Was ist Wahrheit?Was ist Wahrheit? ist im Johannes-Evangelium (Joh 18,38 EU) die Erwiderung des Pontius Pilatus auf die Bemerkung Jesu, in die Welt gekommen zu sein, um „Zeugnis für die Wahrheit“ abzulegen. Die Frage geht der Verurteilung Jesu zum Kreuzestod unmittelbar voraus und bleibt unbeantwortet: Pilatus wendet sich ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie ist ein locus classicus für die Frage nach der Wahrheit als zentralem Thema der Philosophie und der Logik. Diese Frage ist vielfach künstlerisch sowie literarisch rezipiert und interpretiert worden. Text
AnalyseWelche Aussage genau Pontius Pilatus mit seiner Frage treffen wollte, ist umstritten.[4] Carl Schmitt zufolge lässt sich die Haltung des Pilatus je nach Sichtweise als Ausdruck eines „müden Skeptizismus“, als Agnostizismus, als „Ausdruck überlegener Toleranz“ oder als früher Fall einer weltanschaulichen Neutralität von Staat und Verwaltung interpretieren.[5] Auch Spott oder gar eine Hinterfragung der Möglichkeit, Wahrheit richterlich feststellen zu können, können dahinter stecken – in jedem Falle aber wird die Behauptung Jesu, er lege für die Wahrheit Zeugnis ab, zurückgewiesen.[4] In dem Vers drückt sich auch die Vorstellung von der völligen Unschuld Jesu vor dem Urteil von Pilatus aus und damit die in den johanneischen Schriften besonders betonte Lamm-Gottes-Symbolik.[6] Zudem bezeugt er die Zweifel und die Skepsis von Pilatus, die in den Evangelien nahezu durchgängig als Untugend gewertet wird; Pilatus stellt sich mit seiner Frage dadurch außerhalb des Geistes der Heiligen Schrift.[7] Dies gilt umso mehr, als der Begriff der „Wahrheit“ insbesondere im Johannes-Evangelium stark christologisch aufgeladen ist: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6 EU), spricht Jesus etwa zu seinem Jünger Thomas.[8] Im apokryphen Nikodemusevangelium aus dem 5. Jahrhundert wird der Dialog zwischen Pilatus und Jesus in den „Pilatusakten“ deutlich ausgebaut, so dass Pilatus auf seine Frage eine Antwort erhält:
– Caput III., 2[7] Philosophische und künstlerische RezeptionDie Frage des Pilatus ist in der Literatur und Kunst oft zitiert und referenziert worden, vor allem in Werken philosophischer Natur. Zwar ist sie nicht das erste oder früheste Beispiel für die konzeptionelle Hinterfragung eines Wahrheitsbegriffs, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung durch ihre prominente Positionierung im Neuen Testament gibt ihr jedoch besondere Signifikanz. Francis Bacon zitiert Pilatus zu Beginn seines Essays Of Truth.[9] Seine Rede vom Jesting Pilate, vom ‚scherzenden Pilatus‘, der die Wahrheit nicht erkannt habe, weil er nicht auf sie warten wollte, wurde im Englischen zu einer Bezeichnung für die biblische Passage schlechthin und diente etwa Aldous Huxley als Titel für seinen gleichnamigen Reisebericht. Nietzsche wiederum bezeichnete Pilatus in seiner Spätschrift Der Antichrist aufgrund seiner Frage als die einzige neutestamentliche Figur, die man wertschätzen könne:
Nikolai Ge machte die Frage zum Motiv seines gleichnamigen Werkes Was ist Wahrheit?, das in einer Reihe steht mit Gemälden anderer neutestamentlicher Themen, die er gegen Ende seines Lebens anfertigte. Michail Bulgakow führt die Beziehung zwischen Pilatus und Jesus in einer Binnenerzählung seines Romans Der Meister und Margarita (1928), einem Klassiker der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, noch weiter aus und greift dabei auch die Frage nach der Wahrheit auf, die auch direkt zitiert wird. Tim Rice setzt in der Rockoper Jesus Christ Superstar (1970) den Gedankengang des Pilatus fort: „But what is truth? Is truth unchanging law? / We both have truths – are mine the same as yours?“[11] Simon Blackburn schließlich bezeichnete das Diktum des Pilatus als „notorische Frage“, in der Relativisten und Absolutisten gleichermaßen „gefangen“ seien, da sie geradezu dazu herausfordere, auf einer „schwindelerregenden Abstraktionshöhe“ nach Antworten zu suchen.[12] Einzelnachweise
|