Stoischer WeiserDer stoische Weise (griechisch σοφός, lateinisch sapiens) ist das Idealbild der stoischen Ethik, das zuerst von Chrysippos von Soloi (3. Jh. v. Chr.) formuliert wurde. Antike PhilosophieDer Weise lebt demnach in vollkommener Weise in Übereinstimmung mit der Natur, die mit der Vernunft und gleichzeitig mit der Tugend identifiziert wird, dem höchsten Gut der Stoiker.[2] In allen seinen Handlungen zeigen sich in gleichem Maße alle vier Kardinaltugenden: die Weisheit, die Tapferkeit, die Mäßigung und die Gerechtigkeit. Daher besitzt er aus zwei Gründen Eudaimonia, die vollkommene Glückseligkeit:[3] Zum einen hat er erkannt, dass die Affekte und Begierden allein auf Geisteskrankheiten oder Irrtümern beruhen. Somit ist er von ihnen frei und als Individuum autark. Da Affekte und Begierden immer körperbezogen sind, führt das bei einigen Stoikern wie Poseidonios (135–51 v. Chr.) und Epiktet (ca. 50–125) zu einer gewissen Leibfeindlichkeit und Verachtung alles Körperlichen.[4] Zwar habe ein solcher vollkommener Mensch keine Bedürfnisse mehr, doch sei es ihm von Nutzen, mit Gott in Freundschaft zu leben, die aus einer Übereinstimmung im Urteil über das Gute und das Böse bestehe.[5] Zum anderen heißt es, dem Weisen sei klar, dass alle Lust und alle Unlust in Bezug auf das höchste Gut indifferent sind, αδιάφορον adiaphoron. Die Wechselfälle des in stoischer Sicht unwandelbaren und vorherbestimmten Schicksals wie Krankheit, Armut oder gesellschaftliche Isolation kann er mit der sprichwörtlich gewordenen stoischen Ruhe ertragen, der απάθεια apatheia (Leidenschaftslosigkeit). Allenfalls „positive Leidenschaften“ wie Freundlichkeit, Freude oder Liebe zu seinen Kindern werden ihm gestattet.[6] Auch Mitleid, das sozusagen eine Ansteckung mit den negativen Affekten eines anderen bedeute, störe die Seelenruhe des Weisen und wurde deshalb explizit abgelehnt. Das schloss aber nicht aus, dass er Hilfsbedürftigen half oder Almosen gab.[7] Sogar eine Verantwortungsübernahme im politischen Raum wurde von einigen Stoikern mit dem Ideal des Weisen für kompatibel erachtet.[8] Hierin unterscheidet sich das stoische Ideal des leidenschaftslosen Weisen von dem epikureischen Ziel der ἀταραξία ataraxia (Unverwirrtheit, die Distanz zum gesellschaftlich-politischen Geschehen impliziert), mit dem es sonst vieles gemeinsam hat.[9] Cicero (106–43 v. Chr.) kann daher in seinen Tusculanae disputationes, die auf stoischen Quellen basieren, erklären, der Weise sei glücklich selbst auf der Folter.[10] Der griechische Philosoph Plutarch (45-ca. 125), der den Stoikern kritisch gegenüberstand, überliefert eine Formulierung, in der das paradoxe Glück des Weisen noch weiter zugespitzt wird:
Dass eine Manifestation dieses Idealbilds in der Realität überaus unwahrscheinlich war, räumten die Stoiker unumwunden ein. Bei Alexander von Aphrodisias, einem Peripatetiker des 3. Jahrhunderts, ist überliefert, sie hielten einen stoischen Weisen für „seltener als den Phönix“.[12] Gleichwohl behaupteten die Stoiker, dieses Ideal sei die einzige Möglichkeit für einen Menschen, glücklich zu werden. In seinen 46 v. Chr. entstandenen Paradoxa Stoicorum diskutiert Cicero die These, wer kein Weiser sei, sei notwendigerweise ein Sklave. Der stoische Philosoph Seneca (ca. 1–65) rückte von den allzu rigorosen Forderungen der alten und mittleren Stoa ab und stellte alltagspraktische Ratschläge in den Mittelpunkt seiner belehrenden Schriften. So betont er in einem seiner Briefe zu Fragen der Ethik, dass das Leben bereits dann erträglich werde, wenn man nur angefangen habe, nach Weisheit zu streben.[13] Gleichwohl verwendet auch er die Figur des nahezu gottgleichen vollkommenen Weisen, um zu zeigen, wie erstrebenswert dessen Eigenschaften seien:
