Orgasm GapAls Orgasm Gap (Orgasmus-Lücke) oder Gender Orgasm Gap (Geschlechter-Orgasmus-Lücke) wird ein Geschlechterunterschied in der Orgasmus-Häufigkeit beim heterosexuellen Sex bezeichnet. Laut einem Forschungsüberblick von 2022 zeigt sich in Umfragen, dass typischerweise 30 % bis 60 % der Frauen berichten, beim Heterosex zum Orgasmus zu kommen, im Unterschied zu 70 % bis 100 % der Männer. Je nach Rahmenbedingungen schwankt die Größe der Orgasmus-Lücke. Das repräsentative gewichtete Mittel ist −30 % zu Ungunsten der Frauen. Der Forschungsüberblick untersuchte dafür 36 wissenschaftliche Arbeiten mit Angaben von insgesamt rund 50.000 Frauen und 48.000 Männern. Um den internationalen Forschungsstand abzubilden, wurde nach englischsprachigen Quellen gesucht; dennoch sei vorwiegend die westliche Welt repräsentiert.[1] SystematikenFrauen kommen laut Studien beim Masturbieren[2][3] und beim gleichgeschlechtlichen, z. B. lesbischen oder bisexuellen Sex[4][5] deutlich öfter zum Orgasmus als beim Heterosex. Innerhalb des Heterosex identifiziert der Forschungsüberblick vier Korrelationen:[1]
HintergründeLaut dem Forschungsüberblick wird die Orgasmus-Lücke beim Heterosex heute seltener rein biologisch erklärt, das heißt einer vermeintlich unveränderlichen weiblichen und männlichen Natur zugeschrieben, sondern stattdessen primär auf psycho-soziale Faktoren zurückgeführt. Vor allem asymmetrische private und gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse beeinflussen die Entfaltung des biologischen Orgasmus-Potenzials von Frauen.[1] Biologische HintergründeEs gibt im Wesentlichen zwei konkurrierende evolutionstheoretische Erklärungsansätze des weiblichen Orgasmus:[1] Nach der Nebenprodukt-Theorie habe sich die Klitoris der Frau ebenso wie die Brustwarzen des Mannes als Nebenprodukt des jeweils funktionalen Pendants beim anderen Geschlecht ergeben. Da sie dem weiblichen Orgasmus keine Fortpflanzungsfunktion zuschreibt, sieht die Nebenprodukt-Theorie die direkte Stimulation der äußeren Klitoris als die naheliegendste Form der Auslösung des weiblichen Orgasmus. Das Potenzial könne mit Übung und optimaler klitoraler Stimulation immer besser ausgeschöpft werden, sodass sich Orgasmus-Lücken schließen.[1] Nach der Anpassungs-Theorie hat der weibliche Orgasmus einen nicht notwendigen aber förderlichen Beitrag zur Fortpflanzung. Es wird unter anderem vermutet, dass der weibliche Orgasmus die Wahrscheinlichkeit der Befruchtung steigern kann, dass Orgasmen es belohnen, wenn die Frau sich einen genetisch passenden Partner gesucht hat und/oder dass Orgasmen eine stabile Paarbindung begünstigen. Da die Anpassungs-These den weiblichen Orgasmus funktional für Fortpflanzung sieht, prognostiziert sie eine größere Orgasmus-Häufigkeit beim Vaginalverkehr als die Nebenprodukt-Theorie.[1] Psycho-soziale HintergründeNach psycho-sozialen Erklärungsansätzen erschweren vor allem geschlechterhierarchische Einstellungen und Verhaltensweisen die Realisierung weiblicher Orgasmen auf der Basis der biologischen Orgasmus-Fähigkeit.[1] Geschlechterstereotype Vorstellungen, nach denen Frauen angeblich ohnehin nur schwer kommen „können“ und der Orgasmus für sie auch „gar nicht so wichtig ist“, während der Mann seinen Orgasmus „braucht“ und dementsprechend geradezu „ein Anrecht“ auf ihn hat, erzeugen und begründen demnach ein patriarchales heterosexuelles Skript, d. h. ein kulturell geteiltes Drehbuch für den typischen Ablauf der sexuellen Interaktion. Laut empirischer Studien geben Frauen beim Heterosex z. B. signifikant häufiger Oralsex als sie ihn empfangen und der Sex gilt im Allgemeinen als beendet, nachdem der Mann einen Orgasmus hatte. Indem man sexuelles Vergnügen und Orgasmen von Frauen für nebensächlich oder schwer erreichbar erklärt, werden