Die Ragwurzen (Ophrys), auch Kerfstendel genannt, bilden eine Pflanzengattung in der Familie der Orchideen (Orchidaceae). Sie kommen hauptsächlich rund ums Mittelmeer vor und überdauern den trockenen Sommer mit Hilfe einer unterirdischen Knolle. Zur Bestäubung locken die Blüten durch Produktion von Duftstoffen und insektenähnliches Aussehen männliche Insekten an, die beim Versuch der Kopulation mit den Blüten Pollen übertragen. Die Gattung umfasst je nach Auffassung 10 bis 350 Arten.
Die Ragwurz-Arten sind relativ kleine, ausdauernde, krautige Pflanzen. Sie erreichen meist Wuchshöhen von 10 bis 40 Zentimetern, es gibt aber auch blühende Exemplare, die nur 5 Zentimeter hoch sind, andere Arten erreichen bis zu 90 Zentimeter. Mit einer unterirdischen Knolle überdauern sie die ungünstige Jahreszeit. Während der Wachstumsperiode wird diese Knolle durch eine, selten zwei neue ersetzt. Die Knollen sind rundlich bis leicht oval und werden teils aus Wurzel-, teils aus Sprossgewebe gebildet. Sie enthalten lebende Zellen, die Stärke speichern sowie abgestorbene Zellen, die für die Wasserspeicherung sorgen. Oberhalb der Knollen entspringen die faserigen Wurzeln aus dem Spross.[1]
Die Laubblätter stehen in einer grundständigen Rosette, zusätzlich können weitere kleinere Blätter am Stängel angeordnet sein; oder die Blattrosette ist locker mit am Stängel verteilt stehenden Laubblättern.[2]
Generative Merkmale
In einem endständigen, traubigenBlütenstand sind wenige Blüten locker angeordnet. Der Fruchtknoten ist ungestielt, nicht behaart und nicht oder nur wenig verdreht. Die Blüten sind resupiniert, sie sind relativ groß, auffällig und ähneln einem Insekt. Die zwittrigen Blüten sind zygomorph und dreizählig. Die Blütenhüllblätter sind nicht miteinander verwachsen. Die drei äußeren Blütenhüllblätter (Sepalen) sind weiß, rosafarben oder grünlich, meistens kahl. Die seitlichen Petalen sind kleiner als die äußeren Blütenhüllblätter und behaart. Die Lippe ist ganzrandig bis dreilappig, am Ende oft mit einem Anhängsel oder einer aufgesetzten Spitze. Meist ist die Lippe konvex gebogen, wobei die Spitze wieder in die Gegenrichtung aufwärts gebogen sein kann. Im Gegensatz zu verwandten Gattungen besitzt die Lippe der Ragwurzen keinen Sporn. An der Basis der Lippe befindet sich mittig eine auffällig gefärbte Fläche, seitlich davon sind oft zwei Erhebungen. Mittig auf der Lippe befindet sich eine glatte, häufig glänzende Fläche, zum Rand hin ist die Lippe behaart. Die Säule fasst die Narbe und das Staubblatt zusammen; zwischen beiden liegt das wenig ausgebildete Trenngewebe (Rostellum), das oft zwei kleine, farbige seitliche Auswüchse besitzt. Die zwei Pollinien sind über Stielchen mit je einer separaten Klebscheibe (Viscidium) verbunden.[2]
Bestäubungsbiologie
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Orchideen der Gattung Ophrys sind bekannt für ihren besonderen Bestäubungsmechanismus.