Kammratten
Die Kammratten oder Tukotukos (Ctenomys, Ctenomyidae) sind eine in Südamerika lebende Gattung und Familie von Nagetieren. Es sind unterirdisch lebende, grabende Tiere, die ihre Baue meist einzelgängerisch bewohnen. Die innere Systematik ist umstritten, es werden rund 70 Arten unterschieden. MerkmaleAllgemeine MerkmaleKammratten haben kompakte und muskulöse Körper,[1] die an die unterirdische Lebensweise angepasst sind. Sie erinnern mit ihren Anpassungen an eine grabende Lebensweise stark an die nordamerikanischen Taschenmäuse, mit denen sie jedoch nur entfernt verwandt sind. Sie erreichen eine Kopfrumpflänge von 15 bis 25 Zentimeter, der Schwanz wird zusätzlich 6 bis 11 Zentimeter lang. Das Gewicht variiert zwischen 100 und 700 Gramm. Ihr Fell ist meist dick, je nach Art kann es grau, braun oder fast schwarz gefärbt sein, wobei die Unterseite in der Regel heller ist. Bei einigen Arten kann ein heller Kragen vorhanden sein, bei einigen weiteren Arten gibt es helle oder dunkle Flecken hinten den Ohren oder an anderen Körperstellen. Auf der Bauchseite können helle Stellen im Bereich der Achseln oder in der Lendengegend vorhanden sein. Körpergrößen und auch Fellfärbungen und Schädelmaße variieren teilweise auch innerhalb der Arten sehr stark. Der Körper ist zylindrisch, der Schwanz ist wie bei vielen unterirdisch lebenden Tieren kurz und kaum behaart. Der Kopf ist wuchtig, der kaum abgesetzte Hals kurz und muskulös.[1] Die Beine sind grundsätzlich kurz und dienen vor allem zum Graben und zur Fortbewegung innerhalb der schmalen Gänge der Wohnbaue der Tiere. Die Vorderbeine sind etwas kürzer als die Hinterbeine. Alle Zehen sind mit langen Krallen ausgestattet, wobei die der Vorderpfoten etwas länger sind. An den Hinterpfoten befinden sich kammartige Borsten, die dazu dienen, das Fell von Erde zu säubern. Die Augen sind klein, jedoch im Verhältnis zu allen anderen unterirdisch lebenden Kleinsäugern vergleichsweise groß. Sie sitzen oben am Kopf, dadurch brauchen die Tiere den Kopf nur wenig aus einem Erdloch herauszustrecken, um sich umsehen zu können. Die Ohröffnungen und die Ohrmuscheln sind sehr klein.[1] Der Schwanz ist vergleichsweise kurz und dick, zylindrisch mit breitem Ansatz.[1] Merkmale des Schädels und Skeletts
Der Schädel der Kammratten ist in der Regel kompakt und kurz gebaut, er variiert allerdings bei den Arten in seiner Größe und auch im Verhältnis verschiedener Teile zueinander.[1] Wie alle Meerschweinchenverwandten haben die Kammratten in jeder Ober- und Unterkieferhälfte jeweils einen Schneidezahn, einen Prämolaren und drei Molaren, insgesamt haben sie also 20 Zähne. Zwischen den zu kräftigen Nagezähnen umgebildeten Schneidezähnen und den Prämolaren befindet sich eine für die Nagetiere typische Zahnlücke (Diastema). Die Anordnung der Höcker auf den Molaren ist nierenförmig, der hinterste Molar ist verkleinert. Die Schädelform ist in der Regel assoziiert mit der Ausprägung der oberen Schneidezähne. Diese sind groß und dick, sie sind auf der Vorderseite durch eine kräftige Schmelzschicht leuchtend orange gefärbt und ragen auch bei geschlossenem Maul aus diesem hervor. Wie die Vorderfüße sind auch sie zum Graben ausgebildet und die Tiere sind in der Lage, sie auch bei geschlossenem Maul einzusetzen. Bei einigen Arten sind sie entsprechend vorstehend (proodont), sie können jedoch auch waaregerecht oder sogar leicht nach innen gerichtet sein. Je nach Lage und Grabetätigkeit ist die am Kopf ansetzende Kiefermuskulatur und damit auch die Weite und Ausbgestaltung der Jochbögen und der Muskelansatzstellen am Hirnschädel ausgeprägt.[1] Genetische MerkmaleDie Kammratten zeichnen sich zudem durch eine sehr hohe Variabilität der Chromosomenzahlen aus, die von 2n=10 bei der Steinbach-Kammratte (Ctenomys steinbachi) bis 2n=70 Chromosomen bei der D’Orbigny-Kammratte (Ctenomys dorbignyi) reichen und häufig auch innerhalb der Arten sehr stark variieren können. Damit weisen sie die größte Variabilität der Chromosomenzahlen einer Gattung innerhalb der Säugetiere auf.