In seiner Schrift De beneficiis (Über die Wohltaten) definiert Seneca den Weisen als jemanden, dem die ganze Welt gehöre, der aber keinerlei Mühe habe, sie in seinem Besitz zu behalten. Wie ein Gott sehe er als mächtigster und bester auf die gesamte Menschheit herab.[15] Die Stoiker wurden für ihr utopisches Ideal des Weisen bereits in der Antike scharf kritisiert. Seneca selbst erlaubt gleich nach der eben zitierten Definition aus de beneficiis, sich darüber lustig zu machen: „derideas licet“.[16] Insbesondere die antidogmatisch-skeptischen Akademiker fanden im Ideal des Weisen einen Angriffspunkt. So lässt Cicero in seiner theologischen Schrift De natura deorum Gaius Aurelius Cotta als Vertreter dieser Schule gegen die Stoiker polemisieren, die ein allzu unwahrscheinliches Glück als Ideal hinstellten:
Der Dichter Horaz (65–8 v. Chr.), der in seiner Jugend Epikureer gewesen war, goss noch in seiner im Jahr 20 v. Chr. veröffentlichten ersten Epistel beißenden Spott über die Stoiker und ihren Weisen aus, der wie Jupiter reich, frei, geehrt, schön und vor allem gesund sei – es sei denn, ihn quäle ein Schnupfen.[18] RezeptionAntikeIn der Antike wurden bedeutende Männer durch die Darstellung ihres Todes oft zu stoischen Weisen stilisiert: Die Autoren legen dann großen Wert darauf zu zeigen, dass ihr Held dem Tod mutig und würdevoll entgegengegangen und bis ans Ende Herr seiner Affekte geblieben sei. Beispiele sind Marcus Porcius Cato der Jüngere, wie ihn Lucan in seinen Pharsalia ausmalt: frei von Affekten, rein der Vernunft gehorchend, voll Liebe zum Staat und seinen Mitmenschen und dabei glücklich,[19] die Schilderung von Senecas erzwungenem Selbstmord in den Annalen des Tacitus[20] oder die Heroisierung des Ablebens von Plinius dem Älteren beim Ausbruch des Vesuv 79 durch seinen Neffen.[21] In der Bibelwissenschaft wird auf Parallelen zwischen der Schilderung des stoischen Weisen und dem Heiligkeitsideal der frühen Christen verwiesen. Der Apostel Paulus beschreibt im ca. 56 entstandenen zweiten Korintherbrief seine eigene paradoxe Lage in Bedrängnis und Schwäche bei gleichzeitiger Herrlichkeit und Zuversicht:
Somit liegt zumindest eine indirekte Beeinflussung durch die stoische Philosophie nahe.[23] NeuzeitTrotz der starken Rezeption der stoischen Ethik seit der Renaissance spielte das Ideal des Weisen in der Philosophie der Neuzeit keine bedeutende Rolle. Arthur Schopenhauer spottete 1819 in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung:
Das Ideal des stoischen Weisen wird heute unterschiedlich bewertet. Zum Teil kritisiert man es als strukturell inhuman: Der stoische Weise wird zwar beispielsweise ein Kind aus einem brennenden Haus retten, aber nicht um des Kindes willen, sondern um selbst das Rechte zu tun; sollte sein Rettungsversuch scheitern und das Kind sterben, würde der stoische Weise kein Bedauern empfinden, da er eo ipso frei von störenden Affekten wäre, da zweitens der Tod auch für das Kind ja kein Übel sei, und da drittens der Tod des Kindes von der Vorsehung veranlasst wäre, die mit dem die Welt durchwaltenden göttlichen Logos identisch sei.[25] Positiver urteilt der französische Philosoph Pierre Hadot (1922–2010), der die stoische Philosophie als Anleitung zu spirituellen Übungen versteht, mit denen man lerne, seinem Schicksal zuzustimmen, indem man Ereignisse, die außerhalb des eigenen Willens liegen, in die Perspektive einer universellen Ordnung stelle. Insofern beziehe sich, wie die Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus zusammenfasst, die berühmte Gleichgültigkeit des stoischen Weisen nicht auf mangelndes Interesse. Im Gegenteil, der Weise lerne, mit gleicher Liebe und ohne Unterschied zu akzeptieren, was unabhängig von seinem Willen geschehe.[26] Literatur
Nachweise
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