Mit Kaiserin Maria Fjodorowna von Russland, über deren Vater Friedrich Maximilian Klingers gesellschaftlicher Aufstieg anfangs gelang, pflegte er zeitlebens eine aufrichtige Freundschaft.
Friedrich Maximilian Klinger war das zweite Kind des aus Pfaffen-Beerfurth im Odenwald stammenden Müllersohns Johannes Klinger (1719–1760)[6] aus dem seit 1483 in Beerfurth belegten Müllergeschlecht Klinger,[7][8] der das ehrbareSchneidergewerk bei seinem weitaus älteren Schwager, dem Hof-Schneidermeister des Grafenhauses Erbach erlernt haben dürfte.[9] Als Jäger in adeligen Diensten kam Klingers Vater nach Frankfurt am Main und ließ sich als Konstabler bei der städtischen Artillerie anwerben.
Der väterliche Großvater Friedrich Maximilian Klingers war laut einschlägigen biographischen Lexika der mit seinem Sohn gleichnamige Mühlenbesitzer und Schmied Johannes Klinger (1671–1743) aus Pfaffen-Beerfurth, der 1740 ebendort die Schulmeisterstelle versah.[10] Diese Angaben sind durch die Familiengeschichtsforschung im hessischen Odenwald mit direktem Bezug zur Familie Klinger bestätigt.[11]
Die väterliche Großmutter Klingers, in lexikalischen Publikationen oft fälschlich mit Geburtsnamen Müller genannt, hieß laut urkundlichen Belegen Anna Barbara Boßler (1674–1747).[11][12][13] Somit war Klinger über seine väterlich-großmütterliche Abstammung ein Großcousin des MusikverlegersHeinrich Philipp Boßler, dem Enkelsohn des hessen-darmstädtischen Hof-BüchsenmachersJohann Peter Boßler.[14] Der in hochfürstlichen Diensten stehende Darmstädter Büchsenmacher Boßler war der jüngste Bruder zu Friedrich Maximilian Klingers Großmutter väterlicherseits.[15][16]
Friedrich Maximilian Klinger erhielt seine Vornamen nach dem Patenonkel Friedrich Maximilian von Lersner (* 1735; † 1804). 1760 starb Klingers Vater, der vom Militär beurlaubt als Ordonnanz des Frankfurter Bürgermeisters sowie kaiserlichen RatsFriedrich Maximilian von Lersner diente, bevor er die ihm zugedachte Stellung als Verwalter des Leinwandhauses antreten konnte.[22] Seine Mutter Cornelia Margareta Dorothea geb. Fuchs, Kammerfrau am landgräflichen Hof zu Homburg, musste als Krämerin und Wäscherin den Sohn und die beiden Töchter ernähren. Obwohl Klinger in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, konnte er durch Förderung des Professors Zink das Frankfurter Gymnasium besuchen.
Bereits in Frankfurt knüpfte er ab 1772 Kontakte mit den Vertretern einer jungen Generation von Autoren, die sich um Goethe sammelten. Darunter fanden sich Jakob Michael Reinhold Lenz und Heinrich Leopold Wagner sowie andere Vertreter der Literatur. Seine Wohnung im Rittergässchen bot Raum für die Zusammenkünfte der Schriftsteller. Dank finanzieller Hilfe seines Jugendfreundes Goethe konnte er 1774 an der damaligen Ludwigs-Universität in Gießen ein Studium der Rechtswissenschaften beginnen.
