Flugzeugabsturz bei Gibraltar (1943)

Flugzeugabsturz bei Gibraltar

ein baugleiches Flugzeug

Unfall-Zusammenfassung
Unfallart ungeklärt
Ort Straße von Gibraltar
Datum 4. Juli 1943
Todesopfer 16 (wahrscheinlich)
Überlebende 1
Luftfahrzeug
Luftfahrzeugtyp Consolidated C-87
Betreiber Royal Air Force
Kennzeichen AL 523
Abflughafen Flughafen Gibraltar
Passagiere 11 (wahrscheinlich)
Besatzung 6
Listen von Luftfahrt-Zwischenfällen
Matrosen der Orkan bei der Eskortierung des Sarges von Gen. Sikorski von Plymouth nach London
Sikorski-Gedenkstätte in Gibraltar

Der Flugzeugabsturz bei Gibraltar war ein Flugunfall am 4. Juli 1943 um 23:06 Uhr Ortszeit.[1] Dabei stürzte eine zum Transportflugzeug umgebaute Consolidated Liberator der Royal Air Force nur 16 Sekunden nach dem Start auf dem Flughafen Gibraltar in die Straße von Gibraltar. Mit Ausnahme des Piloten starben bei dem Aufprall alle anderen 16 Passagiere und Besatzungsmitglieder, darunter der Ministerpräsident der polnischen Exilregierung, Władysław Sikorski, der sich mit Begleitung auf dem Rückflug von einer Inspektion des 2 Korpus Polski in Palästina befand, das er von der britischen RAF Basis Qastina aus verlassen hatte.

Die Absturzursache konnte nie geklärt werden. Bis heute werden Sabotage und ein Mordauftrag an Sikorski vermutet, Beweise dafür gibt es allerdings nicht.[2]

Todesopfer

Polen
Briten
Besatzung
  • C. B. Gerrie, Flight Sergeant
  • William S. Herring, Squadron Leader (nicht gefunden)
  • D. Hunter, Flight Sergeant (nicht gefunden)
  • F. Kelly, Sergeant
  • L. Zalsberg, Warrant Officer[4]

Amtliche Untersuchungen

Am 7. Juli 1943 setzte die Royal Air Force eine Untersuchungskommission aus eigenen Offizieren ein und ließ nur einen polnischen Offizier als Beobachter ohne Mitspracherecht zu. Sie teilte ihr Ergebnis nach wenigen Tagen in einem knappen Brief an die polnische Exilregierung mit: Der Absturz sei laut Aussage des ursprünglich aus Tschechien stammenden Piloten, Eduard Prchal, auf ein blockiertes Höhenruder zurückzuführen. Die Ursache der Blockade sei nicht zu klären, aber Sabotage sei auszuschließen. Prchal sei in keiner Weise verantwortlich gewesen.

Die polnische Luftwaffe wies dieses Ergebnis zurück: Die britischen Angaben beruhten nur auf den Aussagen des Piloten und seien nicht verifizierbar, da man nur Teile des Flugzeuges geborgen habe. Eine Kommission des polnischen Justizministeriums stellte fest: Die verfügbaren Materialien und Zeugenaussagen klärten weder die Unfallursache noch bewiesen sie Sabotage. Dazu müsse das Flugzeug vollständig gehoben und von unabhängigen Experten gründlich untersucht werden. Bis dahin müssten unbekannte Ursachen angenommen werden.

Der widersprüchliche britische Bericht führte zu der Annahme, hier werde möglicherweise ein Verbrechen vertuscht, und zu gegenseitigen Verdächtigungen von Polen und Briten, die die NS-Propaganda zusätzlich schürte.[5]

Nach neuen Zeugenaussagen von 1967 ordnete die britische Regierung 1969 eine zweite Untersuchung an. Diese stellte fest, dass das Flugzeug eine Zeitlang unbewacht auf dem Rollfeld gestanden und ein Unbekannter es betreten hatte. Sabotage sei daher nicht auszuschließen.