sie es gemäß psycho-sozialer Erklärung faktisch dann auch. Diese Annahmen stehen im Einklang mit empirischen Studien, die zeigen, dass die Orgasmus-Häufigkeit von Frauen beim Solosex und beim Sex mit anderen Frauen deutlich höher ist. In der Feststellung, dass eine heterosexuelle Interaktion, in deren Mittelpunkt die vaginale Penetration steht, den Orgasmus des Mannes begünstigt und den Orgasmus der Frau verhindert oder erschwert (somit also eine Orgasmus-Lücke erzeugt), sind sich die feministische Position der zweiten Frauenbewegung, aktuelle psycho-soziale empirische Studien, sowie die biologische Nebenprodukt-Theorie des weiblichen Orgasmus einig.[1] Die Erklärung durch patriarchale (d. h. die Interessen des Mannes bevorzugende) sexuelle Skripte bedeutet gemäß sexueller Skripttheorie nicht, unbedingt absichtliche Benachteiligung von Frauen zu unterstellen. Vielmehr geht es häufig um eingeschliffene und unhinterfragte Erwartungen und Abläufe, an denen Frauen und Männer gemeinsam partizipieren.[1] GeschichteIm Zuge der Sexuellen Revolution und der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1950er- und 1960er-Jahren wurde in feministischen Kreisen bereits die Kritik an einem zu einseitig an männlichen Interessen orientierten und auf vaginale Penetration fixierten Skript von Heterosex vorgebracht. In den 1960er- und 1970er-Jahren begann vor dem Hintergrund soziologischer Theorien und Befunde der sogenannte „Kampf um Orgasmus-Gerechtigkeit“.[6] Orgasmus-GerechtigkeitDie zeitgenössischen akademischen und öffentlichen Debatten um den Gender Orgasm Gap wurden unter anderem von der Psychologieprofessorin Laurie Mintz angestoßen. Sie argumentiert, dass insofern die Bedingungen so gestaltet werden, dass Frauen systematisch weniger sexuelles Vergnügen und Orgasmen erleben als Männer, eine Situation der Ungerechtigkeit festgestellt werden kann.[7] Es sei im Sinne der Geschlechtergleichberechtigung eine ausgeglichene Gestaltung von heterosexuellem Sex, einschließlich erwünschten Orgasmen anzustreben, was als Orgasm Equality bezeichnet wird.[8] Ihren Ruf nach Orgasmus-Gerechtigkeit machte sie begleitend zu ihren begutachteten akademischen Fachpublikationen[8][9][10][11] auch populärwissenschaftlich laut, etwa über ihre Kolumne im Magazin Psychology Today[12] und über ihren TEDx Talk „A New Sexual Revolution for Orgasm Equality“, der auf YouTube mehr als 2,5 Millionen Aufrufe verzeichnet.[13] Der Forschungsüberblick schätzt den Gerechtigkeits-Begriff als moralisch und politisch aufgeladen, aber auch als absichtlich und – insofern die psycho-sozialen Kontextfaktoren ungerecht sind – auch aus biologischer Perspektive als schlüssig ein. Zu bedenken sei, dass das Konzept der Orgasmus-Gerechtigkeit nicht anwendbar ist, wenn sich das weibliche Orgasmus-Potenzial aus biologischen oder medizinischen Gründen beim Heterosex nicht entfalten kann (z. B. im Kontext von Medikamentennebenwirkungen oder klinischen Störungsbildern) oder wenn Orgasmen von der Frau nicht gewünscht und angestrebt werden.[1] AbbaumöglichkeitenForschungsstandDie von den Forschenden vorgeschlagenen Maßnahmen zum Verringern des Orgasm Gap lassen sich laut dem Forschungsüberblick in die vier Ebenen Person, Beziehung, sexuelle Interaktion und Gesellschaft einordnen. Für die Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen nenne die Fachliteratur therapeutische und pädagogische Intervention, Öffentlichkeitsarbeit und Medienkampagnen.[1]
KritikDer Forschungsüberblick empfiehlt eine Weiterentwicklung und kritische Hinterfragung der bisher vorgeschlagenen Abbaumöglichkeiten, da diese im Kern seit den 1960er Jahren diskutiert worden seien und es offenbar bisher nur wenige Fortschritte gebe. Er stellt 6 Denkanstöße vor.[1]
Filme
Literatur
Einzelnachweise
|