Lambert WiesingLambert Wiesing (* 9. April 1963 in Ahlen)[1] ist ein deutscher Philosoph mit den Spezialgebieten Phänomenologie, Wahrnehmungs- und Bildtheorie sowie Ästhetik. LebenLambert Wiesing, Bruder des Medizinethikers Urban Wiesing, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte dort 1989. 1996 habilitierte Wiesing im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz mit der Arbeit Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Zusammen mit Birgit Recki und Karlheinz Lüdeking gründete Wiesing 1993 die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik, deren Vizepräsident er von 1993 bis 1999 und 2002 bis 2006 und deren Präsident er von 2006 bis 2009 war. Wiesing hatte Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Oxford und am Dartmouth College in Hanover (New Hampshire). 2001 wurde er Inhaber der Professur für Vergleichende Bildtheorie im Bereich Medienwissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und erhielt an dieser 2009 den Lehrstuhl für Bildtheorie und Phänomenologie im Institut für Philosophie. 2019 wurde Wiesing zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung gewählt. Zusammen mit Thomas Fuchs, der zeitgleich zum Vizepräsidenten gewählt wurde, leitet er die Gesellschaft. ForschungBildtheorieIn der Aufsatzsammlung Artifizielle Präsenz von 2005 ordnet Wiesing die gegenwärtige Bildtheorie – die sich von der Bildwissenschaft abgrenzen lässt – in drei Hauptströmungen ein: eine anthropologische, eine zeichentheoretische und eine phänomenologische.[2] In Phänomene im Bild (2000) skizziert er die Tradition der Phänomenologie des Bildes von Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty und schließt seinen Ansatz dieser Denkrichtung an, welche die Bildtheorie vor dem Hintergrund einer Bewusstseins- und Wahrnehmungstheorie versteht.[3] Dezidiert wendet sich Wiesing gegen den zeichen- oder synonym: sprachanalytischen Ansatz, der die Bildtheorie unter die Semiotik mit ihrem sprachanalytischen Instrumentarien und Vokabular subsumiert. Er kritisiert die "Semiotifizierung" des Bildes und betont eine Pluralität der Bildphänomene:
Die Hauptthese besagt, dass das Bild nicht als Zeichen interpretiert, sondern primär in seiner besonderen Sichtbarkeit beschrieben werden muss. Denn für Wiesing hat man es bei einem Bild nicht immer und notwendig mit einem Zeichen zu tun. Bereits in der 1997 erschienenen Habilitationsschrift Die Sichtbarkeit des Bildes prägt er in Anlehnung an Konrad Fiedler den Begriff der reinen Sichtbarkeit und verweist auf den asemantischen Gebrauch des Bildes:
Der Zeichencharakter von Bildern ist demnach eine kontingente Eigenschaft, die nachträglich angewendet wird, wenn man das Bild als praktischen Zeichenträger verwendet, um sich auf etwas referentiell zu beziehen, was sich außerhalb des Bildes befindet. Diese Verwendung des Bildes zum Zeigen wird eingehend beschrieben in Sehen lassen. Dort wendet sich Wiesing gegen die in der Kunstgeschichte verbreitete Auffassung, Bilder könnten von sich aus etwas zeigen oder würden gar sich selbst zeigen. Für Wiesing ist dies ein Anthropomorphisierung des Bildes, welche in einer neuen Bildmythologie endet. Im Zusammenhang mit seiner inversen Transzendentalphilosophie der Wahrnehmung, ausgearbeitet 2009 in Das Mich der Wahrnehmung, konstatiert Wiesing:
Durch das Herstellen von Bildern ist es dem Menschen möglich – dies ist die anthropologische Bedingung des Bildes – sich aus der visuellen Umklammerung zu befreien, nur dasjenige sehen zu können, was auch tatsächlich anwesend ist. Wenn man auf ein Bild schaut, dann blickt man in eine „physikfreie Zone“, da das Bildobjekt eine „ontologische Ausnahme“ darstellt, die einen Gegenstand in einer „gespenstischen Wirklichkeit“ präsentiert:
Obwohl dieser phänomenologische Ansatz für jedes Phänomen der Bildlichkeit gilt, gibt es besondere Geltungsbereiche, in denen man entsprechende Bilder, die keine Zeichen sind, findet: Erstens in der bildenden Kunst, besonders in Teilen der abstrakten Kunst – paradigmatisch sind die Collagen von Kurt Schwitters[8] –, und zweitens in den Neuen Medien, wo Computersimulationen dazu verwendet werden, das digitale Bild als „Verstärker der Imagination“[9] zu präsentieren. WahrnehmungsphilosophieGegenwärtig ist in der Wahrnehmungsphilosophie – so Wiesings Diagnose in Das Mich der Wahrnehmung – der Interpretationismus und Konstruktivismus in seinen unterschiedlichen Spielarten vorherrschend. Ein solcher Interpretationismus zeichnet sich dadurch aus, dass er von einem Primat des Subjekts ausgeht und die Wahrnehmung auf Interpretationsleistungen dieses Subjekts zurückführt. Eine alternative Position, die heutzutage jedoch kaum noch in der Wahrnehmungsphilosophie Bestand hat – man denke an die Abbildtheorien der Antike und des englischen Empirismus –, geht dagegen umgekehrt von einem Primat des Objekts aus und erklärt die Wahrnehmung, indem sie sie auf Kausalitätswirkungen der Realität auf das Subjekt zurückführt. Statt die Möglichkeit der Wahrnehmung entweder vom Subjekt oder vom Objekt aus zu erklären, schlägt Wiesing nun einen dritten Weg vor, der die Wahrnehmung nicht erklären, sondern phänomenologisch beschreiben will: Wenn die Wahrnehmung selbst ein nicht-erklärbares Urphänomen ist, dann lassen sich Subjekt und Objekt als die Folgen dieses Urphänomens begreifen. Hieraus ergibt sich für Wiesing konsequent eine Inversion der Transzendentalphilosophie, weil der Ort des Transzendentalen nicht länger das Subjekt, sondern die Wahrnehmung selbst ist: Diese inverse Transzendentalphilosophie fragt nicht nach den Bedingungen der Möglichkeit, sondern nach den Folgen der Wirklichkeit. Nicht das Subjekt konstituiert das Wahrnehmungsobjekt, sondern die Wahrnehmung konstituiert umgekehrt mich – daher kann von einem Mich der Wahrnehmung gesprochen werden.[10] Das Subjekt ist ein Mich, weil es eine Folge der Wahrnehmung ist; und wenn ihm diese Wahrnehmung fortwährend zugemutet wird, dann muss es selbst wahrnehmbar, leiblich, affizierbar und öffentlich – kurz, ein Teil der Welt sein:
Humeforschung2007 veröffentlicht Wiesing einen ausführlichen Kommentar zu David Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand. Neben dem Zweck, dieses Werk von Hume in seiner Entstehung, Argumentation und Wirkung vorzustellen, zeigt Wiesing insbesondere die besondere Nähe von Hume zur Phänomenologie auf. LuxusIn seinem 2015 erschienenen Buch Luxus entwickelt Wiesing eine Phänomenologie des Luxus. Der Grundgedanke ist, dass Luxus nicht über materielle Eigenschaften bestimmbar ist, sondern als ein Phänomen verstanden werden sollte, bei dem jemand durch den Besitz einer bestimmten Sache in die Lage versetzt werden kann, eine ästhetische Erfahrung zu machen:
Wiesing gelingt damit ein grundlegender Perspektivenwechsel in der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung um dieses Thema. Denn statt wie in der bisherigen Diskussion üblich, eine Bewertung von Luxus vorzunehmen, wird die Frage gestellt: Was überhaupt Luxus ist? Dafür greift Wiesing auf eine Denkfigur zurück, die Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen entwickelt hat. Schiller argumentiert darin, dass der Mensch nur dann im eigentlichen Sinne des Wortes Mensch ist, wenn ihm ein harmonischer Ausgleich – Schiller spricht hier vom Zustand des Spiels – zwischen seiner leiblichen Natur und der Vernunft gelingt. Gerät er allerdings unter die Herrschaft einer dieser beiden Pole, zwischen denen sich ein Mensch zwangsläufig immer bewegt, droht er entweder zum Wilden oder aber zum Barbaren zu verkommen. Wiesing dazu:
Hier setzen die Überlegungen von Wiesing zum Luxus an. Luxus ist: wenn man es trotzdem macht; wenn ein Mensch, obwohl er weiß, dass es irrational, übertrieben, ineffizient, zu teuer und wohl deshalb eindeutig unvernünftig wäre, er trotzdem zu dem Schluss kommt, eine bestimmte Sache besitzen zu wollen. Aber eben nicht um der Provokation willen und schon gar nicht um seine Kaufkraft oder seine soziale Stellung zu demonstrieren – dafür reserviert Wiesing den Begriff des Protzes und grenzt ihn aufs Schärfste von der Luxuserfahrung ab –, sondern um eine Erfahrung zu machen, bei der man sich von den üblichen Vorstellungen eines vermeintlich vernünftigen Lebens regelrecht befreit. Wie der Dadaismus in der Kunst, so Wiesing, darf der Luxus deshalb als Versuch verstanden werden, sich „gegen spießige Normvorstellungen“[14] zu behaupten. Kurz gesagt: „Luxus ist der Dadaismus des Besitzens“.[14] Ein Beispiel kann dies veranschaulichen:
Luxus kann folglich nach Wiesing erlebt werden, ohne dass ein außerordentlich teurer Gegenstand Teil eines Geschehens ist. Und umgekehrt ist es nach Wiesing möglich, dass im Luxus gelebt wird, ohne dass dieser tatsächlich erfahren wird. Es ist sogar anzunehmen, dass aufgrund „von Größenwahn, Habgier und Selbstherrlichkeit, aber auch aufgrund von Naivität und Gewöhnung“[16] letzteres gar nicht so selten der Fall ist. Doch Phänomene des ostentativen Reichtums sollten nicht dazu führen, die Erfahrung, die durch den Besitz einer Sache gemacht werden kann, per se zu leugnen. Ganz in der Tradition von Adorno stehend argumentiert Wiesing: In einer durch und durch auf Vernunft und Effizienz getrimmten Gesellschaft kann die Erfahrung von irrationalem Luxus als eine Möglichkeit betrachtet werden, sich von einem wuchernden Effizienzdenken und Vernunftdiktat nicht gänzlich vereinnahmen lassen zu müssen:
Phänomenologie des SelbstbewusstseinsIn seinem 2020 erschienenen Buch Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins vertritt Lambert Wiesing die These, dass das Selbstbewusstsein ein nicht erklärbares Ereignis ist, welches zwar unbestreitbar wirklich ist, jedoch nicht weiter hergeleitet werden kann. Deshalb wird ein Methodenwechsel transzendentalen Philosophierens vorgeschlagen. Statt der philosophischen Tradition seit Kant folgend nach den Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbewusstsein zu fragen, wird die Frage phänomenologisch umgekehrt: Was sind die erlebbaren Folgen der Wirklichkeit von Selbstbewusstsein? Diese Methode nennt Wiesing „inverse Transzendentalphilosophie“.
Die Folgen der Wirklichkeit von Selbstbewusstsein, für die Wiesing argumentiert, die auch als „gleichursprüngliche Korrelationsapriori“ bezeichnet werden, sind: 1. Die eigene Existenz: Weil es das Selbstbewusstsein gibt, gibt es auch denjenigen, der selbstbewusst ist. Dieses Ich bezeichnet Wiesing als „Mich“, da es sich um eine erlebbare Folge und nicht um eine logisch notwendige Bedingung von Selbstbewusstsein handelt.
2. Ein Daseinsstil: Wer Selbstbewusstsein hat, muss mit einem Stil in der Welt sein und dieser Daseinsstil spielt sich notwendig zwischen den Extremen eines malerischen Mit-der-Welt-verbunden-Seins und eines linearen Von-der-Welt-distanziert-Seins ab.
3. Selbstwertbewusstsein: Wer mit Selbstexistenzbewusstsein in der Welt ist, muss ein Selbstwertbewusstsein haben. Somit zeigt Wiesing einen internen Zusammenhang auf zwischen dem Selbstbewusstsein im Sinne der Philosophie des Geistes und dem Selbstbewusstsein im alltäglichen Sprachgebrauch.
Die Parallele zu den kunsthistorischen Kategorien des Linearen und Malerischen wird auch hier aufgezeigt. Das Selbstwertbewusstsein bewegt sich Wiesing zufolge ebenfalls in den Grenzen eines Spektrums, nämlich zwischen Selbsthingabe und Selbstbehauptung.
4. Diese zwei Extreme des Selbstwertbewusstseins entsprechen wiederum zwei Extremen der Selbstsorge und daraus folgend auch zwei extremen Formen des Wohnens, nämlich einem weltinkludierenden und einem weltexkludierenden Wohnen.
Auszeichnungen und Preise
WerkeMonografien
Herausgeberschaften, Textkommentare und Texteditionen
Literatur
Einzelnachweise
|