Das Hess’sche Pendel[1]:141ff[2]:197 nach Wilhelm Hess ist in der Kreiseltheorie ein unsymmetrischer Kreisel, bei dem sich der Schwerpunkt wie ein sphärisches Pendel bewegt, nur muss die Schwerebeschleunigung durch eine kreiselspezifische Schwerebeschleunigung ersetzt werden, siehe Animation. Die Geschwindigkeit eines Punkts auf der Hauptachse mit dem mittelgroßen Hauptträgheitsmoment schließt immer denselben Winkel mit der Schwerpunktsachse vom Stützpunkt zum Schwerpunkt ein, weswegen das Hess’sche Pendel auch loxodromisches Pendel genannt wird.[1]:142f Das Hess’sche Pendel ist eine direkte Verallgemeinerung des sphärischen Pendels.[2]:381
Der Drehimpuls ist immer senkrecht zur Schwerpunktsachse. Zudem liegen wie bei den Staude-Drehungen die Schwerpunktsachse, der Drehimpuls und die Winkelgeschwindigkeit in einer Ebene. Die Hauptträgheitsmomente A, B, C um die erste, zweite bzw. dritte Hauptachse und die Schwerpunktskoordinaten s1,2,3 müssen dafür die Bedingungen
einhalten. Hier wird o.B.d.A. A > B > C voraus gesetzt.
Hess, ein Professor am Lyzeum in Bamberg,[3] entdeckte diese analytisch beschreibbare Bewegung 1890.[4] Russische Mathematiker haben seine Studie später vertieft.[5][6][7] Das Hess’sche Pendel konnte auch auf den Spielkreisel übertragen werden und Mlodzjejowsky fand eine andere Verallgemeinerung des sphärischen Pendels.[8]:129
Bedingungen an den Kreisel und die Anfangsbedingungen
Damit der Drehimpuls während der Bewegung immer in einer körperfesten Ebene e bleibt, muss diese senkrecht zur Schwerpunktsachse sein. Der Drehimpuls bleibt nur dann in der Ebene e, wenn Stützpunkt, Schwerpunkt, Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit komplanar sind. Dann schneidet die Ebene e das MacCullagh-Ellipsoid in einem Kreis, was die mögliche Massenverteilung im Kreisel einschränkt.
Die körperfeste Ebene, die den Drehimpuls enthält
Das äußere Drehmoment, gebildet aus dem Kreuzprodukt × der Schwerpunktsachse mit der Gewichtskraft ist nach dem Drallsatz gleich der Geschwindigkeit des Endpunkts des Drehimpulses. Diese Geschwindigkeit ist somit jederzeit senkrecht zur Schwerpunktsachse und muss in e enthalten sein. Also ist die Ebene e senkrecht zur Schwerpunktsachse und definiert durch .[2]:379
Die Winkelgeschwindigkeit
Aus obiger Ebenengleichung folgt mit der Produktregel
worin wie der aufgesetzte Punkt die Zeitableitung symbolisieren. Der erste Summand verschwindet immer. Im zweiten Summand bildet sich die Geschwindigkeit des Schwerpunkts mit der Winkelgeschwindigkeit des Kreisels: . Damit der zweite Summand jederzeit null ist, müssen Schwerpunkt, Stützpunkt, Drehimpuls und Winkelgeschwindigkeit komplanar sein:[2]:379
Die Schnittfigur von Ebene und MacCullagh-Ellipsoid
Die körperfeste Ebene e schneidet das MacCullagh-Ellipsoid in einem Kreis. Denn die zur Schwerpunktsachse senkrechte Ebene e durch den Stützpunkt schneidet das MacCullagh-Ellipsoid jedenfalls in einem Kegelschnitt (rot im Bild). Der Drehimpuls liegt in der Ebene e und berührt das Ellipsoid im Punkt P und t sei die Tangente an die Schnittkurve in P. Die Tangente t ist in e enthalten. Mit einer zweiten, zu t senkrechten Tangente t' wird in P die Tangentialebene e' an das Ellipsoid aufgespannt. Diese Ebene ist senkrecht zur Winkelgeschwindigkeit. Weil t die Schnittgerade der Ebenen e und e' ist, die senkrecht zur Schwerpunktsachse bzw. der Winkelgeschwindigkeit sind, ist t auch senkrecht zur Ebene, die von der Schwerpunktsachse und der Winkelgeschwindigkeit erzeugt wird. Diese Ebene enthält auch den Drehimpuls, weswegen t auch zu diesem senkrecht ist. Mithin erweist sich der Kegelschnitt als Kreis, denn seine Tangenten sind jederzeit senkrecht zum Radiusvektor.[2]:380
Allerdings ist die Rotationsenergie nicht notwendigerweise konstant, weswegen dann das MacCullagh-Ellipsoid in seiner Ausdehnung pulsiert. Der Drehimpuls verfolgt im körperfesten System nicht notwendigerweise eine Kreisbahn.
