NeonatizidNeonatizid (lateinisch/griechisch: Neugeborenentötung) bezeichnet die Tötung eines neugeborenen Kindes, in der Regel unmittelbar nach der Geburt. Während in einigen Kulturkreisen die Tötung neugeborener Kinder eine übliche Maßnahme zur Vermeidung von u. a. Überbevölkerung war bzw. ist (siehe unten), schließt sonst diese Form der Kindstötung (Infantizid) an Schwangerschaften an, die bis zur Geburt des Kindes von der Mutter geheim gehalten oder sogar vor sich selbst verleugnet wurden. Die Tötung erfolgt hier bis auf wenige Ausnahmen durch die Kindesmutter selbst als extreme Stress- und Panikreaktion nach der „Überraschung“ der plötzlich erlebten Geburt. UrsachenInsgesamt existieren bisher nur wenige Untersuchungen des Phänomens Neonatizid. Nach bisherigem Kenntnisstand gibt es keine isolierbare Einzelursache für die Tötung eines Neugeborenen durch die Mutter. Erst das Zusammentreffen mehrerer Faktoren führt in manchen Fällen zur Tat. Es gibt keinen Nachweis, dass bei Müttern, die einen Neonatizid vornehmen, häufiger eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, beispielsweise im Sinne fehlender Reife oder völlig unzureichender Bewältigungsmechanismen, als bei anderen Müttern. Aber erstere sind im Falle der Aussetzung Neugeborener nicht in der Lage, vorhandene Hilfsangebote wie die Schwangerschaftskonfliktberatung, Babyklappen oder die Freigabe zur Adoption zu nutzen.[1] Auslöser für die pathologische Verheimlichung der Schwangerschaft und die spätere Aussetzung oder Tötung eines Säuglings kann das Umfeld der Mutter sein, wenn es eine mögliche Elternschaft ablehnt oder mit negativen Konsequenzen belegen würde. Aber auch in intakten und eigentlich akzeptierenden Umfeldern kam es zu Fällen von Neonatizid und Kindesaussetzung, bei denen die Mutter den Grund für ihr Verhalten nicht rational erklären konnte. Es wird in Medien und Öffentlichkeit häufig die Ursache in den Lebensbedingungen der Täterinnen gesucht, z. B. dass diese etwa sehr jung, in Ausbildung oder arbeitslos seien. Aber tatsächlich wird die Tat von Müttern aller sozialen Schichten begangen, wie auch die Erziehungswissenschaftlerin und Kriminologin Christine Swientek feststellt: „Unter den Frauen, die ihr Baby umgebracht haben, waren Schulmädchen genau so wie Krankenschwestern und Sozialpädagogik-Studentinnen. Es geht durch alle Schichten, durch alle Altersklassen“. Theresia Höynck, Kriminologin und Rechtswissenschaftlerin bestätigt diese Erkenntnisse.[1] Es gibt nach aktuellen Erkenntnissen nur ein übereinstimmendes, eindeutiges Merkmal bei allen Taten: das persönliche Umfeld der Mütter hat die Schwangerschaft nicht wahrgenommen bzw. die Mütter konnten diese erfolgreich verbergen. Weiter sind keine eindeutigen Merkmale nachgewiesen.[1] Als andere begünstigende Faktoren für einen Neonatizid kommen auch, aber nicht notwendigerweise, das Fehlen oder Nichtfunktionieren engerer sozialer Stütz- und Kontrollsysteme oder auch schwere Suchterkrankungen in Betracht, zumal, wenn sie Kritik- und Urteilsfähigkeit sowie den Bezug zur Realität beeinträchtigen. Größenordnung und RahmenbedingungenJährlich werden in Deutschland etwa dreißig Neugeborenentötungen bzw. Kindsaussetzungen bekannt, fünfzig bis siebzig Prozent der Fälle werden aufgeklärt. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Opferzahlen wesentlich höher (geschätzt werden mehrere tausend Fälle), um 1950 gab es etwa dreihundert Opfer pro Jahr. Der Rückgang wird mit einer besseren sozialen Situation in Zusammenhang gebracht. Auch die Auswirkung der mit der Zeit immer üblicheren, besseren und verfügbareren Verhütungsmittel sowie die Fristenregelung dürfte hier signifikant sein. Für Österreich beträgt die Zahl aktuell etwa drei pro Jahr.[2] Im historischen Rückblick vermuten Susanne Krejsa MacManus und Christian Fiala einen Zusammenhang mit der Gesetzgebung hinsichtlich Schwangerschaftsabbruch. Relevant scheint auch das Lebensumfeld der betreffenden Frau: Ländliche Umgebung böte mehr Möglichkeiten bieten, den Leichnam zu beseitigen – MacManus und Filala sprechen von „Entsorgungsmöglichkeiten“ – bzw. eine geringere Gefahr der Entdeckung als städtische Siedlungsräume.