Eisenbahnunfall von Bellinzona
Der Eisenbahnunfall von Bellinzona war der Zusammenstoss zweier Schnellzüge der SBB am 23. April 1924 um 2:30 Uhr beim Güterbahnhof San Paolo, 1,2 Kilometer nördlich des Bahnhofs Bellinzona. Unmittelbare Ursache des Unglücks war das Überfahren eines geschlossenen Signals.[2] Der Unfall forderte 15 Tote und 10 Schwerverletzte.[3] AusgangslageWeil der Nachtschnellzug Nr. 51 von Mailand nach Basel stark verspätet war, verkehrte er in zwei Teilen: Der Schweizer Teil des Zuges fuhr in der regulären Fahrplanlage, die aus Italien kommenden Wagen folgten als Nachläufer 46 Minuten später. Dieser Zug 51b war mit den beiden Be 4/6 12342 und 12329 bespannt. Dahinter lief ein Heizwagen, es folgten zwei Personenwagen der damaligen ersten und zweiten Klasse. Das war zunächst ein älterer badischer Wagen in Holzbauweise nach Dortmund, der für seine Gasbeleuchtung in zwei Tanks unter dem Wagenboden 1,2 Kubikmeter Gas mitführte. Dann folgte ein italienischer Stahlkastenwagen nach Basel.[4][5] Danach waren fünf Personenwagen und der Schlafwagen Genua–Basel eingereiht. Wegen der Osterfeiertage am 20./21. April 1924 war der Zug sehr stark besetzt. Die Reisenden waren international gemischt: Bei der italienischen Passkontrolle befanden sich 52 Italiener, 45 Deutsche (darunter der ehemalige deutsche Vizekanzler und Reichsminister Karl Helfferich von der DNVP), 15 Schweizer, 4 US-Amerikaner, 2 Norweger, 2 Tschechoslowaken, 2 Franzosen und 2 Briten im Zug 51b. Zunächst wurde befürchtet, dass sich der italienische Gesandte in Kopenhagen, Graf della Torre, unter den Fahrgästen befinden könnte.[6] Er hatte in Lugano jedoch den fahrplanmässig verkehrenden Zug bestiegen. In der Gegenrichtung verkehrte der Zug Nr. 70 mit je einem Zugteil aus Basel und Zürich, die in Arth-Goldau vereinigt worden waren, nach Mailand. Der Zug bestand aus der Be 4/6 12322 als Zug- und der Be 4/7 12502 als Vorspannlokomotive, einem Heizwagen hinter den beiden Elektrolokomotiven, einem Gepäckwagen[7] und den Reisezugwagen in schwerer Stahlbauart.[6] Der Lokomotivführer der Vorspannlokomotive war normalerweise im Rangierdienst eingesetzt und führte den Schnellzug nur wegen des hohen Verkehrsaufkommens zu Ostern.[8] Auf der Talfahrt der Gotthardrampe befand sich zunächst der um 55 Minuten verspätete Güterzug 8572 vor dem Zug Nr. 70. UnfallhergangEine unglückliche Verkettung mehrerer Versäumnisse gilt als Unfallursache:
Durch die Wucht des Zusammenstosses wurden die vier Lokomotiven und die Wagen der beiden Züge ineinandergestossen und stark beschädigt. Unmittelbar nach der Kollision entzündete sich Gas aus dem badischen Wagen des Zuges 51b, der in den davor eingereihten Heizwagen geschoben wurde. Die beiden Wagen und der nachfolgende italienische Wagen gerieten in Brand.[6] Der hinter den Lokomotiven des südwärts fahrenden Zuges 70 eingereihte Heizwagen und der nachfolgende Gepäckwagen funktionierten als Schutzwagen. In diesem Zug starben die beiden Lokomotivführer; Reisende wurden nicht verletzt.[1][6] Wegen des Baus eines elektrischen Stellwerks im Bahnhof Bellinzona hatten die im Betrieb gestandenen Streckeneinrichtungen nur provisorischen Charakter.