Flucht (Motette)Flucht ist eine Motette für Doppelchor und Schlagzeug von Frank Schwemmer. Sie entstand 2015 als Auftragswerk der Hoffbauer-Stiftung Potsdam für den RIAS Kammerchor und die Junge Kantorei Hermannswerder. InhaltZu jeder Zeit und in allen Regionen der Welt mussten Menschen vor Gewalt und Not fliehen. Und obwohl das Leid, seine Heimat und oft auch alle Menschen, die man liebt verlassen zu müssen in der Menschheitsgeschichte sicher immer ähnlich war und ist, hat sich an der Organisation, dem Fluchtziel und der Fluchtdurchführung durch die globale Vernetzung in den letzten Jahrzehnten vieles verändert. So ist das Mobiltelefon zu einem komplexen Rettungs- und Überlebenssystem geworden, mit dem man nicht nur Kontakt zur Heimat und zu weitverstreuten Angehörigen halten kann, sondern auch per GPS und Landkarten seinen Weg finden kann, per Online-Banking Geld empfangen und senden kann. GestaltungMusikFlucht ist eine doppelchörige Motette für zwei gemischte Chöre und Schlagzeug (Marimbaphon, vier Woodblocks, zwei Tomtoms, Bass drum). Die Besonderheit der Komposition besteht unter anderem darin, dass die Partie des zweiten Chores durch einen Laienchor ausgeführt werden kann, während der erste Chor aus professionellen Sängern bestehen sollte. Programmatische Situation und musikalische UmsetzungErster Teil Ein kurzes Intro des Marimbaphons baut durch unregelmäßige Pausen und schnelle Crescendi-Decrescendi Spannung auf. Jemand wartet. In die Spannung hinein ertönt der Benachrichtigungston eines Mobiltelefons aus dem Publikum. Die beabsichtigte Irritation löst sich als musikalisches Element auf, indem in den Chören zahlreiche kurze Töne anzeigen, dass die Benachrichtigungstöne das Stück in Bewegung bringen. Etwas ist geschehen (Hat vielleicht der Schlepper eine Nachricht gesendet? Ein Verwandter aus Europa? Informiert die Nachricht über einen bevorstehenden Angriff?) Die zunehmende Unruhe vor dem Aufbruch ins Ungewisse, schafft sich in unwillkürlichem Summen Raum, das sich bis ins schwer Erträgliche steigert. Was soll ich mitnehmen? Geld? Ausweise? Nein. Vor allen Dingen das Mobiltelefon und das Ladegerät. Dann beginnt, zum Text der Zahlen der GPS-Positionen eine lange Wanderung. Nach einiger Zeit wird der monotone Marsch durch laut gerufene, unverständliche Verbote durchbrochen. Wir begegnen dem musikalischen Äquivalent eines fremdsprachigen Verbotsschildes. Die meisten Menschen werden dieser Situation im Ausland schon begegnet sein. Man trifft auf ein schreiendes Schild und weiß nur: Das sagt mir bestimmt nichts Einladendes. Worin aber die Aufschrift besteht, also „Achtung Lebensgefahr“, „Vorsicht bissiger Hund“, „Betreten verboten“ oder nur „Parkverbot“ können wir nicht verstehen. Wir empfinden den Verlust der Heimat im Verlust der Sprache. Die Sprechfuge der Verbotsschilder stoppt die Reise immer mehr ab, bis sie völlig zum Stillstand kommt. Zweiter Teil Man findet sich in einer amorphen Gruppe von Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen. Das Intermezzo des Schlagzeugs mag die Stimmungen spiegeln. Die Welt verschiebt sich. Sind wir noch im Heute? Sind wir in biblischen Zeiten? Hier kommen die Texte der Psalmen zum Tragen, die uns klarmachen, dass Flucht seit Jahrtausenden Schrecken und Furcht auslöst. Die Verwendung der Bibeltexte in verschiedenen Sprachen, zeigt das Problem der Vertreibung als ein globales. Der Hilfeschrei zu Gott bricht auf dem Höhepunkt erschöpft ab. In einer zärtlichen Musik von Solostimmen werden die Namen der zurückgelassenen, geliebten Menschen erinnert. Und doch werden die Erinnerungen an die Liebsten zu Hause im Hintergrund andauernd und zunehmend durch das Wispern der juristisch und organisatorisch unverständlichen Realität gestört. Dritter Teil Wir begegnen dem in vielen Religionen vertretenen Ideal der Leidensfähigkeit und Geduld. Die Aufforderung, Gott bei allen Qualen, oder sogar für diese, zu danken, wird immer autoritärer und in der Strenge beinahe als verzweifelt hörbar. Ist in den letzten Dankesworten des ersten Chores noch Hoffnung und Überzeugung? Die unbarmherzig, entseelt crescendierenden Texte aus den Asylgesetzen und Verordnungen schneiden diese Frage ab. TextTexte von Verbotsschildern (Ursprungssprachen und ungefähre Übersetzungen)
Verwendete Namen
Psalm 107 (Lutherbibel):
Texte aus Asyl- und Aufenthaltsgesetzen, sowie amtlichen Verordnungen
– Deutsche Gesetzbücher WerkgeschichteDie Doppelchörige Motette Flucht wurde durch den RIAS Kammerchor und die Hoffbauer-Stiftung Potsdam auf Anregung von Matthias Salge in Auftrag gegeben. Ihre Uraufführung fand am 2. Juli 2016 in der Inselkirche Hermannswerder, im Rahmen des Abschlusskonzertes der Chorpatenschaft des RIAS Kammerchores mit der Jungen Kantorei Hermannswerder statt. Die Leitung hatten Martina Batič und Matthias Salge. Das Schlagzeug spielte Franz Bauer. Das Konzert wurde von Deutschlandradio Kultur übertragen.[1] WeblinksEinzelnachweise
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