NervenkitzelDer in der Umgangssprache und in verschiedenen Fachsprachen wie etwa dem Sport, der Verhaltensbiologie oder der Erlebnispädagogik verbreitete Ausdruck Nervenkitzel bezeichnet die Stimulierung der nervösen Befindlichkeit eines Menschen. BegriffDer Duden definiert den Begriff als „(mit angenehmen Gefühlen verbundene) Erregung der Nerven durch die Gefährlichkeit, Spannung einer Situation“.[1] Diese Begriffsauslegung ist unpräzise und mit ihrem Klammereinschub wissenschaftlich so nicht haltbar. Sie unterstellt eine unmittelbare Verschmelzung von Gefährlichkeit der Situation und Glücksgefühl und damit eine masochistische Geisteshaltung. Psychologisch handelt es sich jedoch um eine Abfolge von Stimulus und Response, d. h. einen Auslöser in Form einer Reizung der Nerven durch die extreme Gefahr und einer Folgewirkung auf die Gefühle nach überstandener Gefahr. Das unmittelbare Gefahrenerlebnis, das auch ein Nahtod-Erlebnis sein kann und bisweilen an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit führt, ist nicht mit angenehmen, sondern ganz im Gegenteil zunächst mit Unlustgefühlen wie Angst, Ekel oder Grauen verbunden. Erst in der Folge verwandelt es sich als Ergebnis dieser höchst unangenehmen, aber erfolgreich überstandenen Phase zu einem glückhaften Gefühlserlebnis. Dieses zwiespältige, widersprüchliche Phänomen wird in der Psychologie als Angst-Lust bezeichnet.[2][3][4] Neurologische, biosoziale und biochemische AspekteDas Zentralnervensystem braucht Reizmechanismen, um optimal arbeiten zu können. Beim Nervenkitzel bildet eine gefährliche, im Extremfall lebensgefährliche Bedrohung den Stimulus, der die nervöse Situationsbeherrschung bis zum Äußersten fordert. Die noch erträgliche Dosis der nervlichen Belastbarkeit hängt vom Naturell und von der Risikoerfahrung des einzelnen Hasardeurs ab. Sie kann von der relativ harmlosen Fahrt mit der Achterbahn im TÜV-geprüften Vergnügungspark über das Haitauchen im Schutzanzug oder Base-Jumping von einem Wolkenkratzer bis zum nur durch eine glückliche Schicksalsfügung lebend überstehbaren Autorennen reichen und entsprechend unterschiedliche objektive Gefährdungsrisiken enthalten.[5] Bei einer hoch erregenden Wagnishandlung spielen sich gleichzeitig biochemische Prozesse ab, die das psychische mit einem physischen Erleben verbinden und damit zu einer ganzheitlichen Erfahrung gestalten. Auslöser sind sogenannte Neurotransmitter, die in Sportlerkreisen auch als Glückshormone bezeichnet werden. Die körpereigenen Substanzen wie Dopamin, Noradrenalin, Serotonin oder Endorphine können bei dieser hochgradigen Nervenbeanspruchung zur Ausschüttung kommen und auf der Gefühlsebene intensive Glücksmomente zur Folge haben, was durch das Streben nach dem Nervenkitzel intendiert wird.[6] Das auf naturwissenschaftlicher Ebene im wertneutralen Bereich verbleibende Phänomen des Nervenkitzels wird in der geisteswissenschaftlichen Analyse auch unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet.[7] Psychologische und pädagogische BedeutungDie Notwendigkeit einer kontrollierten Reizintensivierung für die Lernprozesse und die Persönlichkeitsentwicklung sowie die Bedeutung von Spannung und Abenteuer für die Gestaltung eines positiven Lebensgefühls von Kindern und Jugendlichen sind pädagogisch heute unbestritten.[8][9] Die Rechtfertigung ergibt sich aus den systematischen Beobachtungen der natürlichen Lernvorgänge und den didaktischen Folgerungen: Ein individuell abgestimmtes Reizniveau befördert den Lernerfolg, wie aus den Yerkes-Dodsonschen Reizgesetzen hervorgeht.[10] Gesellschaftliche BedeutungDas Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten nach erlebnishaltigen Aktivitäten, die aufregen und die Emotionen aufleben lassen, ist kein neues Phänomen unserer Zeit.[11] Beobachter der Wagnisszenen registrieren jedoch seit einigen Jahrzehnten einen zunehmenden Trend zu besonders gefahrenhaltigen Extremsportarten wie dem Free-Solo-Klettern oder dem Base-Jumping sowie zu lebensgefährlichen Spielen wie dem Balconing oder dem S-Bahn-Surfen. Die Medien sprechen zum Teil von einem „Spiel mit dem Tod“.[12][13] Als Motive werden dafür von der Forschung etwa die Reizarmut und ermüdende Eintönigkeit des Lebens- und Berufsalltags und das daraus resultierende Bedürfnis nach die Emotionen steigernden Tätigkeiten, aber auch das evolutionär angelegte Streben nach Austesten der persönlichen Leistungsgrenzen erkannt.[3][14] Das bisweilen übertriebene, bis an die Suchtgrenze gehende Streben nach Reizintensivierung und die oft die gesamte Freizeit ausfüllende Beschäftigung mit Glücks- und Killerspielen werden schon bei Kindern und Jugendlichen kritisiert.[15] Der Nervenkitzel ist für die Spielsucht ein wichtiger Faktor. Der Reiz des Spiels ist so groß, dass der Spieler selbst bei großen Verlusten weitermacht, um ihn zu spüren. Angebote der Erlebnispädagogik in Freizeit und Lehrerbildung sowie ein über eine integrierte Wagniserziehung veränderter Sportunterricht tragen jedoch auch der Notwendigkeit eines reflektierten Umgangs mit dem natürlichen Bedürfnis nach Reizoptimierung zunehmend Rechnung.[16] Im kommerziellen Sektor erfolgte in den letzten Jahren eine boomartige Steigerung des Angebots an Hochseilgärten, Abenteuerspielplätzen, Kletterhallen und entsprechenden betreuten Veranstaltungen mit einem gewissen Anteil an wagnishaltigen, auch die Eigenverantwortung aktivierenden Selbsterfahrungsmöglichkeiten. Sie etablierten sich als Gegenbewegung zu den eher passiv und fremdbestimmt vergnügenden Freizeitparks.[11] Literatur
WeblinksWiktionary: Nervenkitzel – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Einzelbelege
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