Jüdisches KinderhausDas Jüdische Kinderhaus in Kaunas (veraltet russisch und polnisch Kowno) ist nach dem Jüdischen Volksheim in Berlin die zweite Gründung des Arztes und Pädagogen Siegfried Lehmann. Er gründete die Einrichtung 1921 auf Einladung des Jüdischen Nationalrats in Litauen, um die Fürsorge für jüdische Kinder und Jugendliche zu verbessern. VorgeschichteDie Geschichte des Jüdischen Kinderhauses ist eng verbunden mit der Person von und dessen vorangegangener Arbeit im Nach Beate Lehmann machte Siegfried Lehmann „im Jüdischen Volksheim seine ersten Schritte auf dem Weg […], der ihn später, wie er es sich gewünscht hatte, nach Osteuropa und schließlich nach Erez Israel führen würde“.[1] Doch, wenn dies auch der gewünschte Weg gewesen sein mag, so scheint der Abschied vom Volkshaus auch mit Frustrationen verbunden gewesen zu sein. „Nach Ende des Krieges erhoffte sich Lehmann auch hinsichtlich des Ausbaus der Volksheimidee ein Vorankommen, musste jedoch bald resigniert feststellen, dass er in Berlin keine unabhängige jüdische Gemeinschaft aufbauen konnte.“[2] So gesehen, dürfte es für Lehmann die Chance auf einen Neuanfang gewesen sein, als er 1921 vom Jüdischen Nationalrat Litauens gebeten worden war, „die Kinderfürsorge unter der jüdischen Bevölkerung zu organisieren“.[3] Lehmann knüpfte in Kaunas erneut an die Ideen der Settlement-Bewegung an, die ihn schon in Berlin geleitet hatten. Er versuchte eine Einrichtung zu schaffen, die mehr war als die meist nur bewahrenden Kinderheime. Das Kinderhaus verfügte über „eine pädagogische, eine medizinische und eine soziale Abteilung. Die pädagogische Abteilung, das Kinderheim, war für ca. 200 Kinder von den ersten Lebensmonaten bis hin zum Jugendalter eingerichtet. Ihm waren Werkstätten und ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb angegliedert, ebenso eine Kleiderausgabestelle, ein Kinderschutzbüro und eine Säuglingsfürsorgestelle.“[4] Die Klientel des KinderhausesDie ersten von Lehmann und seinen Helferinnen und Helfern betreuten Kinder gehörten zur im Krieg evakuierten jüdischen Bevölkerung Litauens, die nun wieder in ihre Heimat zurückströmte. Doch in den Fokus rückten schnell verwahrloste Jugendliche, „Kinder und Jugendliche, die Pogromen entronnen waren oder deren Eltern in unsäglichen wirtschaftlichen Notlagen lebten, sodass sie sich ohne Eltern und ohne Unterkunft bettelnd und stehelend durchs Leben“ schlagen mussten.[4] Für Lehmann hatten diese Kinder, denen „das Kindheitserlebnis der Liebe fremd geblieben ist“, keine andere Chance, als zu Psychopathen zu werden oder „als jugendliche Verbrecher Rache an der Gesellschaft für ihre liebeleere Kindheit“ zu nehmen.[5] Deshalb war es für ihn nicht verwunderlich,
„Diese Horde verwahrloster Straßenkinder, von denen ein Teil schon seit Jahren das Leben von Vagabunden führte“, sich zu einer Gemeinschaft entwickeln zu lassen, die an der „Erziehung der jüngeren Generation im Kinderhaus führenden Anteil nimmt“ und es „zu einem Zentrum jüdischer Jugendbewegung in Litauen“ macht, war die Aufgabe, der sich Lehmann stellte.[5] Radikale Selbstverwaltung unter der Bedingung produktiver ArbeitVor dieser Ausgangslage und diesen Zielen fällt es nicht schwer, Parallelen zu Makarenkos Formen der Kollektiverziehung und dessen Ansätzen für eine Resozialisierung verwahrloster Jugendlicher zu sehen.[6] Vielleicht entschiedener als dieser setzte Lehmann aber auf ein Modell der weitgehenden Selbstverwaltung und Selbstverantwortung der Jugendlichen, wie es auch in einigen Kinderrepubliken praktiziert wurde.[7] In diesem Prozess gelang es, den anfänglichen Kampf der Kinder gegen das Kinderhaus und dessen Leitung über eine zwischenzeitliche Mitbestimmung hin zu einem Modell zu entwickeln, „in dem wir den Jugendlichen auf allen Gebieten Selbstverwaltung einräumten“.[8] Die Radikalität dieses Modells beschrieb Lehmann 1929, da schon in Ben Shemen:
Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess hin zu einer echten Selbstverwaltung des Kinderhauses durch seine Bewohner spielte „die gemeinsame Arbeit für den Erhalt der Einrichtung im handwerklichen, landwirtschaftlichen und auch im pädagogischen Bereich“[6]:
So, wie Selbstverwaltung in Kaunas mehr war als nur ein pädagogisches Konzept, bedeutete Arbeit hier „anderes und mehr als die Herstellung des Starenkastens bei Georg Kerschensteiner, anderes und mehr als der reformpädagogische Versuch, die herkömmliche Buchschule durch Einführung handwerklicher Tätigkeiten zu einer Arbeitsschule zu machen. In der Kinderrepublik ist Arbeit eine der wesentlichen Grundlagen des Gemeinschaftslebens, ein Feld kollektiver Planung, Organisation und Rechenschaftslegung“.[11] Welche besonderen Anforderungen das Kinderhaus an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellte, lässt sich aus einer Bemerkung Lehmanns erahnen: „Wir hatten es stets vermieden, mit Gewalt etwas innerhalb kurzer Zeit zu erreichen, was in doppelt, ja sogar dreifach so langer Zeit von den Jugendlichen selbst erfahren und verwirklicht werden konnte. Die Anwendung dieses Prinzips erforderte allerdings von allen Erwachsenen, die in Verbindung mit dem Kinderhaus standen, ein besonderes Maß von Geduld.“[12] Vom eigenen Ich zum KollektivAls eine bedeutsame Entwicklung bezeichnete Lehmann den Schritt von der Überwindung des eigenen Ich hin zum Kollektiv. Ausführlich beschreibt er diesen mit vielen Irrungen und Wirrungen verbundenen Prozess, der das Kinderhaus vor schwierige Herausforderungen stellte. Es begann damit, dass sich die Jugendlichen aus dem Kinderhaus in der „Jugendgruppe der Arbeiterpartei“ organisierten. „Es galt jetzt nicht mehr, die materiellen Errungenschaften der eigenen beschränkten Gruppe zu sichern, sondern die der gesamten arbeitenden Menschheit.“[13] Lehmann beschreibt diesen Prozess vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Jugendlichen, die ihre eigene erlebte soziale Ausgrenzung nur durch einen brennenden Hass gegen alles kompensieren konnten, was mit bürgerlicher Gesellschaft zu tun hatte. Dass dabei auch die bürgerlichen Erzieher im Kinderhaus in die Schusslinie gerieten, verschweigt er nicht, aber der Kampf gegen alles Überkommene hatte für die Jugendlichen größere Dimensionen: Religion war in ihren Augen Sache der Bourgeoisie und damit abzulehnen. Gleiches galt für den Zionismus. „Zionismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung war für die aus den untersten Volksschichten kommende Jungen vollständig eins, und deshalb erschien kein Mittel zu schlecht, um mit dieser sogenannten ‚Methode der jüdischen Bourgeoisie, die jüdische Arbeiterklasse in Sklaverei zu halten‘, endlich abzurechnen.“[14] Doch Lehmann vertraute darauf, dass die Jugendlichen im Parteileben nicht die Erfüllung finden würden, nach der sie suchten; sie fanden in der Partei nicht das, „wonach jede Jugend mit besonderer Sehnsucht verlangte, eine Gemeinschaft“.[15] In dem Maße, wie dies den Jugendlichen bewusst wurde, führte das zu einer Krise des Gemeinschaftslebens innerhalb des Kinderhauses, aus der heraus sich aber „Keime neuer Gruppenbildung“ entwickelten.[16] Diese Keime entfalteten sich um ein leerstehendes Häuschen herum, das einige Jugendliche entdeckt hatten, und dessen Instandsetzung und Ausstattung in eigener Regie sie durchsetzten.