[3] Neonatizid im deutschen StrafrechtRechtlich werden Neonatizide nach § 212 StGB (Totschlag, Strafmaß 5 bis 15 Jahre) oder §§ 212, 213 (Minder schwerer Fall des Totschlags, Strafmaß 1 bis 10 Jahre) des Strafgesetzbuches verurteilt. Treten Merkmale wie Habgier, Grausamkeit oder rücksichtslose Eigensucht bei der Kindstötung auf, so ist die Kindstötung als Mord nach § 211 zu werten. In Deutschland gab es bis zur Sechsten Strafrechtsreformgesetz 1998 für den Neonatizid eines nichtehelichen Kindes die strafrechtliche Privilegierung des § 217 StGB („Eine Mutter, welche ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet“, Strafmaß 3 bis 15 Jahre, minderschwere Fälle 6 Monate bis 5 Jahre), der von einem verminderten Unrecht ausging auf Grund des gesellschaftlichen Drucks auf unverheiratete Mütter in den früheren Jahrhunderten (gesellschaftliche Ausstoßung, Verlust etwa der Arbeit, Pranger). Die Tötung eines ehelichen Kindes wurde damit aber nicht erfasst und als Totschlag gewertet. Mit dem gesellschaftlichen Wandel und der Akzeptanz und Gleichstellung der nichtehelichen Kinder wurde diese Strafvorschrift 1998 als überflüssige, nicht mehr zeitgemäße Vorschrift angesehen und somit abgeschafft. Untersuchungen zum Strafmaß zeigen, dass in 40 Prozent der abgeurteilten Fälle Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren verhängt wurden. In der Regel werden die Taten als Totschlag bewertet, häufig als minder schwerer Fall.[4] Neonatizid im österreichischen StrafrechtDer Neonatizid ist gemäß § 79 StGB eine privilegierte Form des Mordes. Wird das Kind von der Mutter während der Geburt oder während diese noch unter der Einwirkung des Geburtsvorgangs gestanden hat, getötet, gilt die – im Vergleich zum Mord nach § 75 StGB – milde Strafdrohung von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe aufgrund der gesetzlich unwiderlegbar vermuteten Minderung der Zurechnungsfähigkeit während des Geburtsvorgangs. Der Neonatizid ist eine Vorsatztat und als solche von der fahrlässigen Tötung (§ 80 StGB) abzugrenzen. Die Privilegierung greift sogar dann, wenn die Mutter die Tat lange vor der Geburt geplant hat und ihre Zurechnungsfähigkeit nachweislich nicht vermindert war. Die Privilegierung kommt nur der Mutter zugute. Tötet der Vater oder eine andere Person das Kind, ist das nach § 75 StGB (Mord) strafbar. Selbiges gilt, wenn jemand die Mutter zur Tötung anstiftet, dann ist das nach § 12 iVm § 75 StGB (Bestimmungstäter) strafbar. Neonatizid im Schweizer StrafrechtEine Mutter, die ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem Einfluss des Geburtsvorgangs steht, tötet, wird wegen Kindestötung nach Art. 116 Strafgesetzbuch bestraft. Im kulturellen VergleichAnders als in westlichen Kulturkreisen wurde oder wird es in der Tradition mancher anderer Kulturen weder moralisch noch rechtlich als verwerflich gewertet, Säuglinge nach der Geburt zu töten. Die folgenden Beispiele verdeutlichen dies (vgl. zum Beispiel Kuhse, Singer 1993, S. 135ff.):
Neonatizid bei schwerstbehinderten NeugeborenenIn den westlichen Kulturen vertreten seit Jahren eine Reihe von Menschen die Meinung, die selektive aktive Tötung bzw. die passiv zum Tode führende Nichtbehandlung von Neugeborenen mit schwersten Behinderungen oder Fehlbildungen (zum Beispiel Anenzephalie) solle legalisiert werden. Eine Vorreiterrolle nehmen in dieser Bewegung u. a. der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer und der britische Bioethiker John Harris ein. Letzterer vertritt ähnlich wie Singer die Ansicht, dass es „nicht plausibel ist, von einem moralischen Wandel während der Reise durch den Geburtskanal auszugehen“ (BBC-News, 16. Januar 2004). Es ist beispielsweise seit langem in vielen westlichen Ländern gesetzlich legal und von großen Teilen der Gesellschaft toleriert und akzeptiert, bei einer vorgeburtlich festgestellten Behinderung oder Fehlbildung des Kindes – auch bei gegebener oder zu erwartender Lebensfähigkeit des Kindes – einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Darum sei es nicht nachvollziehbar, dass man ein Neugeborenes aufgrund moralischer Prinzipien leben lassen bzw. am Leben halten müsse, wenn seine Behinderung oder Fehlbildung pränatal nicht erkannt worden sei und den Eltern die Alternative des Abbruchs nicht geboten werden konnte. Die Kritik an diesen Bestrebungen ist nach wie vor enorm. Insbesondere in Deutschland wird nicht nur von Behindertenorganisationen befürchtet, eine entsprechende Regelung könne einer Mentalität politischen Raum und rechtliche Legitimation geben, die letztlich gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung hervorrufen könne, welche in der Vergangenheit die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programme möglich werden ließen. Siehe auchLiteratur
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Einzelnachweise
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