GebärdenchorUnter einem Gebärdenchor versteht man eine Gemeinschaft von Menschen, die Gesang in Gebärdensprache praktizieren. Während solche speziellen Chorgruppen sich früher vor allem aus gehörlosen Menschen zusammensetzten und meist im Bereich der Gehörlosenseelsorge angesiedelt waren, gibt es inzwischen mehrere gemischte Gruppen aus gehörlosen, ertaubten, schwerhörigen und hörenden Menschen. Zudem sind Gebärdenchöre heute teils ökumenisch orientiert oder konfessionell nicht gebunden. Zum Teil werden auch poetische Texte in Gebärdensprache vorgetragen, wofür sich der Begriff Gebärdenpoesie eingebürgert hat. GeschichteGebärdenchöre gab es ab etwa Anfang/Mitte der 1970er Jahre zunächst in den USA sowie vereinzelt in einigen anderen Ländern, zuerst meist als „Schulchöre“ an Gehörlosenschulen. Größtenteils entstanden sie jedoch erst seit Mitte der 1990er Jahre und später. Das späte Aufkommen steht im engen Zusammenhang mit der Geschichte der Gebärdensprachen. Die Gebärdensprache als solche war jahrzehntelang geächtet und Pädagogen war es seit Ende des 19. Jahrhunderts verboten, in Gebärdensprache zu unterrichten. Vorherrschende Meinung in fast allen Ländern der Welt war, dass Gehörlose sich besser im Lippenablesen und Artikulieren üben sollten. Erst seit den 1980er Jahren wandelte sich das Verständnis langsam auch in Deutschland, nachdem insbesondere der US-amerikanische Linguist William Stokoe ab 1960 sowie später weitere Sprachwissenschaftler die Gebärdensprache wissenschaftlich erforscht und als der Lautsprache ebenbürtig beschrieben hatten.[1][2] In den USA wurde Gebärdensprache teils schon ab den 1960er Jahren im Unterricht eingesetzt, insbesondere am damaligen Gallaudet College für Gehörlose in Washington, D.C. – aber auch (und oft unter „Gallaudet-Einfluss“) landesweit an verschiedenen anderen Gehörlosenschulen. In der Folge bildeten sich in den USA bereits in den 1970er und 1980er Jahren eine Reihe von Gebärdenchören. Zugleich wurden dort erste Liederbücher für Gebärdenchöre veröffentlicht (siehe Abschnitt Literatur). In Deutschland befasste sich ab Anfang der 1970er Jahre vor allem der Linguist Siegmund Prillwitz an der Universität Hamburg mit der Erforschung der Gebärdensprache und setzte sich für deren Anerkennung ein. Mitte der 1990er Jahre begründeten die Sprachwissenschaftlerinnen Helen Leuninger und Daniela Happ an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main die „Frankfurter Gebärdensprachforschung“ und befassten sich insbesondere mit der Deutschen Gebärdensprache (DGS).[2] In Zusammenarbeit mit gehörlosen, hörgeschädigten und hörenden Mitarbeitern von PAX, dem damals so benannten Förderverein der Katholischen Gehörlosenseelsorge in Frankfurt, wurden u. a. DGS-Lehrbücher herausgegeben, DGS-Kurse durchgeführt und Gebärdensprachdolmetscher ausgebildet.[2] Im Jahr 2002 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Bundesgleichstellungsgesetz (BBG), wodurch unter anderem die Deutsche Gebärdensprache (DGS) offiziell als eigenständige Sprache anerkannt wurde.[3] Der 1996 gegründete und bis 2006 tätige PAX-Gebärdenchor in Frankfurt am Main setzte unter Leitung von Daniela Happ die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Frankfurter DGS-Forschung in die Praxis um. Der Chor wirkte u. a. bei mehreren ZDF-Gottesdiensten mit. Außerdem gab er „Anregungen an andere Gehörlosengemeinschaften, ebenfalls Gebärdenchöre zu gründen“.[2] In der ev.-luth. Bayerischen Gehörlosenseelsorge brachte der Pfarrer Volker Sauermann (1939–2017) bereits in den 1970er Jahren die Idee von Gebärdenliedern und Gebärdenchören aus der Schweiz und den USA nach Bayern. Bis 2005 gab es eine Reihe von „ersten Versuchen, Neuentwicklungen und wegweisenden Traditionen“, aus denen sich die inzwischen koordinierte und stark geförderte Gebärden-Chorarbeit in Bayern entwickelte. 2005 wurde an der Zentrale der Evangelisch-Lutherischen Gehörlosengemeinde in Bayern (EGG Bayern) in Nürnberg die bayerische Gebärden-Kantorei gegründet, seit 2007 entstanden in verschiedenen bayerischen Gehörlosengemeinden mit Unterstützung der inzwischen so benannten Visuellen Gebärdenchor-Kantorei Bayern landesweit bereits mehrere Gebärdenchöre.[4] Die Zunahme von Gebärdenchören in Deutschland bewertete die Dortmunder Musikpädagogin Irmgard Merkt 2010 als „ein Zeichen zunehmenden Selbstbewusstseins“ von gehörlosen Menschen und als ein „Zeichen des Bewusstseins für die Ästhetik, die mit der Gebärdensprache verbunden ist“.[5] Beschreibung und DarbietungsformenEin Gebärdenchor begleitet gesungene Texte sowie Lieder, Popsongs und Opernarien etc. mit Gebärdensprache:[5]
