Hans WürtzHans Würtz (* 18. Mai 1875 in Heide, Holstein als Johannes Hansen[1]; † 13. Juli 1958 in Berlin) war einer der einflussreichsten und umstrittensten Protagonisten der „Krüppelpädagogik“ (Körperbehindertenpädagogik) in der Zeit der Weimarer Republik. LebenPersönliche und berufliche EntwicklungHans Würtz war ein unehelich geborenes Kind. Sein Vater Johann Peter Würtz und seine Mutter Johanna Olufs, geb. Hansen, verstarben schon in seiner frühesten Kindheit, weshalb er bei einem Onkel auf der Insel Föhr aufwuchs. Zu seinen Pflegeeltern hatte er ein schlechtes Verhältnis. Er schlug auch das Angebot aus, in das Handelsgeschäft seines Onkels einzutreten. Stattdessen wollte Würtz Lehrer werden und sich hilfebedürftiger Kinder annehmen. Nach seiner Lehrerausbildung auf der Präparandenanstalt in Apenrade nahm er eine Stelle als Aushilfslehrer auf Föhr an. Aufgrund von Auseinandersetzungen mit Dozenten wurde er vom Lehrerseminar in Tondern, das er ab 1894 besuchte, vorzeitig entlassen. Durch gute Beziehungen bekam Würtz am Lehrerseminar in Eckernförde eine zweite Chance. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung als Volksschullehrer 1902 widmete er sich engagiert seiner Tätigkeit als Volksschullehrer im Heidedorf Uk. Fuchs sagt, dass Würtz geradezu besessen vom Lehren schien. Er gründete einen Lese-Klub und einen Theaterverein und warnte als Mitglied des Guttemplerordens auf sonntäglichen Zügen von Dorf zu Dorf vor dem Alkoholgenuss. Nach einem Disziplinarverfahren, das wegen Unruhestiftung gegen ihn eingeleitet wurde und zu seinen Gunsten ausging, bekam er eine Gehaltserhöhung. Im Jahr 1904 wurde er als Volksschullehrer nach Altona berufen, wo er seine spätere Frau, Gertrud Nielson, kennenlernte, die er 1907 heiratete. In Hamburg entwickelte sich auch die langjährige Freundschaft zum Biosophen Willy Schlüter, mit dem er 1914 das Buch Uwes Sendung publizierte. Durch eine weitere Freundschaft zu der engagierten Frauenrechtlerin Anna Plothow erhielt er 1910 eine Stelle als Volksschullehrer in der Knabenschule in Berlin-Tegel und wurde schließlich 1911 an die Berliner Krüppel-Heil- und Erziehungsanstalt für Berlin-Brandenburg berufen. Aus dieser Anstalt ging das Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zehlendorf hervor, an dem Würtz die Stelle des Erziehungsinspektors einnahm. Hans Würtz baute gemeinsam mit dem Arzt Konrad Biesalski das Oskar-Helene-Heim auf, das unter der Leitung der beiden eine der größten orthopädischen Privatanstalten für Kinder und Jugendliche war. Es galt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Zentrum der Krüppelfürsorge in Deutschland und erwarb sich internationalen Ruf. In der Einrichtung war auch die Geschäftsstelle der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge e. V. und des Preußischen Landesverbandes für Krüppelfürsorge untergebracht. Obwohl Würtz sowohl theoretische als auch praktische Erfahrungen in der Behindertenfürsorge fehlten, arbeitete er nun mit großem Engagement mit jungen körperbehinderten Menschen. Daneben war er noch als Referent tätig. So sprach er im September 1920 auf dem VI. Kongress für Krüppelfürsorge in Berlin über die „Seelenkundlichen Bedingungen für die erzieherische Arbeit in den verschiedenen Arten der Krüppelschulen, insbesondere im Kindergarten“:
1928 wurde seine Ehe geschieden. Er heiratete noch im selben Jahr Rosalie von Molo. BehindertenarbeitWürtz entwickelte von 1911 bis 1933 vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer, eugenischer und rassenhygienischer Vorstellungen eine spezielle Pädagogik für körperbehinderte Menschen, die Krüppelpädagogik, welche auch von der Reformpädagogik geprägt war. In dieser produktivsten Phase seines Lebens entwickelte er alle Ideen zu seiner Krüppelpädagogik und Krüppelpsychologie. Seine Beobachtungen und die Konzepte, die sich daraus ergaben, legte er in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge, deren Mitherausgeber er von 1915 bis 1933 war, dar. Seit 1915 war er neben der Tätigkeit als Erziehungsinspektor auch als Verwaltungsdirektor des Oskar-Helene-Heims tätig und in Vereinen und Verbänden sowohl der Krüppel- als auch der Waisenfürsorge engagiert. Im Jahr 1930 verstarb der Orthopäde