Doch dieser jugendliche Eros erwies sich nicht als dauerhafter Bindungsfaktor, die auf ihn gegründete Gruppenbildung mit der der bürgerlichen Jugendbewegung entlehnten immanenten Tendenz zur Ausschaltung der Realität, führte zu einer weiteren Krise innerhalb der Gemeinschaft, die erst dann eine positive Wendung erfahren konnte, als „die Form der Gemeinschaft einen Inhalt bekam, wo eine gemeinsame in der Realität fest verwurzelte Idee sich mit dem jugendlichen Eros verbinden konnte“.[17] Im Kinderhaus waren es zwei Grundideen, die das Fundament für eine weiterführende Entwicklung bildeten:
Als Lehmann 1926 über diese Entwicklung schrieb, konnte er davon ausgehen, dass beide Gruppierungen, zusammen etwa 70 bis 80 Jugendliche, zu stabilen Gemeinschaftsformen gefunden hatten. „Es scheint, als ob die Jugend hier nach langen Irrwegen die Form des Zusammenlebens gefunden hätte, die das Maximum der Kräfte freimacht, welche durch Gemeinschaft erweckt werden können, und gleichzeitig das Minimum an Unterdrückung der Individualität zugunsten der Gemeinschaft erfordert. […] Führerschaft und Jugend haben sich im Laufe der Jahre im ‚Kinderhaus‘ zu einer engen Lebensgemeinschaft zusammengeschlossen, und auf dieser Einheit beruht das Gelingen des großen Projektes, vor dessen Verwirklichung das ‚Kownoer Kinderhaus‘ heute steht.“[18] Dieses ‚große Projekt‘ sollte für einen Teil der Jugendlichen die Übersiedelung nach Palästina werden.
Auf dem Weg nach PalästinaAls Lehmann seine Einschätzungen über das Kinderhaus schrieb, war die Entscheidung für Palästina längst gefallen. „Eine Verhaftungswelle von Lehrern in Kovno im Jahre 1925 vereitelte den Plan einer ‚dramatischen Gruppe‘, die durch öffentliche Aufführungen die Alijah finanzieren sollte, und machte gleichzeitig deutlich, daß eine Zukunft nur mehr in Palästina zu denken war.“[20] Hinzu kam die materielle Not, mit der die Kinder konfrontiert waren und in der sie leben mussten. In dieser Situation traf 1925 auf der Rückreise von einer Weltreise Wilfrid Israel zu einem Zwischenstopp vor seiner Heimreise nach Berlin in Kaunas ein. Er war mit Lehmann seit den Anfängen des Jüdischen Volksheims befreundet und unterstützte Lehmanns Pläne für eine Übersiedlung nach Palästina.