Mit der BriefeschreiberinAlbertine von Grün war Klinger ebenfalls bekannt. Albertine schwärmte für den jungen, schönen Friedrich Maximilian Klinger, der diese Schwärmerei nur kurzzeitig erwiderte.[23] An Ludwig Julius Friedrich Höpfner schrieb Albertine von Grün über ihre Empfindungen für Klinger:
„Ob ich gleich keine Freundin von der Casuistik bin: so kann ich doch gewiß versichern, daß wenn Du und Klinger in gleicher Lebensgefahr wäret, und ich könnte nur einen von euch retten: so würde ich gewiß keinen Augenblick anstehen, Dich zu retten und ihn umkommen zu lassen. Aber alsdann würde ich mich auch ohne Bedenken nachstürzen.“
– Albertine von Grün: 23. Höpfner an seine Braut. In: Briefe aus dem Freundeskreis von Göthe, Herder, Höpfner und Merck[24]
Nach ersten Erfolgen als Theaterautor entschloss sich Klinger 1776, die Universität zu verlassen und zunächst nach Weimar zu gehen. Nach dem bis heute nicht aufgeklärten Bruch mit Goethe, der auf Goethes Ungehaltenheit über Klingers Studienabbruch und sein unangemeldetes Erscheinen in Weimar zurückzuführen sein soll,[25] schloss Klinger sich 1776 mit dem Manuskript seines neuen Stücks Sturm und Drang als Dramaturg der Schauspieltruppe Abel Seylers an. Goethe schrieb am 24. Juli 1776 über Klinger an Johann Heinrich Merck:
„Klinger kann nicht mit uns wandeln, er drückt mich, ich habs ihm gesagt, darüber er ausser sich war unds nicht verstund und ichs nicht erklären konnte noch mochte.“
– Johann Wolfgang von Goethe: Goethe über Klinger. In: Goethe-Jahrbuch[26]
Als der finanzielle Erfolg ausblieb, ließ sich Klinger von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser im Bayerischen Erbfolgekrieg zum Militär anwerben und zog von Sommer 1778 bis Frühjahr 1779 durch Böhmen. Nach Beendigung des Krieges kehrte er zu seinem Freund nach Emmendingen zurück, in der Hoffnung auf ein neues Empfehlungsschreiben. Nach Fürsprache des Komponisten Philipp Christoph Kayser wurde Klinger 1779 in die FreimaurerlogeModestia cum libertate in Zürich aufgenommen.
Die Verbindungen Schlossers führten dazu, dass sich Friedrich Eugen von Württemberg mit persönlichem Einsatz bemühte, Klinger, der selbst in Mömpelgard vorstellig wurde, eine Stellung zu verschaffen. Des Herzogs Engagement für und freundschaftliches Interesse an Friedrich Maximilian Klinger legte den Grundstein für dessen phänomenalen Aufstieg in kaiserlich russischen Diensten.[27] Diese Karriere begann im Marinebataillon und seit 1780 als Ordonnanzoffizier des russischen Thronfolgers, des GroßfürstenPaul in Petersburg.
Klinger war zugleich als Vorleser von dessen Gattin Sophie Dorothee von Württemberg tätig, die eine Tochter seines Förderers, des regierenden Herzogs von Württemberg gewesen ist. Mit der Kaiserin verband Klinger zeitlebens eine aufrichtige Freundschaft.[28]
Im Gefolge des Großfürsten unternahm er 1781 bis 1782 eine Europareise, die ihn durch Wien, Italien, Paris und Deutschland führte. Anschließend versuchte er sein Militärglück im Feldzug gegen die Türken, das angesichts der raschen Friedensverträge scheiterte. 1785 wurde er als Kadettenoffizier ins Petersburger Landkadettencorps, das spätere 1. Kadettenkorps, eingereiht, wo er Karriere als Militärpädagoge machte.
