherze aufgemuntert. Zu diesen Scherzen gehörte auch das Entblößen der Vulva (Anasyrma).[5]
Bei Arnobius wird beschrieben,[6] wie Baubo, eine Einwohnerin von Eleusis, die von der Suche nach ihrer Tochter völlig erschöpfte Demeter (Ceres bei Arnobius) bei sich aufnimmt, sie bittet, sich nicht ganz zu vernachlässigen, ihr Kykeon bringt, einen Mischtrank aus Wein und Getreide, den die Göttin aber ablehnt und sich in keiner Weise in ihrer Trauer ermuntern lässt. Da greift Baubo zu anderen Mitteln: Sie geht und macht ihren Unterleib glatt und weich wie ein Kind (d. h. wohl, dass sie die Schambehaarung rasiert), dann kehrt sie zurück, beginnt Scherze zu treiben und deckt schließlich ihren glatten Unterleib auf.
Sprach’s und raffte empor die Gewänder und zeigte
die ganze Bildung des Leibs und schämte sich nicht.
Und der kleine Iakchos
Lachte und schlug mit der Hand der Baubo unter die Brüste.[8]
Wie nun die Göttin dies merkte,
da lächelte gleich sie von Herzen,
Nahm dann das blanke Gefäß, in dem ihr der Mischtrank gereicht war.[9]
Terrakottafiguren
Als kunstgeschichtlicher Begriff werden als Baubo-Figurinen oder kurz Baubos eine Gruppe relativ kleiner Terrakotta-Figurinen bezeichnet, die vorwiegend aus dem griechisch-römischen Ägypten stammen und kauernde Frauen mit entblößter Vulva zeigen. Man vermutet, dass sie dem Kult der Isis bzw. der synkretistischen Verschmelzung von Isis und Demeter sowie von Osiris und Dionysos zuzuordnen sind.[11] Die Bezeichnung geht wohl auf eine von Margaret Murray in einem Artikel über Darstellungen weiblicher Fruchtbarkeit geprägte Klassifizierung zurück.[12]
Einige Terrakottafiguren aus dem Demeter-Heiligtum von Priene zeigen Frauen mit nacktem Unterleib, der als Gesicht gestaltet ist.[10]
Nach Ansicht anderer hatten die ihr zugeordneten Kulthandlungen apotropäische Bedeutung. So bemerkt Arnobius ausdrücklich, dass die Geste der Baubo als Parallele und Entsprechung zur Präsentation des Phallos im Kult des Dionysos zu sehen ist. Dementsprechend hat man gefolgert, dass die Baubo-Darstellung (also Frauenbildnisse mit entblößtem Unterleib, meist mit weit gespreizten Schenkeln) eine apotropäische Vulva sei, so wie das Fascinum ein apotropäischer Phallos ist.[13]
Es wurde spekuliert, ob der Scherz der Baubo darin bestand, dass sie sich ein Bauchgesicht aufgemalt hat und dieses Gesicht das im orphischen Fragment erwähnte (bartlose) Kind Iakchos sei.[15]
Ebenso wird überlegt, ob sich Iakchos unter Baubos Gewand befand.[1]
Stimme.
Die alte Baubo kommt allein,
Sie reitet auf einem Mutterschwein.
Chor.
So Ehre dem, wem Ehre gebürt!
Frau Baubo vor! und angeführt!
Ein tüchtig Schwein und Mutter drauf,
Da folgt der ganze Hexenhauf.
Goethes Beschreibung war vielleicht von antiken Terrakottastatuen inspiriert, die eine nackte, auf einem Schwein reitende Frau, möglicherweise Baubo, zeigen.[17] Allerdings könnte es auch sein, dass diese Statuen erst durch Goethe mit Baubo identifiziert wurden. So gelangte 1848, also deutlich nach Goethes Bezugnahme in Faust, eine antike ägyptische Terrakottastatue in den Besitz der Antikensammlung Berlin (Inventarnummer TC 4875). Dass diese im Katalog „Baubo auf dem Schwein“ genannt wurde, scheint jedoch bereits durch Goethes berühmte Passage beeinflusst gewesen zu sein.[18] Goethes Zitat wird aufgenommen bei Settembrini in Thomas MannsDer Zauberberg.[19]
Auch ein Aphorismus in Friedrich NietzschesFröhlicher Wissenschaft erwähnt Baubo: „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?“ Nietzsche, selbst Klassischer Philologe, nutzt in diesem gelehrten Witz die Verknüpfung des Baubo-Mythos sowohl mit Witz und Kreativität als auch mit dem Moment des „Entblößens“, der auch in der wissenschaftlichen Geste der „Ent-Deckung“ wichtig ist. Baubo scheint so als Personifikation von Nietzsches Konzeption einer fröhlichen, kreativen Wissenschaft zu dienen.[21]
Sigmund Freud stieß auf eine der Abbildungen der als Baubo identifizierten Terrakotten aus Priene und brachte sie mit dem klinischen Fall eines Patienten in Verbindung, dem das Wort „Vaterarsch“ im Kopf herumschwirrte, mit dem verbundenen Bild des Vaters als „nackte[m], mit Armen und Beinen versehenen Unterkörper [...], dem Kopf und Oberkörper fehlten. Die Genitalien waren nicht angezeigt, die Gesichtszüge auf dem Bauch aufgemalt.“ Freud konnte sich zunächst wenig Reim auf dieses Bild machen, bis er eine Terrakotta-Figur aus Triene fand (heute Antikensammlung Berlin, TC 8615), die, so glaubte er, „volle Übereinstimmung mit dem Zwangsbild meines Patienten zeigt“.[20]
Eine moderne Rezeption im Sinne der Rückbesinnung auf Mythologie in der DDR-Literatur der 80er Jahre ist die Erzählung Baubo von Franz Fühmann.[22]
Ähnliche Mythen
Das symbolische Ritual der Enthüllung der Vulva, häufig durch eine Göttin, zur Lösung einer angespannten Situation wird Anasyrma oder auch Ana-suromai genannt und findet sich in vielen Mythen wieder, so zum Beispiel im Mythos der Hathor,[23] der Heket,[24] der Baba/Ba’u/Baev und der Ame-no-uzume/Ame-no-uzume-no-mik[23].