[3][4] Die Lippe einer Blüte stellt bei den Ophrys-Arten eine Nachahmung eines weiblichen Insekts dar. Männliche Insekten lassen sich täuschen und übertragen den Pollen während einer sogenannten Pseudokopulation. Dieses Phänomen wird Sexualtäuschung (englisch: sexual deception) genannt und ist eine Form von Mimikry (Lockmimikry). Die sensorischen Komponenten der Sexualtäuschung setzten sich aus olfaktorischen (Duft), visuellen (Farbe, Form) und taktilen (Behaarung) Stimuli zusammen. Der Duft der Blüten, bei vielen Arten ein für die menschliche Nase nicht wahrnehmbares Gemisch aus schwerflüchtigen Kohlenwasserstoffen, stellt den wichtigsten Stimulus zur spezifischen Anlockung der Bestäuber-Männchen dar. Er ist eine „fast“ genaue Kopie der Sexual-Duftstoffe der weiblichen Insekten und löst daher das gleiche Such- und Kopulationsverhalten aus wie die entsprechenden Weibchendüfte. Eine besondere Bedeutung kommt den taktilen Stimuli zu. Je nach Ausrichtung der Behaarung erkennt ein männliches Insekt nämlich, wo „vorn“ und „hinten“ bei einem Weibchen ist. Die Ausrichtung der Behaarung bei Ophrys-Blüten entscheidet daher darüber, ob der Bestäuber „Kopf voran“ oder „Abdomen voran“ mit den Blüten zu kopulieren versucht. Die Pollinien werden dementsprechend mit dem Kopf oder dem Hinterkörper (Abdomen) entnommen und transportiert. Die Konsequenz des Sexualtäuschungsmechanismus ist eine gewisse Spezifität in der Bestäubung, weil Anlockung über Sexualduftstoffe relativ spezifisch, im Eifer des Gefechtes aber unspezifisch erfolgt. Das Resultat sind daher unzählige Hybriden. Die Bestäuber sind in den meisten Fällen Solitärbienen, beispielsweise der Gattungen Andrena, Eucera, Anthophora etc. Wenige Ophrys-Arten werden von Grabwespen (Ophrys insectifera), Dolchwespen (Ophrys speculum), Käfern, Fliegen (Ophrys fuciflora) oder Pflanzenwespen (Ophrys insectifera var. subinsectifera) bestäubt. Aus dieser Abhängigkeit der Ophrys-Arten von ihren jeweiligen Bestäubern sollte der Schutz der Orchideen daher immer auch den Schutz der entsprechenden Bestäuberinsekten im Auge haben.
Systematik
Taxonomie
Die Gattung Ophrys wurde 1753 durch Carl von Linné in Species Plantarum Band 2, Seite 945 aufgestellt. Der botanische Gattungsname Ophrys leitet sich aus dem griechischen Wort ophrys für „Augenbrauen“ ab. Der „Begriff“ Ophrys wurde erstmals von Plinius dem Älteren in seinem Werk Naturalis historia erwähnt.
Innere Systematik
Die Gattung Ophrys wird in mindestens zehn Sektionen unterteilt: Die ehemaligen Sektionen nach Godfery (1928) Ophrys[5] (Syn. Euophrys nom. inval.[6]) mit Arten, bei denen die Pollinien während der Pseudokopulation an den Kopf des Insekts geheftet werden, und Pseudophrys mit Arten, bei denen die Pollinien an das Hinterteil (Abdomen) geheftet werden, sind durch molekular-genetische Untersuchungen seit 2008 und morphologische Studien seit 1964 als überholt zu betrachten.
Die Gattung Ophrys ist trichotom, bestehend aus drei Untergattungen, nämlich Ophrys subgen. Ophrys, Ophrys subgen. Bombyliflorae und Ophrys subgen. Fuciflorae. Die Untergattung Ophrys besteht nur aus einer Sektion mit einer Art, nämlich Ophrys insectifera. Die Untergattung Bombyliflorae besteht aus vier Sektionen, nämlich sect. Bombyliflorae, sect. Tenthrediniferae, sect. Speculum und sect. Pseudophrys. Die Untergattung Fuciflorae besteht aus mindestens fünf Sektionen, nämlich sect. Apiferae, sect. Araniferae, sect. Fuciflorae, sect. Umbilicatae, und sect. Scolopax. Nach noch nicht ausreichenden molekular-genetischen Untersuchungen gibt es die sect. Scolopax im östlichen Mittelmeer nicht und wird hier durch die fast gleich aussehende sect. Cornutae (= sect. Oestriferae) vertreten.