„Wenn eines Mannes Sohn Adjutant beim Kriegsminister ist, wie der junge Klinger, so lässt ein Diplomat, sobald er mit dem Vater spricht, Napoleon gegen Barklay für einen Schuljungen gelten.“
– Wilhelm von Wolzogen: Viertes Kapitel. In: Memoiren des Herzogs Eugen von Württemberg[31]
1801 wurde Klinger Generalmajor der Armee und Leiter des Kadettenkorps. 1802 wurde ihm die Leitung des Pagenkorps übertragen. Daneben diente er beim Ministerium für Volksbildung. Friedrich Maximilian Klinger hatte gewichtigen Anteil an der Reform der Elementarschulen im Baltikum.[32]
Ab 1803 war er Kurator des Schulbezirks und der Universität Dorpat im heutigen Tartu in Estland,[33] wo er unter anderem auch mit Karl Morgenstern und August Thieme in Kontakt kam. 1811 erreichte er noch den Rang eines Generalleutnants. Im Zuge der Restauration wurde er 1816 seiner Ämter enthoben. Daraufhin zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Klinger starb am 25. Februar 1831, acht Tage nach seinem 79. Geburtstag, in Dorpat.[34]
Als Goethe die Nachricht von Klingers Tod erreichte, sagte er:
„Das war ein treuer, fester, derber Kerl, wie keiner. In früherer Zeit hatte ich auch viele Qual mit ihm, weil er auch so ein Kraftgenie war, das nicht recht wusste, was es wollte.“
Klingers Großneffe Max Rieger fungierte als Biograph seines berühmten Großonkels Friedrich Maximilian von Klinger.[38] Riegers Tochter Elisabeth war wiederum mit dem Unternehmer Emanuel August Merck aus der Darmstädter Familie Merck verheiratet.[39]
Bedeutung
Klinger zählt zu den bedeutenden Dramatikern der literarischen Strömung Sturm und Drang. Sein der Epoche namensgebendes Schauspiel in fünf Akten kündigte zusammen mit weiteren Werken der 1770er die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik an.[40] Zunächst erschien das Drama 1776 jedoch als Der Wirrwarr. Erst auf Vorschlag Christoph Kaufmanns erhielt es den letztendlich der Genieperiode ihren Namen stiftenden Titel: Sturm und Drang. Weitere Werke der Geniezeit aus Klingers Feder sind Die Zwillinge und Simsone Grisaldo. In seinen Werken knüpfte er an dramaturgische Eigenheiten William Shakespeares und an philosophische Ansichten Jean-Jacques Rousseaus an. Sie beinhalten sowohl gesellschaftskritische als auch starke gefühlsorientierte Momente.
Ab etwa 1778 verfasste der Dichter unter anderem aus finanzieller Not eine Reihe von trivialen Romanen und Dramen, die Affinitäten zur Rokoko-Literatur aufweisen. In seiner späteren Schaffensperiode seit etwa 1785 orientierte er sich an den Regeln des französischen Klassizismus, die er mit den Idealen seiner Jugend zu versöhnen suchte. Repräsentativ für diese Zeit sind die Dramen Konradin, Der Günstling, die beiden Medea-Dramen und Damokles (1788).
Ab 1791 plante Klinger eine Dekade der philosophischen Romane, von denen lediglich acht vollendet und einer als Bruchstück überliefert wurden. Sie entstanden im Zeitraum 1791–1798. Faust’s Leben, Thaten und Höllenfahrt ist der bekannteste von ihnen. Klinger vereinigt in seinen philosophischen Romanen signifikante zeitgenössische Tendenzen in Literatur, Anthropologie und Philosophie und gilt somit als wichtiger Repräsentant der Spätaufklärung. In der kritischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung lehnt er sich besonders an Jean-Jacques Rousseau, aber auch an Voltaire und Immanuel Kant an.
Den Abschluss seiner Werke bildeten Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur, eine Sammlung von Aphorismen zu zeitaktuellen Themen. Klingers Betrachtungen finden sich in der umfangreichen Privatbibliothek Bertolt Brechts.[41]
Klinger führte einen umfangreichen Briefwechsel mit Goethe, mit dem er 1811 die alte Freundschaft wieder aufnahm, und mit vielen, die ihn in Sankt Petersburg und Dorpat besuchten, darunter Fanny Tarnow, Johann Gottfried Seume und Ernst Moritz Arndt.
Nach dem Tod des französischen Aufklärers, Philosophen und EnzyklopädistenDenis Diderot wurde dessen Bibliothek an den Zarinnenhof überführt, so das bislang in Frankreich unveröffentlichte Manuskript des Neveu de Rameau von 1761, das Klinger in der diderotschen Bibliothek fand und als Abschrift zunächst dem Verleger Johann Friedrich Hartknoch in Riga anbot, der aber eine Veröffentlichung ablehnte.
