Dictyostelium discoideum

Dictyostelium discoideum

Fruchtkörper von Dictyostelium discoideum

Systematik
Domäne: Eukaryoten (Eukaryota)
ohne Rang: Amorphea
ohne Rang: Amoebozoa
ohne Rang: Dictyostelia
Gattung: Dictyostelium
Art: Dictyostelium discoideum
Wissenschaftlicher Name
Dictyostelium discoideum
Raper

Dictyostelium discoideum ist eine weltweit vorkommende Art der Schleimpilze und lebt als Einzeller im Boden. Ausgelöst durch Nahrungsmangel schließen sich viele der einzelligen Amöben zu einem vielzelligen Verband („soziale Amöbe“) zusammen und bilden an einem langen Stiel einen Fruchtkörper aus, aus dem Sporen entlassen werden.

Die Art ist seit ihrer Entdeckung im Jahr 1935 zu einem bedeutenden Modellorganismus der Biologie geworden.

Merkmale und Lebenszyklus

Lebenszyklus von Dictyostelium discoideum

Der Lebenszyklus von Dictyostelium gliedert sich in Wachstumsphase und Entwicklungsphase. Im Wechsel von Wachstums- zu Entwicklungsphase entsteht aus einer Population individueller Amöben ein echter vielzelliger Organismus aus zwei Geweben mit differenzierten Zellen: später absterbender, Gerüst werdender, toten Stielzellen und keimungsfähigen Sporen.

Wachstumsphase

Dictyostelium discoideum ist in der vegetativen Phase eine haploide, einzellige und einkernige Amöbe von unregelmäßiger Gestalt und einem Durchmesser von rund 10 bis 20 Mikrometer. Eine Zellwand fehlt, die Zelle wird nur durch eine Zellmembran abgeschlossen. Sie weist zahlreiche Scheinfüßchen und Nahrungsvakuolen auf.[1]

Bei ausreichender Verfügbarkeit von Nahrung lebt Dictyostelium discoideum als Einzeller und vermehrt sich durch Zellteilung. Es ernährt sich von Bodenbakterien, die es aufnimmt, indem es sie umfließt und so in eine Vakuole einschließt (Phagozytose).[1]

Danach verbinden sich Vakuolen mit Verdauungsenzymen, den Lysosomen, und das Bakterium wird verdaut. Zwischen zwei Zellteilungen phagozytiert D. discoideum circa 1000 Bakterien. Dictyostelium bewegt sich, indem es Zellfortsätze, sogenannte Scheinfüßchen bildet, die es nach vorne ausstreckt und dann den Zellkörper nachzieht. Wie bei den Bewegungen der menschlichen Muskelzellen funktioniert das auch hier durch die Zusammenarbeit von Aktin- und Myosin-Filamenten. Mit diesen Bewegungen reagieren sie auf chemische Reize (Chemotaxis), also sozusagen auf den Geruch der Bakterien, von denen sie sich ernähren oder später bei der Schleimpilzbildung auf die Botenstoffe ihrer eigenen Artgenossen.

Hungerphase

Unterschreitet das Verhältnis zwischen der Menge an verfügbarer Nahrung und der Populationsdichte der Amöben einen kritischen Wert, geht D. discoideum aus der vegetativen Wachstumsphase in eine Entwicklungsphase über, die durch grundlegende morphologische Veränderungen und unterschiedlicher Genexpression gekennzeichnet ist.

Die Amöben sind in der Lage mittels eines Glykoproteins, dem Pre-Starvation-Faktor (PSF), das Verhältnis von Populationsdichte zu bakterieller Nahrungsquelle zu erkennen. Dieser Faktor wird während der G2-Phase des Zellzyklus synthetisiert, sezerniert und akkumuliert im nahen Umgebungsfeld der Amöbe. Wird ein definiertes Konzentrations-Verhältnis überschritten, wird die Hungerphase eingeleitet, die den Transit zur Entwicklungsphase darstellt. In der Hungerphase beginnen erst einige Amöben pulsierend cAMP als Hungersignal auszuscheiden (sezernieren). Es wird unmittelbar über eine Signalkaskade die Entwicklungsphase eingeleitet. Der unmittelbare weitere Verlauf der Signalkaskade ist noch nicht genau aufgeklärt.