Argolische Ragwurz (Ophrys argolicaH.Fleischm.): Es gibt je nach Autor einige Unterarten:
Ägäische Ragwurz (Ophrys argolica subsp. aegaea(Kalteisen & H.R.Reinhard) H.A.Pedersen & Faurh., Syn.: Ophrys aegaeaKalteisen & H.R.Reinhard, Ophrys ferrum-equinum subsp. aegaea(Kalteisen & H.R.Reinhard) H.Baumann & R.Lorenz): Diese Neukombination erfolgte 2002. Sie kommt nur auf den griechischen Inseln der südlichen Ägäis der Kykladen und Dodekanes bis Kárpathos vor.[7]
Ophrys argolicaH.Fleischm. subsp. argolica (Syn.: Ophrys icariensisM.Hirth & H.Spaeth, Ophrys argolica subsp. icariensis(M.Hirth & H.Spaeth) Kreutz, Ophrys olympiotissaPaulus): Sie kommt auf dem Festland des südlichen-zentralen bis südlichen Griechenlands vor.[7]
Brillen-Ragwurz (Ophrys argolica subsp. biscutella(O.Danesch & E.Danesch) Kreutz, Syn.: Ophrys biscutellaO.Danesch & E.Danesch, Ophrys crabronifera subsp. biscutella(O.Danesch & E.Danesch) Klaver & Kreutz, Ophrys exaltata subsp. sundermanniiSoó): Diese Neukombination erfolgte 2004. Sie kommt nur im südlichen Italien und dem zu Kroatien gehörenden Korčula vor.[7]
Antalya-Ragwurz (Ophrys argolica subsp. climacis(Heimeier & Perschke) H.A.Pedersen & P.J.Cribb: Diese Neukombination erfolgte 2019. Dieser Endemit kommt in der Türkei nur im Gebiet von Antalya vor.[7]
Hornissen-Ragwurz (Ophrys argolica subsp. crabronifera(Sebast. & Mauri) Faurh., Syn.: Ophrys crabroniferaSebast. & Mauri, Ophrys exaltata var. virescensSommier, Ophrys fuciflora subsp. pollinensisE.Nelson, Ophrys holoserica subsp. pollinensis(E.Nelson) O.Danesch & E.Danesch, Ophrys pollinensisE.Nelson ex Devillers-Tersch. & Devillers, Ophrys argolica subsp. pollinensis(E.Nelson) Kreutz, Ophrys crabronifera subsp. pollinensis(E.Nelson ex Devillers-Tersch. & Devillers) H.Baumann & R.Lorenz, Ophrys crabronifera subsp. virescens(Sommier) Klaver & Kreutz): Diese Neukombination erfolgte 2002. Dieser Endemit kommt nur im zentralen bis südlichen Italien vor.[7]
Zierliche Ragwurz (Ophrys argolica subsp. elegans(Renz) E.Nelson, Syn.: Ophrys gottfriediana subsp. elegansRenz, Ophrys elegans(Renz) H.Baumann & Künkele): Dieser Endemit kommt nur auf Zypern vor.[7]
Lesbos-Ragwurz (Ophrys argolica subsp. lesbis(Gölz & H.R.Reinhard) H.A.Pedersen & Faurh., Syn.: Ophrys lesbisGölz & H.R.Reinhard, Ophrys ferrum-equinum subsp. lesbis(Gölz & H.R.Reinhard) H.Baumann & R.Lorenz): Diese Neukombination zu erfolgte 2002. Dieser Endemit kommt nur auf der Insel Lesbos vor.[8]
Rhodische Ragwurz (Ophrys argolica subsp. lucis(Kalteisen & H.R.Reinhard) H.A.Pedersen & Faurh., Syn.: Ophrys aegaea subsp. lucisKalteisen & H.R.Reinhard, Ophrys lucis(Kalteisen & H.R.Reinhard) Paulus & Gack, Ophrys ferrum-equinum subsp. lucis(Kalteisen & H.R.Reinhard) H.Baumann & R.Lorenz, Ophrys argolica subsp. atargatisKreutz, Ophrys atargatis(Kreutz) P.Delforge): Diese Neukombination erfolgte 2002. Sie kommt von den Inseln der östlichen Ägäis über die südwestliche Türkei bis ins nördliche Syrien vor.[7]