Konrad Biesalski. Würtz und Biesalski hatten viele Jahre partnerschaftlich und gleichberechtigt zusammengearbeitet und stimmten in ihrer Grundauffassung der Krüppelfürsorge sehr stark überein. Nach dem Tod Biesalskis war Würtz der wichtigste Repräsentant des Oskar-Helene-Heims. Direkt nach Machtergreifung des NS-Regimes 1933 wurde Würtz als Volksfeind, Edelkommunist, Freimaurer, Philosemit und Pazifist verdächtigt, seines Amtes enthoben und verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er „Missbrauch mit den Bildern Goebbels' betreibe“, weil er Joseph Goebbels 1932 in seinem Werk Zerbrecht die Krücken wegen dessen Klumpfußes gleich zweimal in den Listen berühmter Krüppel erwähnt hatte. Außerdem wurde ihm seit dem 15. Mai 1933 durch eine außerordentliche Mitgliederversammlung des Krüppel-, Heil- und Fürsorgevereins für Berlin-Brandenburg e. V. vorgeworfen, Spendengelder des Hilfebundes Oskar-Helene-Heim veruntreut und diese zur Finanzierung des Buches Zerbrecht die Krücken verwendet zu haben. Vor allem Hellmut Eckhardt, Geschäftsführer der „Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge“, und der Lehrer Knabe warfen ihm die Veruntreuung von Geldern vor. Würtz' alte Kollegen Eckhardt und Knabe übernahmen dann führende Rollen in der Krüppelfürsorge, noch während Würtz in Untersuchungshaft saß. Würtz wurde 1933 fristlos und ohne Pension entlassen und floh aufgrund von Warnungen Anfang April in die Tschechoslowakei. Er lebte dort in Prag bei seinem Freund und Kollegen Augustin Bartoš, der Arzt und Direktor des Prager Krüppelheims war. Am 12. Mai 1933 kehrte er nach Berlin zurück, um sich gegen die Vorwürfe der Untreue und Verschwendung von Spendengeldern des Oskar-Helene-Heims zu wehren. Kurz nach seiner Ankunft wurde er in „Schutzhaft“ genommen und am 22. Januar 1934 zu einem Jahr Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt. Am Tag der Haftentlassung verließ er Deutschland sofort wieder, nachdem er durch eine Erzieherin des Oskar-Helene-Heims eine Warnung erhalten hatte. Er ging erneut in die Tschechoslowakei und ließ sich zunächst in der sudetischen Stadt Neumark nieder. Von 1935 bis 1938 wechselte er mehrmals den Wohnort, bis er schließlich nach Wien ging. 1946 kam er erneut nach Berlin und stellte einen Antrag auf Straftilgung. Im Jahr 1947 wurde Würtz durch Aufhebung des Urteils von 1934 und der Tilgung seines Strafregisters rehabilitiert und übernahm 1949 den Posten des Kurators im Oskar-Helene-Heim. Nach seinem Tod 1958 wurde er auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet. Seine Grabstätte war von 1992 bis 2014 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. WerkKrüppelpädagogikAm Beginn des 20. Jahrhunderts war der Begriff „Krüppel“ ein gängiger Terminus. Das Wort „Krüppel“ ist heute verpönt, da der Gebrauch stigmatisiert. In der Fachwelt einigte man sich darauf, andere Begriffe wie „Menschen mit Körperbehinderung“ oder „Handicap“ zu verwenden. Würtz war ein Verfechter des Begriffs „Krüppel“. Er lehnte alle vorgeschlagenen Ersatzworte, wie beispielsweise „beschädigt“, „hilfsbedürftig“ oder „bresthaft“ ab, da diese nicht das bezeichnen, was in dem „Kraftwort“ Krüppel steckt. Dabei lieferte er eine rein lautmalerische Begründung:
Die Krüppelbewegung benutzte dieses Wort als Geusenwort bei ihren Aktionen, wie dem Krüppeltribunal in Dortmund 1981, einer der wichtigsten Protestaktionen der autonomen deutschen Behindertenbewegung gegen das Internationale Jahr der Behinderten 1981, gegen Menschenrechtsverletzungen in Pflegeheimen, in Werkstätten für Behinderte und in der Psychiatrie[3]. Die Krüppelpädagogik gilt als historisches Fundament der Sondererziehung körperbehinderter Kinder und stellt die Basis der heutigen Sonderpädagogik dar. Das Konzept der einseitigen Anpassung bei der Integration von Menschen mit Körperbehinderung bildete beispielsweise, laut Petra Fuchs, bis Ende der 1980er Jahre den Grundstein ihrer Fürsorge und Erziehung. Nach Fuchs betrachtete Würtz Menschen mit Körperbehinderung als „Minderwertige“, während er die professionellen „gesunden Krüppelpädagogen“ als „Höherwertige“ wahrnahm. Die Lösung des „Krüppelproblems“ mit dem Ziel der sozialen Eingliederung körperbehinderter Menschen lag