[2] Verbreitung und LebensraumKammratten sind im südlichen Südamerika beheimatet, ihr Verbreitungsgebiet reicht vom südlichen Peru und dem mittleren Brasilien bis Feuerland. Sie finden sich in einer Reihe von Lebensräumen von den Tropen bis in die subantarktischen Regionen. Sie leben häufig in Graslandgebieten und Wäldern, aber beispielsweise auch im Altiplano und in Bergregionen und Gebirgen. Im Altiplano im Süden Perus und Bolivien kommen sie in Höhen von über 4.000 Metern vor, in anderen Regionen wie Chile, Argentinien und im östlichen Brasilien sind sie im Flachland bis auf Meeresniveau anzutreffen.[2] Die meisten Arten der Gattung haben aufgrund der stark fragmentierten Lebensräume in den Anden eine jeweils sehr begrenzte und lokale Verbreitung und sind nicht selten nur an einzelnen Fundorten nachgewiesen. Nur wenige Arten weisen größere Verbreitungsgebiete auf und sind über weitere Gebiete anzutreffen. Kammratten leben in relativ kleinen Populationen, die von anderen Populationen durch Gebiete mit ungeeigneten Bodenverhältnissen oder andere Barrieren wie Gestein oder Flüssen getrennt werden. Dies hat zur Entstehung der großen Zahl von Arten geführt, deren systematische Einordnung in der Diskussion bleibt. NamensgebungDer wissenschaftliche Name leitet sich von den kammartigen Borsten an den Hinterpfoten der Kammratten ab (altgriechisch κτείς / κτενός kteís / ktenós, deutsch ‚Kamm‘, altgriechisch μῦς mŷs, deutsch ‚Maus‘), die ihr auch ihren deutschen (und französischen) Namen gaben. LebensweiseDie Baue der Kammratten bestehen aus einem langen, manchmal leicht gekurvten Haupttunnel, von dem Nebengänge abzweigen, die entweder in Sackgassen enden oder zu Futterplätzen an der Oberfläche führen. Der Haupttunnel kann 14 Meter lang sein, er hat einen Durchmesser von rund 5 bis 7 Zentimetern und verläuft rund 30 Zentimeter unter der Erdoberfläche. Unterhalb des Haupttunnels befindet sich eine mit Gras verkleidete Schlafkammer, daneben gibt es mehrere Kammern, in denen Nahrung gelagert wird. Die Ausgänge an der Oberfläche können mit Erdhaufen markiert sein, manchmal verschließen die Tiere sie, wenn sie im Bau sind. Die meiste Grabetätigkeit geschieht tagsüber, hauptsächlich am frühen Morgen und späten Nachmittag. Die Erde wird dabei mit den Vorderfüßen gelockert und mit den Hinterfüßen nach hinten gescharrt. Mit den Zähnen durchtrennen sie Wurzeln, die im Weg sind. Die meisten Arten leben einzelgängerisch, es gibt aber vereinzelte Berichte von mehreren Weibchen, die einen gemeinsamen Bau bewohnen. Männchen gelten hingegen als territorialer und aggressiver. Die Bezeichnung Tukotukos ist eine lautmalerische Angleichung an den Laut, den die Männchen ausstoßen und der vermutlich das Territorium markiert. Der Laut klingt eigentlich wie „tlok-tlok-tlok“, er dauert 10 bis 20 Sekunden und wird gegen Ende hin schneller. ErnährungKammratten sind reine Pflanzenfresser, die sich von verschiedenen Pflanzenteilen, wie Wurzeln, Knollen, Stängeln, Gräsern und anderem ernähren. Manche Pflanzen wie Stängel und Gräser ziehen sie von unten in den Bau hinein, andere versuchen sie von den Eingängen ihres Baus aus zu erreichen. Sie verlassen aber selten ihren Bau vollständig. FortpflanzungÜber die Fortpflanzung der meisten Arten ist kaum etwas bekannt. Üblicherweise tragen die Weibchen im Jahr nur einen Wurf aus, nur selten zwei. Vielfach fällt der Zeitpunkt der Geburt in die Regenzeit, wenn reichlich Nahrung vorhanden ist. Die Tragzeit beträgt rund 100 bis 120 Tage und die Wurfgröße eins bis sieben. Evolution und SystematikStammesgeschichteDie heutigen Kammratten bestehen aus nur einer rezenten Gattung, Ctenomys, die aus etwa 70 Arten