[11] Dadurch fehlte die Signalabhängigkeit des nördlichen Einfahrsignals von der Einfahrweiche in den Rangierbahnhof San Paolo.[2] Die fehlende Signalabhängigkeit war jedoch nicht mitverantwortlich für den Zusammenstoss. Die SBB betonten nach dem Unfall, dass die Sicherungsanlage so eingerichtet war, dass Unfälle nur beim gleichzeitigen Begehen mehrerer schwerwiegender Fehler passieren konnten.[2] Zum Zeitpunkt des Unfalls waren die vorhandenen Signaleinrichtungen in Ordnung.[12] FolgenDurch den Unfall kamen neun Reisende,[13] fünf Eisenbahner – darunter der Lokomotivführer, der das geschlossene Signal überfahren hatte – und ein blinder Passagier im Heizwagen von Zug 51b ums Leben.[12] Zehn verletzte Reisende und drei Eisenbahner wurden ins Stadtspital Bellinzona eingeliefert.[14] Die meisten der getöteten Fahrgäste sassen im badischen Wagen mit Gasbeleuchtung, der nach Aussage des Kondukteurs mit 10 Personen besetzt war.[1] Die Identifizierung der Toten war schwierig, weil die Leichen zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verkohlt waren.[6] Unter den toten Fahrgästen befanden sich auch der ehemalige deutsche Vizekanzler und preussische Staatsminister Karl Helfferich und seine Mutter Auguste,[15] die im badischen Wagen gereist waren. Nach der Verschiebung des am 23. November 1925 begonnenen Gerichtsprozesses behauptete die alldeutsche Presse, der Unfall sei ein von der Freimaurerei vorbereiteter Zugzusammenstoss gewesen, um Helfferich zu beseitigen.[16] Vor dem Nationalrat hielt Bundesrat Robert Haab das Fehlverhalten des Führers der Vorspannlokomotive von Zug 70, der Bahnhofvorstände von Ambri-Piotta und Bellinzona und des Weichenwärters von San Paolo fest.[17] Das Ergebnis der vom Staatsanwalt des Bezirkes Sopraceneri geführten Untersuchung führte zum gleichen Resultat wie die administrative Untersuchung.[18] Die Schäden an den vier fast neuen Elektrolokomotiven waren schwerwiegend, aber mit 1,3 Millionen Franken geringer als zunächst befürchtet.[6][13] Sie wurden in der nahe gelegenen Hauptwerkstätte Bellinzona wieder hergerichtet,[19] wobei die SLM neue Führerstände für die Lokomotiven lieferte.[20] Bereits nach dem Unfall von Mühlheim am Main, wo eine Gasexplosion die Unfallfolgen verschlimmerte, ersetzten die meisten europäischen Bahnverwaltungen die Gasbeleuchtung durch elektrisches Licht.[6] Unmittelbar nach dem Unfall von Bellinzona wurde in der Schweiz der Einsatz von Wagen mit Gasbeleuchtung verboten. Die fortschreitende Elektrifizierung des SBB-Netzes führte zu einer noch grösseren Gefahr durch solche Wagen.[3] Die Vorschriften wurden dahingehend geändert, dass Signale erst auf Fahrt gestellt werden dürfen, nachdem alle zu einer Fahrstrasse gehörenden Weichen in die richtige Stellung gebracht wurden.[20] Die Kollision hätte verhindert werden können, wenn vom geschlossenen Signal selbsttätig eine Zwangsbremsung des Zuges Nr. 70 ausgelöst worden wäre. Durch den Unfall wurde die Entwicklung der Integra-Signum-Zugsicherung angestossen. Literatur
Einzelnachweise
Koordinaten: 46° 12′ 7,6″ N, 9° 2′ 12,5″ O; CH1903: 723350 / 117995 |