nach Ansicht von Würtz in deren „Vermenschlichung“ und Anpassung an die „Kraftwerte der Gesunden“, ein Prozess, der sich seiner Ansicht nach nur unter Anleitung eines ethisch hoch stehenden „Krüppelerziehers“ vollziehen konnte, der „die Krüppel mit seiner eigenen Wesensfrische“ anstecke. Würtz unternahm außerdem den Versuch, eine eigenständige Krüppelpsychologie zu begründen. Der von ihm geprägte Begriff der Krüppelseele und die daraus resultierende Krüppelseelenkunde entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem fachwissenschaftlichen Terminus. Der Begriff der Krüppelseele schuf die Basis für eine monokausale Verknüpfung zwischen körperlicher Behinderung und psychischer Abweichung, in der Art, dass Würtz annahm, dass in einem „Krüppelkörper“ auch eine „Krüppelseele“ stecken müsse. Würtz setzte die natürliche Überlegenheit „Gesunder“ gegenüber „Krüppeln“ als selbstverständlich voraus. Schon das „Krüppelkind“ lebe „gleichsam in einem künstlichen Ghetto“, da es z. B. an der Bewegungsfreudigkeit der „normalen“ Kinder nicht im gemeinsamen Spiel teilnehmen könne. Die Folge: das „Krüppelkind“ werde „gar zu leicht noch menschenscheu, argwöhnisch, misstrauisch, empfindlich, übeldeutend und neidisch. Es bilde[t] sich ein psychischer Mechanismus heraus“ (Würtz 1932, S. 65). Die von Würtz unterstellten charakterlichen Mängel körperbehinderter Menschen beschrieb er als individuell verankerte Merkmale, die in und an den „Typen“ zu bekämpfen wären. Er sagte dazu:
Friedrich Malikowski, Mitglied und wichtiger Vertreter des „Selbsthilfebundes Körperbehinderter“ (auch als Perl-Bund bekannt), sowie sein Mitarbeiter Herbert Winkler warfen Würtz die Überbetonung einzelner Charakterzüge körperbehinderter Menschen ebenso vor wie sein rein phänomenologisches Vorgehen. Durch die Anwendung dieser Methode wurden die Lebensäußerungen von Menschen mit Körperbehinderung zu besonderer Bedeutung erhoben, während gleichwertige Äußerungen „Gesunder“ von Würtz nicht zu einem Vergleich herangezogen wurden. Winkler formulierte:
Malikowski kritisiert weiter, dass Würtz keine Beziehung zwischen der seelischen Entwicklung von körperbehinderten Menschen und den gesellschaftlich gegebenen Bedingungen herstellte, unter denen sie aufwuchsen:
Hinweise auf eine „potentiell harmonische Entwicklung behinderter Kinder“ existierten in den zahlreichen Veröffentlichungen und mündlichen Äußerungen von Hans Würtz überhaupt nicht. Malikowski hingegen sah eine Wechselbeziehung zwischen der Existenz körperbehinderter Menschen einerseits und der Gesellschaft andererseits und legte Würtz eine „mehr soziologische Betrachtungsweise“ nahe. Sondererziehungszwang und EingliederungHans Würtz und andere „Krüppelpädagogen“ hatten, so Petra Fuchs, schon aus berufspolitischer Sicht ein starkes Interesse am Ausbau der „Krüppelanstalten“, denn das Konzept der „Krüppelpädagogik“ war ohne die Einrichtungen und den Ausbau von „Krüppelheimen“ nach dem dreigliedrigen Prinzip – medizinische Behandlung, Erziehung und Unterricht sowie Berufsausbildung – nicht durchführbar. In seinem Buch „Das Seelenleben des Krüppels“ sagt Würtz:
Würtz war der Meinung, dass der „Krüppel“ für die Gemeinschaft erzogen werden muss und dass seine Arbeitsfähigkeit und -willigkeit die Hauptkriterien für seinen Wert darstellen:
Aus diesem Grund unterscheidet Würtz auch zwischen förderungswürdigen und -unwürdigen Krüppeln, denn die Gelder des Staates werden nur bei den Krüppeln nicht verschwendet, bei denen es möglich ist, sie vom „Almosenempfänger zum Steuerzahler“ (Biesalski) zu machen. Die Eingliederungsidee, die Würtz verfolgte, muss man deshalb also als assimilative Eingliederungsidee bezeichnen, bei der nur die körperbehinderten Menschen ihren Teil zur Eingliederung in die Gesellschaft beitragen sollten; die „Gesunden“ waren von dieser Eingliederungsarbeit nicht betroffen. Würtz' Stellung zur EugenikDie Bewertung von Würtz' Haltung und Mitverantwortung im Nationalsozialismus und beim Thema Eugenik ist unter Historikern, Pädagogen und Sonderpädagogen umstritten. Schriften (Auswahl)
Literatur
WeblinksCommons: Hans Würtz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Einzelnachweise
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