Quantendefekttheorie

Die Quantendefekttheorie der physikalischen Chemie dient zur modellhaften Berechnung der charakteristischen Linienspektren von Atomen mit mehreren Elektronen, insbesondere von solchen der 1. Hauptgruppe.

Johannes Rydberg hatte bereits 1889 festgestellt, dass die später nach ihm benannte Rydberg-Formel für die Alkalimetalle so zu korrigieren ist, dass anstelle der Hauptquantenzahlen die um einen Betrag verringerten effektiven Hauptquantenzahlen verwendet werden müssen; die erhielten später den Namen Quantendefekte.[1][2]

Die Abweichungen sind im Rahmen der Orbitalmodelle so zu verstehen, dass die inneren Elektronen den Atomrumpf für das äußere Elektron nicht völlig abschirmen, da sich dessen Orbital mit denen der inneren Elektronen überschneidet.

Vergleich der äußeren Elektronen von Lithium und Wasserstoff

Vergleicht man das 2s-Elektron von Lithium (Außen- oder Leuchtelektron, im Grundzustand; 5,37 eV) und ein 2s-Elektron des Wasserstoffs (angeregter Zustand; 3,4 eV), so ist für die Ionisierung des 2s-Lithium-Elektrons mehr Energie nötig als für diejenige des 2s-Wasserstoff-Elektrons. D. h., das 2s-Lithium-Elektron wird vom eigenen Atomkern stärker angezogen als das 2s-Wasserstoff-Elektron von seinem.

Diese stärkere Anziehung kann mittels der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der jeweiligen Orbitale erklärt werden. Orbitale sind dabei Räume mit nicht vernachlässigbar kleiner Aufenthaltswahrscheinlichkeit: ein 2s-Elektron bzw. das 2s-Orbital hat eine charakteristische Wellenfunktion, die zu jeder Entfernung vom Kern eine Angabe über die Wahrscheinlichkeit macht, das Elektron in genau dieser Entfernung anzutreffen. Diese Verteilung ist für s-Orbitale kugelsymmetrisch, aber für p-Orbitale, d-Orbitale etc. auch von der Richtung abhängig.

Der weitere Aufbau des Atoms spielt für die Wellenfunktion keine Rolle, so dass die 2s-Elektronen von Lithium und von Wasserstoff eine ähnliche Wellenfunktion besitzen. Diese hat ein kernnahes Maximum, d. h., das 2s-Elektron kann zu einer geringen, aber dennoch wichtigen Wahrscheinlichkeit auch in den Bereich zwischen den inneren 1s-Elektronen und dem Kern „tauchen“. Dort erfährt es eine deutlich höhere Anziehung auf Grund der positiven Ladung des Kerns; die Abschirmung des Kerns nach außen, welche vorher die zwei 1s-Elektronen bewirkt hatten, wird nun unvollständig.

Das 2s-Elektron des Lithiumatoms erfährt also im kernnahen Bereich einen dreifach positiv geladenen Kern, im kernfernen aber einen einfach positiv geladenen (effektive Kernladung); im zeitlichen Mittel wird es von einem Kern der Ladung angezogen. Im starken Kontrast dazu wird das 2s-Elektron des Wasserstoffs nur von einem Kern der Ladung angezogen, da das Wasserstoff-Atom nur ein Proton im Kern besitzt.

Der Quantendefekt

Eine stärkere Anziehung führt zu einer höheren Ionisierungsenergie, weswegen die Elektronen der Alkaliatome im Schema der Energieniveaus jeweils niedriger dargestellt werden als vergleichbare Orbitale des Wasserstoffatoms; die Differenz zum Ionisierungskontinuum wird größer. Dieser Zusammenhang wird ausgedrückt durch die effektive Hauptquantenzahl , indem von der Hauptquantenzahl des jeweiligen Orbitals der Quantendefekt δ abgezogen wird, der die Stärke der zusätzlichen Anziehung widerspiegelt:

Der Quantendefekt und damit das Energieniveau hängt nicht nur von der Hauptquantenzahl (der Größe des Orbitals) ab, sondern auch signifikant von der Bahndrehimpulsquantenzahl und damit der Wellenfunktion bzw. der Form des Orbitals (s, p, d oder f). So hat das kugelförmige s-Orbital ein ausgeprägtes kernnahes Maximum der Wellenfunktion, das hantelförmige p-Orbital jedoch weniger usw. Die Abschirmung wird somit mit steigender Nebenquantenzahl „vollständiger“, das Außenelektron „taucht“ seltener in den kernnahen Bereich ein und wird weniger stark angezogen. Anders ausgedrückt: je größer die Nebenquantenzahl l, desto kleiner der Quantendefekt δ bzw. desto approximierter das Energieniveau des Orbitals an dem eines vergleichbaren Wasserstoffatoms.

Beim Wasserstoffatom sieht das Elektron nur den Kern, der ein radialsymmetrisches Potential besitzt. Daraus folgt, dass ein 4s-Elektron des Wasserstoffs energetisch gleich einem 4d-Elektron des Wasserstoffs ist: Es liegt eine l-Entartung vor, d. h. die unterschiedlichen Formen der Orbitale spiegeln sich nicht in unterschiedlichen Energien wider. Bei Alkalimetallen ist die l-Entartung aufgehoben, da die inneren Elektronen nicht alle radialsymmetrische Aufenthaltswahrscheinlichkeiten besitzen.

Ermittelt man mittels Spektroskopie die einzelnen Übergänge und ihre Energien, so kann man den Quantendefekt für jedes Orbital eines Atoms ermitteln.

Linienspektren

Passt man die aus dem Bohrschen Atommodell hergeleitete Rydberg-Formel für wasserstoffähnliche Ein-Elektron-Systeme an die Quantendefekttheorie an, so ergibt sich für optische Übergänge (Spontane Emission oder Absorption von Licht) die Formel:

Dabei sind

  • die Wellenlänge des Lichts im Vakuum
  • die Kernladungszahl
  • die spezifische Rydberg-Wellenzahl des jeweiligen Elements: mit
  • die effektiven Hauptquantenzahlen

Quantendefekte in der Laserphysik

Vom hier verwendeten Begriff sind die Quantendefekte zu unterscheiden, die in der Laserphysik den Energieunterschied zwischen anregender Pumpenergie und der Signalenergie bezeichnen.[3]

Einzelnachweise

  1. M. J. Seaton: Quantum defect theory. In: Rep. Prog. Phys. Band 46, 1983, S. 167–257, doi:10.1088/0034-4885/46/2/002 (iop.org [abgerufen am 28. November 2014]).
  2. Ch. Jungen: Molecular Applications of Quantum Defect Theory. Taylor & Francis Group, 1996, ISBN 978-0-7503-0162-6 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. T. Y. Fan: Heat generation in Nd:YAG and Yb:YAG. In: IEEE Journal of Quantum Electronics. Band 29, Nr. 6, 2002, S. 1457–1459, doi:10.1109/3.234394 (ieee.org [abgerufen am 28. November 2014]).