– Irmgard Merkt: Musikkultur inklusiv, Dortmund 2010, S. 46 [5] Neben Übersetzungen von ausgewählten Liedern und Texten in Gebärdensprache, gibt es zunehmend auch Gebärdensprach-Lieder und Gebärdenpoesie, die von Gehörlosen direkt in Gebärdensprache komponiert werden. Zudem stehen inzwischen in verschiedenen (Laut-)Sprachen und den gebräuchlichen Gebärdensprachen einige Liedersammlungen für Gebärdenchöre zur Verfügung (siehe Abschnitt Literatur). Die Lieder oder Texte werden mittels Gestikulierung der Gebärdensprache und Mimik vorgetragen, wobei einige Gebärdenchöre teils auch mit Musik wie zum Beispiel Orgelbegleitung arbeiten. Der Dirigent eines Gebärdenchores dirigiert die Einsätze für die verschiedenen Bewegungsabläufe und koordiniert den Rhythmus. Manche Chöre gebärden die Lieder synchron, bei anderen tätigen die Mitglieder verschiedene Bewegungsabläufe. Einige Gruppen kombinieren Bewegung und Rhythmus bis hin zum Tanz oder zur Performance mit jeweils begleitenden Gebärden und entwickeln teils neue künstlerische Ausdrucksformen der Gehörlosenkultur.[5] In Deutschland verwenden Gebärdenchöre heute fast ausschließlich die Deutsche Gebärdensprache (DGS), während einzelne Chöre anfangs Lautsprachbegleitende Gebärden (LGB) einsetzten.[6] Die Lied- oder Prosatexte werden heute oft bei größeren Veranstaltungen – sowie, falls entsprechende technische Einrichtungen vorhanden oder leicht verfügbar sind, auch bei Auftritten im kleineren Rahmen – vom Notebook oder PC per Beamer auf Leinwand- oder helle Wandflächen projiziert, so dass sie von hörgeschädigten und hörenden Zuschauern oder Gottesdienstbesuchern mitgelesen werden können. Teils kommen auch schon Videowände zum Einsatz. Gebärdenchöre treten ähnlich wie Gesangschöre meist in einheitlicher Kleidung auf, wobei dunkle Farben und Langarm-Oberteile bevorzugt werden, damit die Gebärden der „hellen“ Hände gut erkennbar sind. Bei vielen Gebärdenchören werden deshalb von den Chormitgliedern zudem weiße Handschuhe getragen (siehe Bild). Insbesondere im kirchlichen Rahmen werden teils auch lange, intensivfarbige Schals getragen, wie man sie von Gospelchören oder Kirchentagen kennt.[1] Beispiele für GebärdenchöreInternationalAm Public School District von Saginaw in Michigan (USA) wurde 1977 ein Gebärdenchor für Grundschüler gegründet.[7] Der Liverpool Signing Choir (englisch „Gebärdenchor Liverpool“) in Liverpool, England, wurde 2000 an der Knotty Ash Primary School von Catherine Hegarty gegründet und hatte zehn Jahre später über 100 gehörlose und hörende Mitglieder im Alter von 6 bis 24 Jahren von einem Dutzend Liverpooler Schulen. Der Gebärdenchor verwendet in seinen Aufführungen eine Mischung aus Gebärdensprache und Gesang und hatte bereits zahlreiche Auftritte in ganz England, wie u. a. 2009 bei der Gedenkfeier zum 20. Jahrestag der Hillsborough-Katastrophe oder 2010 zusammen mit Cynthia und Julian Lennon bei der Einweihung des John Lennon-Friedensdenkmals im Chavasse Park in Liverpool.[8] Der Lowestoft Signing Choir (engl. „Gebärdenchor Lowestoft“) in Lowestoft, der „östlichsten Stadt Großbritanniens“, wurde 2003 gegründet und hat inzwischen etwa 45 hörgeschädigte und hörende Mitglieder (Stand 2017). Der freie Chor versteht sich als Teil des örtlichen Kulturangebots und arbeitet in British Sign Language (BSL). Er absolvierte bereits zahlreiche Auftritte bei verschiedenen Veranstaltungen meist im Ort und der lokalen Region und hat populäre Songs, Hymnen und traditionelle Lieder im Programm.[9] DeutschlandNach Schätzung des Berufsbildungswerks Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte (BBW Leipzig) gab es 2011 in Deutschland nur etwa ein Dutzend aktive Gebärdenchöre.[10] Bekannte Gebärdenchöre sind oder waren unter anderem:
Weitere deutsche Gebärdenchöre gibt es unter anderem in:
Im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2010 und des Projektes RUHR.2010 trat am „Day of Song“ – dem Tag des Liedes am 5. Juni 2010 – ein 30-köpfiger Projektchor von Gehörlosen unter Leitung des gehörlosen Gebärdensprachdozenten und Dirigenten Tomato Pufhan in der Veltins-Arena in Gelsenkirchen vor 80.000 Zuschauern auf und brachte ein Opernchorwerk in Gebärdensprache zur Aufführung. Auf Initiative der Dortmunder Musikpädagogin Irmgard Merkt und unter Regie von Jonathan Eaton inszenierte Pufhans Gebärdenchor beim Abschlusskonzert Verdi und präsentierte das „Lied der Gefangenen“ aus Nabucco.[22] ÖsterreichDer Gebärdenchor der Stadtpfarre Urfahr in Linz-Urfahr entstand 1999 auf Initiative von Pfarrer Helmut Part und ist bislang (Stand 2014) der einzige Gebärdenchor in Österreich. Er besteht aus Gehörlosen und Hörenden, hat etwa 10 Mitglieder (Stand 2017) und wird von Martha Svoboda geleitet. Der Gebärdenchor hatte bereits zahlreiche Auftritte, wie u. a. bei den Gottesdiensten der gesamtösterreichischen Gehörlosenwallfahrten und beim „Fest des Lebens“ im Neuen Dom in Linz.[23] Literatur
WeblinksCommons: Gebärdenchöre – Sammlung von Bildern
Einzelnachweise
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