– Naomi Shepherd: Wilfrid Israel, S. 72-73 Die Jüdische Waisenhilfe E. V. Gesellschaft zur Förderung der Erziehung jüdischer Waisenkinder zur produktiven Arbeit wurde 1926 gegründet; ihr Vereinszweck lautete: „Unterhält die aus dem Kaunaser Kinderheim hervorgegangene, von Herrn Dr. Siegfried Lehmann gegründete und geleitete Waisenkolonie Ben-Schemen.“[21] Vorsitzende dieses Vereins war Elsa Einstein, die Frau von Albert Einstein; dem Präsidium gehörten unter anderem Martin Buber und Max Brod und Lola Hahn-Warburg[22] an, im Zentralkomitee saßen Eugen Caspary[23], Mary Warburg, Hermann Wronker und Margarete Tietz. Ende 1926 brach dann Siegfried Lehmann mit einer ersten Gruppe von Jugendlichen nach Palästina auf. Sie legten für vier Wochen einen Zwischenstopp in Berlin im Kinderheim Ahawah ein, da sie noch auf die Einreisezertifikate warten mussten.[24] Anfang 1927 brachten Siegried Lehmann und seine zweite Frau, die Ärztin Rivkah Rebecca Klivanski († 1959), die erste Gruppe nach Palästina, im Juli 1927 folgte die Zweite unter der Leitung von Akiva Yishai (Akiba Vanchotzker) und dessen Frau Chaja Radin. Vermutlich war ihre erste Anlaufstelle noch nicht Ben Shemen, wie Lehmann 1926 noch vor der Abreise schrieb: „In nächster Zeit wird eine ältere Kinderhausgruppe nach Palästina hinübergehen, um dort im Emek Israel den Boden für eine Kinder- und Jugendsiedelung vorzubereiten; jüngere Gruppen, zusammen mit ihren Führern, werden folgen. Sie werden […] die Keimzelle für ein Kinder- und Jugenddorf bilden.“[25] Bei dieser Keimzelle für das spätere Kinder- und Jugenddorf Ben Shemen im Emek Israel, der Jesreelebene im heutigen israelischen Nordbezirk, dürfte es sich um das Kinderdorf in Giwath Hamoreh gehandelt haben, über das dessen Gründer und Leiter, Sch. S. Pugatschow, im Anschluss an Lehmanns Artikel Von der Straßenhorde zur Gemeinschaft in der Zeitschrift Der Jude berichtete.[26] Warum Lehmann nicht direkt nach Ben Shemen ging, ist nicht bekannt, aber seine Vision von der Keimzelle wurde Wirklichkeit. In Ben Shemen entstand allmählich ein Kinder- und Jugenddorf, „das zur angesehensten Einrichtung dieser Art in Israel werden sollte“.[27] Hans Lubinski und das Jüdische Jugend- und LehrheimDas Kinderhaus in Kaunas wurde 1930 aufgegeben.[28] Sein letzter Leiter und Lehmanns Nachfolger war der Kinderarzt Hans Lubinski (* 1900 in Berlin – † 1965 in Israel)[29], der danach das Jüdische Jugend- und Lehrheim in Wolzig leitete.[30] Wie sehr der 1926 in Freiburg promovierte Lubinski[31] von den Idealen des Kinderhauses geprägt war, verdeutlicht Sharon Gillerman:
Ähnlich wie in Kaunas, musste aber auch Lubinski anfangs mit großen Schwierigkeiten kämpfen. „Die neuen Prinzipien forderten viel von beiden Seiten. Zöglingen und Erziehern, und es dauerte einige Zeit, bis das System funktionierte. Hans Lubinski gab später offen zu, dass er am Anfang zu optimistisch war, und nach zwei Monaten gab er die Idee der totalen Selbstverwaltung auf. Er erkannte, dass es notwendig war, sich schrittweise anzupassen, denn sonst würden sich die Jugendlichen und jungen Männer durch die neuen Aufgaben und Pflichten überfordert fühlen. Nach einigen Anpassungen funktionierte das System angemessen; 1931 wurde berichtet, dass die Entscheidungsfindung die Zuweisung von Arbeit beinhaltete und sogar Details des Speiseplanung.“[33] Hans Lubinski erhielt im März 1939 eine Zulassung als Arzt in Nahalal. Über seine weitere Tätigkeit in Palästina und später in Israel ist nichts bekannt.[34] Quellen
Literatur
Einzelnachweise
|