Hufeisen-Ragwurz (Ophrys ferrum-equinumDesf.): Es gibt nur noch zwei Unterarten und kein anderen Subtaxa mehr:[7]
Ophrys ferrum-equinumDesf. subsp. ferrum-equinum, Syn.: Ophrys andracnitisBory & Chaub., Ophrys aranifera subsp. parnassica(Vierh.) Soó, Ophrys argolica subsp. mandalyana(B.Baumann & H.Baumann) Kreutz, Ophrys corinthiacaHausskn., Ophrys labiosaKreutz, Ophrys lesbis var. mandalyana(B.Baumann & H.Baumann) P.Delforge, Ophrys ×moreana subsp. dornheckeriF.Fohringer, Ophrys ferrum-equinum var. anafiensisBiel, Ophrys ferrum-equinum var. labiosa(Kreutz) Hennecke, Ophrys ferrum-equinum var. minorBiel, Ophrys ferrum-equinum subsp. convexaB.Baumann & H.Baumann, Ophrys ferrum-equinum subsp. labiosa(Kreutz) Kreutz, Ophrys ferrum-equinum subsp. mandalyanaB.Baumann & H.Baumann): Sie kommt von Albanien über die Kykladen, Sporaden und den Inseln der Ägäis bis zur südlichen und südwestlichen Türkei vor.[7]
Ophrys ferrum-equinum subsp. gottfriediana(Renz) E.Nelson (Syn.: Ophrys gottfriedianaRenz, Ophrys spruneri subsp. gottfriediana(Renz) Soó, Ophrys ferrum-equinum var. gottfriediana(Renz) Biel,Ophrys ferrum-equinum var. pseudogottfriedianaPaulus): Sie kommt in Griechenland und auf Inseln in der Ägäis vor.[7]
Es wurde auch eine große Zahl von Hybriden beschrieben, darunter:
Balearen-Ragwurz (Ophrys ×flavicansVis.), (Syn.: Ophrys balearicaP.Delforge, Ophrys ×catalaunicaO.Danesch & E.Danesch = Ophrys bertolonii × Ophrys sphegodes): Sie kommt im westlichen und zentralen Mittelmeerraum vor.[7]
Quellen
Literatur
Daniel Tyteca, Michel Baguette: Ophrys (Orchidaceae) systematics – When molecular phylogenetics, morphology and biology reconcile. In: Berichte aus den Arbeitskreisen Heimische Orchideen, Band 34, Nr. 1, 2017, S. 37–103 (Volltext-PDF).
Einzelnachweise
↑
Henrik Ærenlund Pedersen, Niels Faurholdt: Ophrys. The Bee Orchids of Europe. Kew Publishing, Kew 2007, ISBN 978-1-84246-152-5 (englisch).
↑ ab
Alec M. Pridgeon, Phillip J. Cribb, Mark W. Chase, Finn N. Rasmussen (Hrsg.): Genera Orchidacearum. Volume 2: Orchidoideae (Part one). Oxford University Press, Oxford u. a. 2001, ISBN 0-19-850710-0, S.327–333 (englisch).
↑Hannes F. Paulus: Wie Insekten-Männchen von Orchideenblüten getäuscht werden – Bestäubungstricks und Evolution in der mediterranen Ragwurzgattung Ophrys. In: Oberösterreichisches Landesmuseum (Hrsg.): Denisia. Band20. Linz 2007, S.255–294 (zobodat.at [PDF]).
↑ abcdefghijklmnopqrstuvw
Rafaël Govaerts, 2003: World Checklist of Monocotyledons Database in ACCESS: 1-71827.Ophrys. In: POWO = Plants of the World Online von Board of Trustees of the Royal Botanic Gardens, Kew: Kew Science, abgerufen am 13. Mai 2020.