100 berühmte Ansichten von Edo

Inhaltsverzeichnis der Serie, von Gengyo Miyagi entworfen, 1858

Die 100 berühmten Ansichten von Edo (japanisch 名所江戸百景, Meisho Edo hyakkei) sind eine Farbholzschnittserie des japanischen Malers und Farbholzschnittkünstlers Utagawa Hiroshige. Die Serie, die entgegen dem Wortlaut des Titels aus insgesamt 119 Drucken und einem Titelblatt besteht, gilt als das Hauptwerk des Künstlers. Er selbst bezeichnete die Drucke dieser Serie als seine beste Arbeit, die sein künstlerisches Vermächtnis darstellen sollte.

Vorbemerkung

In den Jahren 1829–36 erschien ein illustrierter Führer Bilder berühmter Orte von Edo (江戸名所図会, Edo meisho zue), der von Saitō Yukio (1737–1799) im Jahr 1790 begonnen und von seinem Sohn Yukitaka und seinem Enkel Yukinari überarbeitet und ergänzt worden war. Die insgesamt 20 Bände des siebenteiligen Führers wurden von Hasegawa Settan (1778–1848) akkurat illustriert. Bilder und Text beschreiben ausführlich die großen Tempel und Schreine, aber auch eine ganze Reihe berühmter Geschäfte, Teehäuser, Restaurants usw. Dazu kommen Landschaften und malerische Partien in der Stadt und Umgebung.

Hiroshige, der in seinen 100 berühmten Ansichten eine Reihe Motive aus diesem Führer übernahm, stellte auf einzelnen Farbholzschnitten nicht nur Edo, sondern auch dessen Umgebung dar. Grob geschätzt[Anm. 1] betreffen etwa die Hälfte der Blätter die Stadt selbst, die kleinere Hälfte die Umgebung. Aber auch die Stadt erscheint auf den Drucken Hiroshiges sehr grün, von vielen Flüssen und Kanälen durchzogen. Das endlose gleichförmige Häusermeer wäre allerdings auch ziemlich langweilig gewesen.

Hiroshiges 100 Ansichten

Für die Serie existiert ein auf den 10. Monat des Pferdejahres (1858)[Anm. 2] datiertes Inhaltsverzeichnis (Mokuroku), das vom Verleger Sakanaya Eikichi (Uoya Eikichi) bei Gengyo Miyagi (Baisotei Gengyo) in Auftrag gegeben worden war und das als Deckblatt gebundener Gesamtausgaben der Serie diente, die ab dem genannten Datum gedruckt wurden. Dieses Inhaltsverzeichnis gruppiert die Blätter der Serie nach den vier Jahreszeiten und gibt ihnen eine bestimmte Reihenfolge, auch wenn sich tatsächlich nicht jedes Blatt einer Jahreszeit zuordnen lässt. Die meisten Darstellungen der Serie in der Literatur folgen der Reihenfolge des Mokuroku; Kunsthistoriker halten die Reihenfolge jedoch für gekünstelt und für eine nachträgliche „Erfindung“ des Verlegers. Von Hiroshige selbst war keine bestimmte Reihenfolge vorgesehen und die Drucke sind nicht fortlaufend nummeriert. In diesem Artikel wird die Anordnung in der Geidai-Collection übernommen. Die Blätter werden dort in der Reihenfolge ihrer Entstehung, beginnend mit dem 2. Monat im Jahre 1856, vorgestellt.

Einige der bekanntesten Blätter der Serie, u. a. die von Vincent van Gogh in Ölfarben nachempfundenen – Abendschauer über der großen Brücke in Atake (Nr. 92) und Garten der Pflaumenbäume in Kameido (Nr. 97) – wurden von Hiroshige erst zum Ende hin geschaffen.

Drei Blätter, die Nummern 116 bis 118, sind wie das Mokuroku auf den 10. Monat 1858 datiert und damit einen Monat nach Hiroshiges Tod, der nach japanischem Kalender im 9. Monat des Jahres verstorben war. Wegen stilistischer Feinheiten und kleiner Unterschiede bei den Signaturen werden diese drei Drucke seinem Schüler Shigenobu zugeschrieben, der von seinem Lehrer den Namen übernommen hat und in der Literatur als Hiroshige II. bekannt ist. Sicher von Hiroshige II. ist das Blatt 119, das erst im 4. Monat 1859 erschien. In Sammelausgaben der Serie ersetzte der Druck nach seinem Erscheinen das Blatt „Paulownien in Akasaka“ (Nr. 9); die Gründe dafür sind unbekannt, möglicherweise sind die alten Druckplatten verlorengegangen.

Die Übersetzung der originalen Bildbeschriftung (man findet diese z. B. in der japanischen oder englischen Darstellung) versucht einen Kompromiss zwischen Orts-[Anm. 3] und Sachangaben. Die Endung -yama weist auf einen Berg hin, -zaka auf einen Hangweg, -gawa auf einen Fluss und -hashi/-bashi auf eine Brücke. Ergänzungen sind in Klammern gesetzt, die eckigen Klammern geben das Entstehungsjahr gefolgt vom Monat an.