Die Massenverteilung im Kreisel
Der Drehimpuls liegt bei der momentanen RotationsenergieErot auf dem MacCullagh-Ellipsoid, das im Drehimpulsraum mit Drehimpulskomponenten L1,2,3 entlang der Hauptachsen durch die Gleichung
In der 1-3-Ebene definiert diese Identität zwei Ursprungsgeraden, die mit der 2-Achse zwei Ebenen erzeugen. Damit die Schwerpunktsachse senkrecht zu einer dieser Ebenen ist, muss
Die zusammengetragenen Bedingungen sind zwei an die Massenverteilung (an s2 und s1/s3) und eine an die Anfangsbedingungen (). Dieser Grad der Spezialisierung ist identisch zu dem beim Euler-Kreisel, dem Lagrange-Kreisel und dem Kowalewskaja-Kreisel, die auch jeweils drei Bedingungen an den Kreisel, allerdings nur an dessen Massenverteilung, stellen.[2]:378
Es ist möglich, die Integration der Euler-Poisson-Gleichungen im Hess’schen Fall zu Ende zu führen.[1]:142f Joukowskys geometrische Sätze[6] zeigen, dass sich der Schwerpunkt wie bei einem Raumpendel bewegt, nur muss die Schwerebeschleunigung durch eine kreiselspezifische Schwerebeschleunigung ersetzt werden.
Joukowskys geometrische Sätze
N. Joukowsky formulierte mehrere Sätze,[6] die die Bewegung des Hess’schen Pendels veranschaulichen. Die Sätze zeigen, dass
der Drehimpuls in einer körperfesten Ebene liegt, was im vorangegangenen Abschnitt vorweggenommen wurde,
die Geschwindigkeit eines Punkts auf der 2-Achse einen gleich bleibenden Winkel mit den Kreisschnitten einschließt,
die kinetische Energie des Kreisels gleich derjenigen eines Massenpunkts ist, der sich im Schwerpunkt des Kreisels befindet, und dass auch
der Drehimpuls des Kreisels gleich dem Drehimpuls dieses Massenpunkts ist.
Die Geschwindigkeit eines Punkts auf der 2-Achse
Joukowskys zweiter Satz besagt, dass die Geschwindigkeit eines Punkts auf der 2-Achse mit den Kreisen, die aufeinander folgende Lagen des Kreisschnittes darstellen, einen konstanten Winkel einschließt.
Denn aus der Bedingung an die Massenverteilung in der Form und
folgt, dass das Verhältnis des Drehimpulses L3 zu L1 konstant ist. Das Verhältnis ω3 zu ω1 der zu ihnen proportionalen Winkelgeschwindigkeiten ist somit auch konstant. Der Tangentenvektor an den Kreisschnitt auf der 2-Achse hat, weil er körperfest ist, gleichbleibenden Betrag. Der Vektor ist wegen
proportional zur Winkelgeschwindigkeit ω1. Das Skalarprodukt
ist ebenfalls proportional zu ω1. Somit ist aber der Cosinus des Winkels zwischen und konstant, weil er das Verhältnis des Skalarprodukts zu den Beträgen der beteiligten Vektoren ist. Folglich ist auch der Winkel zwischen der Bahngeschwindigkeit und der Tangente oder der Komplementwinkel zur Schwerpunktsachse immer gleich.
Die kinetische Energie des Kreisels
Joukowskys dritter Satz besagt, dass die kinetische Energie des Kreisels gleich derjenigen eines Massenpunkts ist, der sich im Schwerpunkt des Kreisels befindet.
