Gertrud Woker war die Tochter von Johanna Müller, Schwester des Schweizer Bundesrats Eduard Müller, und des altkatholischen Theologie- und Geschichtsprofessors Philipp Woker. Sie studierte ab 1900 Organische Chemie an der Universität Bern und schloss das Studium 1903 mit der Doktorpromotion ab. Anschliessend studierte sie Physikalische Chemie in Berlin. 1907 erhielt sie in Bern die venia legendi und war damit die erste Privatdozentin für Chemie an einer Schweizer Hochschule. Ihre Antrittsvorlesung über die katalytische Forschung umriss ihr Forschungsthema der nächsten Jahre. Ab 1911 leitete sie in Bern das Institut für physikalisch-chemische Biologie. 1917 wies sie auf die Giftigkeit von bleihaltigem Benzin hin und gab Vorschläge zur Herstellung von bleifreiem Motorenbenzin. Nach Vorliegen ihrer bahnbrechenden Arbeiten – und trotz ihres pazifistisch-wissenschaftskritischen politischen Standpunktes – erhielt sie 1933 eine ausserordentliche Professur, welche sie bis 1953 innehatte. Sie wurde zu einer der Wegbereiterinnen der Biochemie.
Seit dem Ersten Weltkrieg engagierte sie sich gegen den Krieg, schon mit Flugblättern gegen den Giftgaskrieg, ein Thema, das sie nach und nach ausbaute und in mannigfachen Formen und Auflagen darbot. Zudem arbeitete sie für die Rechte von Frauen und forderte das Frauenstimmrecht ein. 1907 hielt sie eine Rede auf der Versammlung des Deutschen Verbands für Frauenstimmrecht in Frankfurt a. M.[2] 1915 war sie Mitbegründerin der „Internationalen Frauenvereinigung für den dauernden Frieden“, die später in Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) umbenannt wurde. Zusammen mit Clara Ragaz unter anderem baute sie den Schweizer Zweig der IFFF auf und leitete ihn nach dem Tod von Clara Ragaz. Sie setzte sich sehr für Verbote von Chemie- und Gaswaffen ein.
Sie engagierte sich in der christkatholischen Kirche und war auch künstlerisch tätig. In Bern und in Düsseldorf sind nach ihr Strassen benannt.
2021 wurde ein ihr gewidmeter Dokumentarfilm veröffentlicht: Die Pazifistin – Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin.[3][4] Der Film begibt sich auf eine Spurensuche und erzählt in animierten Collagen. Die Historikerin Franziska Rogger gibt Auskunft.
Zitate
„Innerhalb weniger Jahre hat eine junge Schweizerin, Fräulein Gertrud Woker, an der Universität in Bern, folgende Examina bestanden: Abiturienten-, Sekundarlehrer-, Doktor- und Gymnasiallehrerexamen.“
„Die Universität Bern hat mit dem beginnenden Sommersemester ihren zweiten weiblichen Dozenten erhalten, nachdem vor etwa 7 Jahren die Russin Fräulein Dr. Tumarkin (inzwischen schon zur Professorin ernannt) einen kühnen Anfang gemacht mit ihren auch von dem stärkeren Geschlecht gern besuchten Vorlesungen philosophischen, speziell ethischen und ästhetischen Inhalts. Die neue, noch sehr junge Privatdozentin Fräulein Dr. Gertrud Woker beendete vor mehreren Jahren ihre chemischen Studien in Bern und wird nun ihre neue Karriere eröffnen mit der Antrittsvorlesung über das Thema: „Probleme der katalytischen Forschung“. Sie ist die Tochter des bekannten Geschichtsprofessors Philipp Woker, der selbst noch in jugendlicher Rüstigkeit seinem Berufe obliegt, und Bern erlebt also den gewiß seltenen Fall, Vater und Tochter nebeneinander an seiner Alma Mater als Lehrer wirken zu sehen.“
– Meldung in der Wiener Hausfrau vom 16. Juni 1907[6]
Probleme der katalytischen Forschung. Antrittsvorlesung, 1907