Entwicklungsphase

Streaming

Von einigen Amöben sezerniertes cAMP lockt andere Amöben an, die dann ihrerseits cAMP produzieren und sezernieren. Das sezernierte cAMP leitet die Chemotaxis ein, die dazu führt, dass die Amöben beginnen, sich in die Richtung auf die höher frequenten cAMP-Pulse zuzubewegen. Dies führt zur Ausbildung der typischen verästelten Bahnen. Aufgrund der cAMP-Ausschüttung auf der der Bewegungsrichtung abgewandten Seite der Zelle bildet sich eine „Head to tail“-Formation.

Pseudoplasmodium

In Folge aggregieren 50.000 bis 100.000 Amöben und formieren sich zu einem Pseudoplasmodium, auch „Mound“ genannt (engl. für „Hügel“). Dabei fusionieren die Zellen jedoch nicht, sondern bilden einen multizellulären Verband, der eine Populationsdichte von mindestens 400 Zellen/mm² hat. Bereits zu diesem Zeitpunkt kommt es zu einer Veränderung der Aktivität der entwicklungs-relevanten Gene und damit zu einer Differenzierung der Zellen in die zwei verschiedenen Zelltypen: Prä-Sporenzellen und Prä-Stielzellen.

Slug

Im weiteren Verlauf der Entwicklung entsteht aus dem „Mound“ ein „Slug“ (engl. für „Nacktschnecke“). Dieser Slug, von einer Schleimschicht umgeben, ist in der Lage, auf phototaktische, chemotaktische oder thermotaktische Reize mit Bewegung zu reagieren. Im Slug-Stadium erfolgt die Einstellung des Gleichgewichts aus circa 20 % Prä-Stielzellen und 80 % Prä-Sporenzellen und deren Sortierung. Die Sortierung wird über die unterschiedliche Sensitivität der zwei Zelltypen gegenüber cAMP gesteuert. Die Prä-Stielzellen sammeln sich aufgrund einer erhöhten cAMP-Sensitivität im vorderen Bereich des Slugs, während die Prä-Sporenzellen den restlichen Slug bilden.

Finger-Stadium

Im weiteren Verlauf kann der Slug gleich in die Kulmination übergehen oder aber umherwandern. Dies dient der Suche einer geeigneteren Stelle für die Kulmination. Dabei streckt sich der Slug in die Höhe (Finger-Stadium), nach dem es vorher schneckenartig umher gewandert ist (wandernder „slug“).

Kulmination

Im Lauf der weiteren Entwicklung wird an der Spitze des Slugs ein cAMP-Gradient ausgelöst, indem die Prä-Stielzellen vermehrt extrazelluläre cAMP-Phosphodiesterasen exprimieren. Die Abnahme der cAMP-Konzentration an der Slug-Spitze löst die Kulmination aus.

Mexican Hat

Es bildet sich an der Basis eine Stielröhre, an deren Kopfende sich die Prä-Stielzellen befinden („mexican hat“). Die Prä-Stielzellen schwellen durch Vakuolisierung an und sterben dann ab; gleichzeitig werden die Prä-Sporenzellen in die Höhe gehoben. Sie kondensieren durch Abgabe von Wasser, umgeben sich zum Schutz vor Hitze und Trockenheit mit einer Mukopolysaccharidhülle und gehen dann in einen Ruhezustand über. Der Sporenkopf wird durch die „upper“ und „lower cups“ am Stiel des Fruchtkörpers fixiert.

Fruchtkörper

Den Abschluss des Entwicklungszyklus bildet der Sporokarp („Fruchtkörper“). Dieser besteht aus toten Stielzellen, keimungsfähigen Sporenzellen und einer Basalscheibe zur Verankerung auf dem Substrat. Die ovalen Sporen sind gegenüber Hitze und Austrocknung unempfindlich und in der Lage, unter geeigneten Umweltbedingungen wieder als Einzeller auszukeimen und einen neuen Entwicklungszyklus einzuleiten.