Olga R. Arans: Iambe and Baubo. A study in ritual laughter. Ann Arbor (MI) 1988, OCLC231037073 (Dissertation, University of Illinois at Urbana-Champaign 1988).
Monika Gsell: Die Bedeutung der Baubo. Kulturgeschichtliche Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales. Stroemfeld, Frankfurt am Main/Basel 2001, ISBN 3-86109-147-X.
M. Marcovich: Demeter, Baubo, Iacchus, and a Redactor. In: Vigiliae Christianae. Band 40, Nr. 3, September 1986, ISSN0042-6032, S. 294–301, doi:10.1163/157007286X00130.
↑The Orphic hymns. Translation, introduction, and notes by Apostolos N. Athanassakis and Benjamin M. Wolkow. The Johns Hopkins University Press, Baltimore, Maryland 2013, ISBN 978-1-4214-0881-1 (englisch, archive.org [PDF; abgerufen am 29. September 2024]).
↑Clemens, Protreptikus 20–21, auch Orphische Fragmente 52 (Otto Kern: Orphicorum fragmenta. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1922.)
↑Das hier mit „Brüste“ übersetzte κόλπος hat auch die Bedeutung „Schoß“, „Vulva“, siehe z. B. Euripides, Helena 1159.
↑Übersetzung von Otto Stählin aus: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften. J. Kösel & F. Pustet, Kempten & München 1934 (unifr.ch).
↑ abHeute in der Antikensammlung Berlin. Vgl. dazu Frank Rumscheid: Die figürlichen Terrakotten von Priene. Fundkontexte, Ikonographie und Funktion in Wohnhäusern und Heiligtümern im Licht antiker Parallelbefunde. Band 1, Reichert, 2006, S. 80.
↑M. A. Murray: Female Fertility Figures. In: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland. Band 64, 1934, ISSN1359-0987, S. 93–100, doi:10.2307/2843950, JSTOR:2843950.
↑Vor allem Georges Devereux widmete diesem Aspekt eine breit angelegte Untersuchung: Baubo. Die mythische Vulva. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Syndikat, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-434-46063-2.
↑Fritz Graf: Baubo. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 2, Metzler, Stuttgart 1997, ISBN 3-476-01472-X, Sp. 499. Abbildung in Georges Devereux: Baubo. Die mythische Vulva. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Syndikat, Frankfurt am Main 1985, S. 75. Zur Rezeption bei Goethe siehe auch Otto Kern: Baubo in der Walpurgisnacht. In: Goethe-Jahrbuch. Band 18, 1897, S. 271–273; Gero von Wilpert: Baubo. In: Goethe-Lexikon. Kröner, Stuttgart 1998, S. 80.
↑Frederika Tevebring: Baubo on the Pig: Travel across Disciplines. In: Eva-Maria Troelenberg, Kerstin Schankweiler, Anna Sophia Messner (Hrsg.): Reading Objects in the Contact Zone (= Heidelberg Studies on Transculturality. Band 9). Heidelberg University Publishing, Heidelberg 2021, S. 125–131 (doi:10.7885/heiup.766; Digitalisat; Academia)
↑Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher). Hrsg. von Michael Neumann. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-400300-9, S. 405 (Vorschau in der Google-Buchsuche). – Laura Baginski – von Baubo zu Vulviva. In: feuilletonfrankfurt.de. 18. August 2012, abgerufen am 28. März 2020 („Schriftsteller-Übervater Thomas Mann wiederum greift in seinem von uns so sehr geschätzten Jahrhundertroman „Der Zauberberg“, Fünftes Kapitel, in dem auf den „Totentanz“ folgenden Abschnitt „Walpurgisnacht“ – leider offensichtlich kritiklos – auf die Goethe’sche Walpurgisnacht zurück.“).
↑ abSigmund Freud: Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung [1916]. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 10, London 1949, S. 398–400 (Volltext). Zuerst in: Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, 1916. Dazu ausführlich Frederika Tevebring: Mythological Parallels and Visual Compulsions: The Matriarchal Subtext to Freud’s Archaeology. In: American Imago. Band 78, Nr. 2, Sommer 2021, S. 275–305 (doi:10.1353/aim.2021.0013; Digitalisat).
↑Franz Fühmann: Das Ohr des Dionysios. Erzählungen. Hinstorff Verlag, Rostock 1985, S. 54–72, die Erzählung selbst stammt aus dem Jahr 1984.
↑ abValentina Alessia Beretta: The Anasyrma Fertility Ritual in Ancient Egypt: from Hathor to Hermaphroditus. In: Birmingham Egyptology Journal. Band 10, 2024, S. 22–35 (PDF).
↑Victoria Angela Jennings: I Sing the Body Magical: Baubo and Her Apotropaic Power. 2020 (escholarship.org [abgerufen am 29. September 2024] UC Santa Barbara).