Die Katalyse. Die Rolle der Katalyse in der analytischen Chemie, in 4 Bänden, 1910–1931. (Teilbände 11/12, 21/22, 23/24 und 27/28 der 51-bändigen Serie Die Chemische Analyse. Sammlung von Einzeldarstellungen auf dem Gebiete der chemischen, technisch-chemischen und physikalisch-chemischen Analyse, Enke, Stuttgart, 1907–1962)
Selbstbiografie in: Führende Frauen Europas. In sechzehn Selbstschilderungen, hrsg. von Elga Kern, München : E. Reinhardt, 1928, S. 138–169
Giftgas und Tiere. Zürich: Zentralstelle für Friedensarbeit. 1928 (7S); auch als: Hidigeigeis Ende. Eine kleine Erzählung zum Nachdenken für Katzenfreunde, Schweizerischer Frauenkalender, Zürich 1929
Gas!. In: Das Tage-Buch 10. Jg. 1929, Heft 1 vom 5. Januar 1929, S. 13–16. (Digitalisat bei ÖNB-ANNO)
Bericht über biologischen Krieg. (11. Internationaler Kongress der IFFF, Kopenhagen, 15.–19. August 1949), Genf, 1949
Massenvernichtungs-Waffen. o .O., 1952
Die Chemie der natürlichen Alkaloide. Enke, Stuttgart (Teil 1 1953, Teil 2 1956), 732 Seiten
Die Gefährdung der Bevölkerung durch Atomexplosionsversuche In: Neue Wege 48/1954, S. 310–316 (Digitalisat bei E-Periodica)
An die Ewiggestrigen. Zürich (Genossenschaftsdruck), um 1957; zuerst in: Neue Wege 51/1957, S. 41–47 und S. 75–81 (Digitalisat Teil 1, Teil 2 bei E-Periodica)
Atomic Energy and alternative sources of power. Genf: Women’s International League for Peace and Freedom, 1957
Sind Reaktoren eine Volksgefahr? In: Neue Wege 51/1957, S. 205–212 (Digitalisat bei E-Periodica)
Atomaufrüstung auch in der Schweiz? Zürich: Pazifistische Bücherstube, 1958; zuerst in: Neue Wege 52/1958, S. 206–211 (Digitalisat bei E-Periodica)
Die 2. Konferenz der Vereinten Nationen zur Anwendung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken. In: Neue Wege 52/1958, S. 279–286 (Digitalisat bei E-Periodica)
Kampfgaspropaganda am laufenden Band. In: Neue Wege 55/1961, S. 96–98 (Digitalisat bei E-Periodica)
Rettet die Menschheit! Ansprache an dem am 6. Mai 1962 im „Hirschen“ in Lörrach stattgefundenen Deutsch-Französisch-Schweizerischen Friedenstreffen. In: Neue Wege 56/1962, S. 207–210 (Digitalisat bei E-Periodica)
Wie steht es mit der Achtung vor dem menschlichen Leben? 1963; zuerst in: Neue Wege 56/1962, S. 8–11 (Digitalisat bei E-Periodica)
Literatur
Lexikon der Frau. 2 Bände. Encyclios, Zürich 1953/1954, Bd. 2, Sp. 1653 f.
Majken Larsen: „Der Kampf der Frauen gegen die Hölle von Gift und Feuer“. Die IFFF, Gertrud Woker und die Giftgasdiskussion in der Schweiz der Zwischenkriegszeit. Lizentiatsarbeit, Universität Zürich, 1995.
Gerit von Leitner: Wollen wir unsere Hände in Unschuld waschen? Gertrud Woker (1878–1968), Chemikerin & Internationale Frauenliga 1915–1968. Weidler, Berlin 1998.
Rogger Franziska: Gertrud Woker, in: Der Doktorhut im Besenschrank – das abenteuerliche Leben der ersten Studentinnen – am Beispiel der Universität Bern, Bern 1999, ISBN 3-905561-32-8, S. 178–198.
Schweizerischer Verband für Frauenrechte (Hrsg.): Der Kampf um gleiche Rechte – Le combat pour les droits égaux. Schwabe, Basel 2009.
Woker, Gertrud, in: Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen: Ein Lexikon. Böhlau, Köln 2010, ISBN 978-3-412-20585-0, S. 944 (Google Books).
Bettina Vincenz: Biederfrauen oder Vorkämpferinnen? Der Schweizerische Verband der Akademikerinnen (SVA) in der Zwischenkriegszeit. Baden 2011, ISBN 978-3-03919-198-7.
Eine Wissenschaftlerin für den Frieden. Serie zu 40 Jahre Frauenstimmrecht: Die Berner Biochemikerin Gertrud Woker (1878–1968), in: Der Sonntag, Nr. 6 v. 13. Februar 2011, PDF