Bei einem mit gleicher Winkelgeschwindigkeit kreisenden Massenpunkt mit Masse M und Bahngeschwindigkeit ist die kinetische Energie
Kombination der beiden Gleichungen führt unter den eingangs angegebenen Einschränkungen für die Lage des Schwerpunkts und der Orthogonalität auf die Masse
Der Drehimpuls des Körpers
Joukowskys vierter Satz besagt, dass der Drehimpuls des Körpers gleich dem Drehimpuls des Massenpunkts aus dem dritten Satz ist.
Beim Kreisel ergibt sich der Drehimpuls aus dem Produkt des TrägheitstensorsΘ mit der Winkelgeschwindigkeit: . Beim Massenpunkt lautet der Drehimpuls andererseits
was mit der Masse aus Satz 3 und den eingangs angegebenen Einschränkungen für die Lage des Schwerpunkts und der Orthogonalität identisch zum Drehimpuls des Kreisels ist: .
Folgerungen
Beim Hess’schen Pendel sind die Rotationsenergie und der Drehimpuls gleich dem eines Massenpunkts mit Masse M im Schwerpunkt. Diese Masse ist nicht notwendigerweise gleich der Masse m des Kreisels. Auf diesen wirkt eine Gewichtskraft
gemäß der Schwerebeschleunigungg. Der Schwerpunkt des Kreisels bewegt sich daher wie ein sphärisches Pendel mit der Masse M unter der modifizierten Schwerebeschleunigung g'.[1]:142f Insbesondere gleicht sich das Hess’sche Pendel dem kräftefreien Euler-Kreisel an, wenn der Schwerpunkt in den Stützpunkt rückt und die modifizierte Schwerebeschleunigung dadurch gegen null geht.
Integration der Euler-Poisson-Gleichungen
Die #Euler-Poisson-Gleichungen sind die Bewegungsgleichungen für einen schweren Kreisel mit Stützpunkt. Diese Gleichungen können im Fall des Hess’schen Pendels dahingehend gelöst werden, dass die in den Gleichungen vorkommenden Variablen durch elliptische Integrale ausgedrückt werden.
Dies gelingt nach Einführung einer Orthonormalbasis, die an der Schwerpunktsachse vom Stützpunkt zum Massenmittelpunkt und der Hauptträgheitsachse mit Hauptträgheitsmoment B ausgerichtet ist. In diesem System nehmen die #Integrale besonders einfache Formen an, wonach elliptische Integrale für die Koordinaten der Lotrichtung angegeben werden können.[7]
Der Zähler ist nur bis auf das Vorzeichen bestimmt, das sich nach dem bei Schwingungen üblichen Verfahren ergibt. Die Variable ζ bewegt sich im Intervall [-1, 1] zwischen zwei Extremen, zwischen denen das Polynom R2 positiv ist und in denen R = 0 ist. In diesen Nullstellen wechselt sein Vorzeichen.
Indem in die Zeitableitungen von ξ und η obige Ausdrücke für p und q eingesetzt werden, entsteht:
Mit der imaginären Einheit i2=−1 wird aus ξ und η die komplexe Variable zusammen gebaut, die die Zeitableitung
besitzt, die nur von selbst und ζ abhängt. Damit sind auch obige Ausdrücke für p und q Funktionen von ζ allein und das Problem im Prinzip gelöst.
Der Variablen kann ein Punkt im Kreisel zugeordnet werden, der um von der Lotrichtung abweicht: . So ist die Bewegung des Kreisels vollständig beschrieben durch zwei Punkte: Dem Massenmittelpunkt und .[7]:451
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Ulf Hashagen: Walther von Dyck: (1856–1934). Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-515-08359-6, S.76f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
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Wilhelm Hess: Ueber die Euler’schen Bewegungsgleichungen und über eine neue particuläre Lösung des Problems der Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt. In: Mathematische Annalen. Vol. 37, 1890, S.153–181 (digizeitschriften.de [abgerufen am 2. Mai 2018]).
↑siehe Klein und Sommerfeld (2010), S. 378. Für die geometrische Deutung wird dort N. Joukowsky (1894) zitiert und für die analytische Vertiefung P. A. Nekrassoff (1896) (siehe Literatur)
↑ R. Grammel: Der Kreisel. Seine Theorie und seine Anwendungen. Vieweg Verlag, Braunschweig 1920, DNB451641280 (archive.org – "Schwung" bedeutet Drehimpuls, "Drehstoß" etwa Drehmoment und "Drehwucht" Rotationsenergie).