Das Genom

Das haploide Genom im Zellkern von D. discoideum ist etwa 34 Mb groß und codiert für 12.000 bis 13.000 Gene. Die Gene sind auf 6 Chromosomen verteilt, welche zwischen 4 und 7 Mb groß sind. Einen weiteren Bestandteil des Genoms machen die etwa 90 Kopien eines 88 kb großen extrachromosomalen Palindroms[2] aus, welche für die rRNAs 5S, 5,8S, 17S und 26S der ribosomalen Untereinheiten 40S und 60S die Ribonukleinsäuren codieren. Sie sind ebenfalls im Zellkern lokalisiert und machen 23 % der DNA im Zellkern aus. Des Weiteren befinden sich in jeder Zelle ungefähr 200 Mitochondrien mit je einer Kopie einer circa 55 kb großen mitochondrialen DNA, die hauptsächlich für Gene des Energie-Stoffwechsels codiert.

Das Dictyostelium-Genom-Projekt, das von einem internationalen Konsortium durchgeführt wird, hat sich 1998 zum Ziel gesetzt, das gesamte Genom von D. discoideum, Stamm AX4 zu sequenzieren, wobei die Sequenzierung der sechs Chromosomen auf verschiedene Arbeitsgruppen (Jena, Köln, Houston, Paris und Hinxton) verteilt wurde. 2005 wurde die Sequenzierung der Chromosomen abgeschlossen und im Internet veröffentlicht.[3] Das Dictyostelium-Genom wird die systematische Aufklärung der Funktionen vieler Gene ermöglichen und durch Vergleich mit Gen-Sätzen anderer Organismen eine eindeutige Aussage zur phylogenetischen Einordnung machen können.

Systematik und Forschungsgeschichte

Dictyostelium discoideum zählt zu der Reich (Supergruppe) Amoeobozoa (umgangssprachlich als Amöben bezeichnet) und hier zu der Gruppe der Dictyostelia. Früher wurde die Art zu der Abteilung der Acrasiomycota (Acrasiomyceten) gestellt und hier innerhalb der Ordnung Dictyosteliales geführt. Zelluläre Schleimpilze ist ein umgangssprachlicher Name für die Acrasiomyceten.

Dictyostelium discoideum wurde 1935 von Kenneth Bryan Raper erstbeschrieben, der sich in der Folge fast 50 Jahre der Erforschung der Art widmete.[4] Aufgrund ihres Lebenszyklus dient sie als Modellorganismus für den Übergang vom Einzeller zum vielzelligen Organismus. Auf diesem Gebiet hat sich insbesondere John Tyler Bonner hervorgetan. Besonderes Interesse liegt in der Erforschung des Übergangs von gleichartigen Zellen zur Ausdifferenzierung einer Makrostruktur mit Zellen unterschiedlicher Spezialisierung. Das Genom von Dictyostelium discoideum wurde 2005 von einem internationalen Forscherteam entschlüsselt.

Verbreitung

Dictyostelium discoideum ist weltweit in allen Klimazonen von der kaltgemäßigten Klimazone bis in die Tropen verbreitet, weist aber ein Verbreitungsgefälle auf: am häufigsten ist es in den kühlgemäßigten Zonen, danach wird es bis hin zu den Tropen immer seltener.[5]

Nachweise

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  1. a b Pascale Gaudet, Jeffery G. Williams, Petra Fey, Rex L. Chisholm: An anatomy ontology to represent biological knowledge in Dictyostelium discoideum. In: BMC Genomics. 9:130, 2008, doi:10.1186/1471-2164-9-130
  2. R. Sucgang, G. Chen, W. Liu, R. Lindsay, J. Lu, D. Muzny, G. Shaulsky, W. Loomis, R. Gibbs, A. Kuspa: Sequence and structure of the extrachromosomal palindrome encoding the ribosomal RNA genes in Dictyostelium. In: Nucleic acids research. Band 31, Nummer 9, Mai 2003, S. 2361–2368, doi:10.1093/nar/gkg348, PMID 12711681, PMC 154234 (freier Volltext).
  3. [1]
  4. Richard H. Kessin: Dictyostelium: Evolution, Cell Biology, and the Development of Multicellularity. Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-58364-0, S. 9–18 (englisch).
  5. James C. Cavender: Geographical Distribution of Acrasieae. In: Mycologia. 65:5, 1973, S. 1044–1054.

Quellen

  • Monika Unha Baik: Einfluss von CbfA auf Wachstum und Entwicklung in Dictyostelium discoideum. Dissertation. Frankfurt am Main 2004, DNB 974551120.