Im September 2008 leitete das staatliche polnische Institut für Nationales Gedenken wegen des Verdachts eines „kommunistischen Verbrechens“ Ermittlungen zu Sikorskis Todesursache ein.[6] Ab 25. November 2008 wurde sein Leichnam exhumiert und gerichtsmedizinisch mit DNA-Analysen und radiologisch untersucht. Man fand keine Hinweise auf einen Mord durch Erschießen, Erwürgen oder Vergiften, aber 66 durch den Absturz verursachte Knochenbrüche und Organschäden. Demnach starb er an diesen Verletzungen oder ertrank anschließend.[7]

Die polnischen Staatsanwälte wollten bei dieser Ermittlung auch britische Geheimakten zu Sikorskis Tod einsehen, die jedoch bis 2041 unter Verschluss bleiben sollen. Angebliche Aussagen verstorbener Zeugen für einen Auftragsmord ließen sich nicht belegen.[8] Sabotage oder eine gezielt herbeigeführte Notlandung des Flugzeuges wurden weiterhin nicht ausgeschlossen.[9]

Spekulative Mordthesen

Weil Sikorski das Anfang April 1943 entdeckte Massaker von Katyn (verübt 1940) damals international aufklären lassen wollte, drohte der sowjetische Diktator Josef Stalin mit dem Bruch der Anti-Hitler-Koalition. Der britische Premier Winston Churchill versuchte daher, Sikorski davon abzuhalten, das Internationale Rote Kreuz einzuschalten, jedoch erfolglos. Am 25. April 1943 brach Stalin die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung ab. Seitdem wurde immer wieder vermutet, Sikorski sei ermordet worden, um die Aufklärung des Massakers von Katyn zu verhindern.[10]

1947 behauptete der polnische General Gustaw Paskiewicz öffentlich, der polnische General Władysław Anders habe ihn aufgefordert, sich an einem Attentat auf Sikorski zu beteiligen. Er habe abgelehnt. Sikorski sei wegen seiner Bemühungen um einen Ausgleich mit der Sowjetunion ermordet worden. Historiker nehmen an, dass die Behauptungen Teil einer Nachkriegskampagne der kommunistischen Regierung Polens gegen Anders waren.[11]

Der Geschichtsrevisionist und spätere Holocaustleugner David Irving behauptete 1967, Churchill habe Sikorski umbringen lassen.[12] Rolf Hochhuth griff diese These in seinem Drama Soldaten (1967) auf. Er gab mündliche Mitteilungen mehrerer Zeitzeugen als Quelle an. Als Motiv nannte er, die britische Regierung habe gefürchtet, Stalin würde durch Sikorski womöglich „aus dem Kriege herausgeärgert, in einen Separatfrieden mit Berlin“.[13] Andere Autoren verdächtigten den britischen Agenten Kim Philby als Planer eines Attentats auf Sikorski. Philby war 1943 für die Sicherheit Gibraltars zuständig und erwies sich später als sowjetischer Doppelagent.[14]

Der argentinische Schriftsteller Carlos Thompson befragte von 1967 bis 1969 alle erreichbaren Zeugen des Absturzes und Hochhuths. Er kam zu dem Ergebnis, dass Hochhuth viele seiner Angaben frei erfunden und keine Fakten präsentiert habe. Ein Zeuge, der einen Mordauftrag Churchills verraten haben sollte, war unauffindbar.[15] Historiker sehen keine damalige Gefahr eines deutsch-sowjetischen Separatfriedens, da Stalin seit der Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 mit einem Sieg über Adolf Hitler rechnete.[16] Churchill hatte Sikorski nach der Entdeckung der Massengräber in Katyn im April 1943 in einem Brief an Stalin als „den bei weitem hilfreichsten Mann für das gemeinsame Ziel“ gelobt, „den Sie oder wir finden können“.[17]

Mehrere polnische Autoren haben Varianten der Mordthese veröffentlicht. Der Journalist und Historiker Dariusz Baliszewski nimmt an, Stalin habe mit Wissen Churchills Sabotage an dem Flugzeug befohlen, der sowjetische Botschafter Iwan Maiski habe diese durchgeführt und der überlebende Pilot habe im Auftrag des britischen Geheimdienstes einen Absturz vorgetäuscht. Das Doku-Drama Churchills Verrat an Polen (2011) beschrieb seine Anhaltspunkte dafür.