besteht. Sie entstammen den Meerschweinchenverwandten Südamerikas und haben sich seit dem Miozän über mehrere Schritte an die grabende und unterirdische Lebensweise angepasst. Von anderen Taxa der Stammlinie haben sie sich wahrscheinlich im Pliozän getrennt. Zu den näheren Verwandten gehören die fossilen Gattungen Eucelophorus aus dem mittleren Pliozän bis in das Pleistozän, Xenodontomys und Actenomys aus dem späten Miozän bis in das Pliozän, Praectenomys aus dem Pliozän sowie die als Schwestergruppe zu den rezenten Kammratten betrachtete Gattung Paractenomys, ebenfalls aus dem Pliozän.[2] 2020 wurde die subfossile Kammrattenart Ctenomys viarapaensis aus dem Holozän Argentiniens beschrieben.[3] Die Artbildung und adaptive Radiation gilt als eine der am schnellsten stattgefundenen Artaufspaltungsprozesse innerhalb einer rezenten Säugetiergattung. Die Prozesse der Artbildung und die Gründe hierfür sind Gegenstand intensiver Forschung, wobei vor allem die Genetik und Molekularbiologie eine zentrale Rolle spielt.[2] Äußere SystematikDie Familie der Kammratten wurde 1842 von René Primevère Lesson eingerichtet und enthält nur eine rezente Gattung, die von Henri Marie Ducrotay de Blainville bereits 1826 etablierte Gattung Ctenomys. Die Kammratten werden innerhalb der Nagetiere zu den Meerschweinchenverwandten gerechnet.[4] Ihre Schwestergruppe sind die Trugratten, als deren Unterfamilie sie manchmal klassifiziert werden. Innere SystematikDie innere Systematik ist unübersichtlich und befindet sich in einer ständigen Revision. Frühe Studien zur Systematik und Taxonomie basierten auf der Fellfarbe, allgemeinen morphologischen Analysen des Schädels und anderer Merkmale des Körpers. Später wurden cytologische und molekularbiologische Merkmale wie Chromosomenanzahl, Allozyme und DNA-Sequenzen sowie die Spermienform verwendet, um die Systematik und Biogeographie dieser Nagetiere zu untersuchen. Die Arten unterscheiden sich teilweise erheblich in der Chromosomenzahl mit Karyotypen von 2n=10 bis 2n=70 Chromosomen, sind aber morphologisch sehr ähnlich.[2] Auf der Basis von morphologischen Unterschieden wurden die Kammratten in drei Untergattungen aufgeteilt, wobei die Untergattung Chacomys nur die Conover-Kammratte (Ctenomys conoveri) und die Untergattung Haptomys nur die Weißzahn-Kammratte (Ctenomys leucodon) enthalten, während alle anderen Arten der Untergattung Ctenomys zugeordnet werden. Auf der Basis molekularbiologischer Untersuchungen ist die Trennung allerdings nicht haltbar. Innerhalb der Gattung wurden auf der Basis der DNA heute zahlreiche Artengruppen gebildet.[2] Während Wilson & Reeder (2005) etwa 50 Arten führte, listet das Handbook of the Mammals of the World 69 Arten der Gattung.[4]
Auf der Basis molekularbiologischer Untersuchungen wurden innerhalb der Gattung mehrere Verwandtschaftsgruppen identifiziert, wobei 8 Hauptgruppen beschrieben wurden: boliviensis, frater, mendocinus, opimus, magellanicus, talarum, torquatus, and tucumanus. Diese umfassen jeweils mit der namensgebenden Art eine bis sechs Arten, die jeweils einen Artenkomplex darstellen. In diese Untersuchung aus dem Jahr 2011 wurden allerdings nicht alle Arten der Gattung einbezogen.[10] Kammratten und MenschenMancherorts dringen Kammratten in Felder und Plantagen ein, weswegen sie als Plage angesehen werden. Ihre knapp unter der Oberfläche gelegenen Baue führen auch dazu, dass Pferde und andere Tiere einbrechen und sich dabei die Beine brechen können. Aus diesen Gründen werden einzelne Arten teilweise intensiv bejagt. In manchen stark landwirtschaftlich geprägten Regionen sind sie verschwunden, für genaue Angaben zum Gefährdungsgrad fehlen meist die Daten. Literatur
Einzelnachweise
WeblinksCommons: Kammratten – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Kammratte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
|