Erläuterungen zu einzelnen Blättern

Tsukuba (Präfektur Ibaraki)
  • Beim Blick über die Stadt nach Südwesten ist gelegentlich der 100 km entfernte Fuji auf den Blättern zu sehen. Bei Blicken nach Nordosten sieht man (z. B. auf Blatt 17) einen Berg mit einer Doppelspitze: das ist der 876 m hohe Tsukuba, der nur 60 km entfernt ist. Er ist kein Vulkan, auch kein erloschener.
  • (1) Das Blatt heißt zwar Blumen (= Kirschblüte) am Deich des Tama-gawa, es handelt sich jedoch um den Tamagawa-jōsui, um einen Kanal, der vom Tama-gawa abzweigt und zur Verbesserung der Wasserversorgung Edos zwischen 1653 und 1654 gebaut worden war. Berühmt war und ist die Kirschblüte in der Nähe des Kanals bei Koganei.
  • (26) Der Kameido-Schrein ist dem Gelehrten Sugawara no Michizane (845–903) gewidmet. Die Anlage ist mit der großen und kleinen Trommelbrücke eine Kopie des Hauptschreins in Dazaifu (Kyūshū). Der Schrein wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ist aber (verändert) wiederaufgebaut worden. Berühmt ist die Glyzinienblüte.
  • (28) Kinryūsan in Asakusa. Das Tempeltor auf diesem schönen Winter-Blatt führt zu dem volkstümlich Asakusa-dera (浅草寺) genannten, im Bilde nicht sichtbaren, Tempel. Sein Bergname (山号) ist Kinryū, Goldener Drache. Der Tempel ist zwar nicht der bedeutendste in der Stadt, aber sicherlich der populärste.
  • (32) Die Shubi-Kiefer am Ommaya-/Oumaya-Ufer (御厩) ist ein beliebtes Ukiyo-e-Thema: Bei Bootsfahrten rastete man gerne in weiblicher Begleitung unter der Kiefer an einer schwer einsehbaren Stelle der Bakufu-Hafenanlagen am Sumida-Fluss. Shubi heißt „von Kopf bis Fuß“, was sich möglicherweise nicht auf die Kiefer, sondern auf die Boots-Insassen bezieht. Die alten Hafenanlagen sind längst verschwunden, aber man findet an der Stelle eine (kürzlich neu gepflanzte) Kiefer.
  • (81) Der Sazaidō des 500-Rakan-Tempels war ein zweistöckiges Gebäude, von dem man eine schöne Aussicht hatte. Seinen volkstümlichen Namen[Anm. 4], d. i. „Schnecken-Halle“, hat er von der Wendeltreppe im Inneren. Hiroshige stellt den Turm korrekter dar, als Hokusai in seinen 36 Ansichten: Hokusai erweitert den Umgang, um einen schönen Vordergrund zu schaffen. Wegen des ständigen Hochwassers wurde der Tempel später an dieser Stelle aufgegeben. Er existiert noch in verkleinerter Form im Bezirk Meguro.
  • (91) Der Fudō-Wasserfall in Ōji im heutigen Bezirk Kita hat seinen Namen vom Fudō-myōō, einer buddhistischen Gottheit. Darüber, wie der Wasserfall zu diesem Namen kam, gibt es verschiedene Erklärungen. Geschmückt ist er oben mit einem shimenawa, einem shintoistischen Symbol: In der Edo-Zeit gab es kaum Berührungsängste zwischen Buddhismus und Shintoismus. Der Wasserfall existiert heute nicht mehr.
  • (97) Der alte Baum im Vordergrund des von van Gogh kopierten Pflaumengarten-Blattes war berühmt, weil ein großer Ast sich zu Boden senkte und sich dann wieder hob. Er war als der Sich hinstreckende Drache (臥龍, garyū) bekannt. Leider ging der Baum bei einem Hochwasser Anfang des 20. Jahrhunderts verloren.

Die 119 Blätter

Commons: 100 berühmte Ansichten von Edo – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Edo besaß, wie alle Städte außer den alten Kaiserstädten, keine Stadtmauer. Gräben, Tore und Befestigungsanlagen gab es nur im Bereich der Burg von Edo.
  2. Die Datumsangaben folgen der japanischen Literatur: Es sind die originalen nach dem damals gültigen Lunisolarkalender und Monatsangaben können daher um bis zu zwei Monate vom westlichen Kalender abweichen.
  3. Die Ortsangaben folgen der Geidai-Collection. Das ergibt gelegentlich von Trede und Bichler abweichende Lesungen, die beide gebräuchlich sind, z. B. hier Ommaya, dort Oumaya.
  4. Der korrekte Name ist Sansōdō.

Literatur

  • M. Trede, L.Bichler: Hiroshige. Hundert berühmte Ansichten von Edo. Taschen Verlag 2010, ISBN 978-3-8365-2145-1.
  • Geidai Collection: Utagawa Hiroshige’s One Hundred Famous Views of Edo. Tokyo University of Fine Arts, Katalog 2007 (in japanischer Sprache).
  • Nihon chimei daijiten. 13 Tōkyōto. in: Großes Lexikon japanischer Ortsnamen. Band 13 – Tōkyō-to. Verlag Kadokawa 1978.
  • Edo meisho zue. (江戸名所図会), 7 Bände. Verlag Kadokawa Bunkō, 1966 (kommentierter Nachdruck).