Arno Schmidt würdigte Friedrich Maximilian Klingers schriftstellerische Leistung in seiner Erzählung Brand’s Haide und fordert dazu auf, Klingers Werke zu lesen, und zwar mit einer Unerbittlichkeit, wie sie nur die Inquisition in ihrem Vorgehen kannte.[42] Der Germanist und Mitorganisator der Kafka-Konferenz, Pavel Reiman betrachtete Friedrich Maximilian Klinger als „einzigartiges Phänomen der Literaturgeschichte.“ Laut Reimann zählte Klinger darüber hinaus zu den größten Literaten der deutschen Nation, dessen literarisches Schaffen über die Titel seiner Werke hinaus allerdings nur der gelehrten Welt bekannt sind. Friedrich Maximilian Klinger reiht sich als hervorragender Schriftsteller neben Goethe und Herder ein.[43]
Klinger hatte mit seinen Schauspielen eine große Wirkung auf die zeitgenössischen Dichter.[44] Friedrich Schiller nannte Klinger als den Ersten, der unauslöschlich auf seinen Geist wirkte.[45] Folgende Generationen zeigten sich ebenfalls beeinflusst. So Georg Büchner.[46] Laut dem Germanisten Fritz Martini hatte Friedrich Maximilian Klinger über Büchner letztendlich sogar auf Bertolt Brecht Wirkung.[47]
Werke (Auswahl)
Otto (Ritterdrama), 1775
Das leidende Weib (Trauerspiel), Weygand, Leipzig 1775 (Digitalisat)
Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit (Roman), Hartknoch, Leipzig 1798 (Digitalisat)
Sahir, Eva’s Erstgeborener im Paradiese (Überarbeitung der Geschichte vom Goldnen Hahn), 1798
Der Weltmann und der Dichter (Roman), Hartknoch, Leipzig 1798 (Digitalisat)
Das zu frühe Erwachen des Genius der Menschheit (Romanfragment), 1803
Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur, 1803–1805
Zwischen 1809 und 1816 erschienen in Königsberg seine gesammelten Werke (hrsg. von Nicolovius) und 1810 in Wien Sämmtliche philosophischen Romane in jeweils zwölf Bänden.
Ritter des kaiserlich-russischen Ordens des Heiligen Georg , der 4. Klasse.
Die Verleihung aller Klassen der Orden des Heiligen Georg und des Heiligen Wladimir brachte die Erhebung in den erblichen Adelsstand mit sich, dessen Stand im Zarenreich Russland stets der des Dienstadels war.[49] Mit der 4. Klasse des Ordens des Heiligen Georg war außerdem der Rang eines Obersten verbunden.
Fritz Osterwalder: Die Überwindung des Sturm und Drang im Werk Friedrich Maximilian Klingers. Die Entwicklung der republikanischen Dichtung in der Zeit der Französischen Revolution.Erich Schmidt Verlag, Berlin 1979 (= Philologische Studien und Quellen; 96) ISBN 3-503-01288-5.
May Redlich: Lexikon deutschbaltischer Literatur. Eine Bibliographie. Herausgegeben von der Georg-Dehio-Gesellschaft. Verlag Wissenschaft und Politik Berend von Nottbeck, Köln 1989. ISBN 3-8046-8717-2, Eintrag S. 173–175.
Michael Müller: Philosophie und Anthropologie der Spätaufklärung. Der Romanzyklus Friedrich Maximilian Klingers. Wissenschaftsverlag Verlag Rothe, Passau 1992 (= Passauer Schriften zu Sprache und Literatur; 4), ISBN 3-927575-06-2.
Christoph Hering: Friedrich Maximilian Klinger. Der Weltmann als Dichter. Walter de Gruyter, 1. Auflage, Berlin 1966, (OCLC602597275).
Anna Poeplau: Selbstbehauptung und Tugendheroismus. Das dramatische Werk Friedrich Maximilian Klingers zwischen Sturm und Drang und Spätaufklärung. Königshausen & Neumann, Würzburg 2012 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften / Reihe Literaturwissenschaft; 751) ISBN 978-3-8260-4805-0.
↑Klinger wurde aufgrund seiner kaiserlich-russischen Orden in den Dienstadel erhoben. Das Adelsprädikat erschien lediglich im deutschsprachigen Raum, da die Titel im Russischen nicht im Namen erscheinen.
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↑ Die Geschwisterschaft zwischen der väterlichen Großmutter Friedrich Maximilian Klingers und dem väterlichen Großvater Heinrich Philipp Boßlers, die zu einer bemerkenswert nahen Verwandtschaft der unter Zeitgenossen berühmten Männer führte, ist den entsprechenden Amtsbüchern entnommen und mit Quellenangabe im Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 81/2023 dargestellt.
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