Filme

Literatur

  • Tadeusz A. Kisielewski: Gibraltar i Katyń: co kryją archiwa rosyjskie i brytyjskie. Dom Wydawniczy Rebis, 2009, ISBN 83-7510-443-4.
  • Justin Whiteley: Śmierć generała Sikorskiego. Wyd. Bellona, 2007, ISBN 978-83-11-10921-6.
  • Tadeusz A. Kisielewski: Zamach. Tropem zabójców generała Sikorskiego. Dom Wydawniczy Rebis, Poznań 2005, ISBN 83-7301-767-4.
  • Jan Bartelski: Disasters in the Air: Mysterious Air Disasters Explained. Airlife, 2001, ISBN 978-1-84037-204-5, S. 26–57.
  • Jan Bartelski: What did happen to General Sikorski? Aeroplane Monthly, I: September 1993, S. 12ff; II: Oktober 1993, S. 44ff
  • Wacław Subotkin: Tragiczny Lot Generała Sikorskiego, Fakty i Dokumenty. Krajowa Agencja Wydawnicza, Szczecin 1986, ISBN 83-03-01274-6.
  • Jerzy Klimkowski: Katastrofa w Gibraltarze: kulisy śmierci generała Sikorskiego. Śląsk, 1965
  • Stanisław Strumph Wojtkiewicz: Sikorski i jego żołnierze. T. Lemański, 1946
Commons: Flugzeugabsturz bei Gibraltar – Sammlung von Bildern und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Tadeusz Kisielewski: Zamach. Tropem zabójców generała Sikorskiego. Poznań 2006, S. 169–170.
  2. Andrzej Paczkowski: The Spring Will Be Ours: Poland and the Poles from Occupation to Freedom. Pennsylvania State University, 2003, ISBN 0-271-02308-2, S. 113.
  3. a b Hansard: Death of Members. UK Parliament, 6. Juli 1943, abgerufen am 11. September 2019.
  4. Opfernamen in New York Times, 6. Juli 1943: Sikorski is killed in Airplane Crash; Others of 16 Dead Are Polish Premier's Daughter, Chief of Staff and Cazalet, M.P. (englisch, kostenpflichtig)
  5. Michael Alfred Peszke, Piotr Stefan Wandycz: The Polish Underground Army, the Western Allies, and the Failure of Strategic Unity in World War II. Mcfarland, 2004, ISBN 978-0-7864-2009-4, S. 102-104.
  6. Instytut Pamięci Narodowej (3. September 2008): Śledztwo w sprawie śmierci generała Władysława Sikorskiego (Memento des Originals vom 1. Dezember 2008 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ipn.gov.pl (polnisch)
  7. BBC, 29. Januar 2009: No evidence Polish hero murdered; Instytut Pamięci Narodowej: Śledztwo w sprawie katastrofy w Gibraltarze
  8. Rainer Blasius: Doch ein Mord aus Staatsräson? Rolf Hochhuth soll polnischer Staatsanwältin helfen, den Tod von General Sikorski aufzuklären. FAZ, 2. September 2011
  9. Prokurator Oddziałowej Komisji… (Memento vom 26. August 2014 im Internet Archive) (Instytut Pamięci Narodowej)
  10. George Sanford: Katyn and the Soviet massacre of 1940: truth, justice and memory. 2005, S. 193.
  11. Halik Kochanski: The Eagle Unbowed: Poland and the Poles in the Second World War. Penguin, 2013, ISBN 1-84614-358-6, S. 347.
  12. David Irving: Accident – The Death of General Sikorski. 1967, ISBN 0-7183-0420-9.
  13. Rolf Hochhuth: Brief an Golo Mann. (Undatiert, Anfang April 1967). In: Tilmann Lahme, Kathrin Lüssi (Hrsg.): Golo Mann: Briefe 1932–1992. Wallstein, 2006, ISBN 3-8353-0003-2, S. 410.
  14. Bruce Page, David Leitch, Philip Knightly: The Philby Conspiracy. (1969) 2. Auflage, Ballantine Books, New York 1981, ISBN 0-345-29726-1.
  15. Carlos Thompson: Die Verleumdung des Winston Churchill. (1969) Droemer-Knaur, München/Zürich 1980, ISBN 3-426-03619-3.
  16. Roy Berkeley: A Spy's London. Pen and Sword, 1994, ISBN 1-4738-1160-0, S. 35 f.
  17. Sarah Meiklejohn Terry: Poland's Place in Europe. General Sikorski and the Origin of the Oder-Neisse Line, 1939–1943. Princeton University Press, 2014, ISBN 1-4008-5717-1, S. 343.