Der Goldene (Bruno Frank)Der Goldene ist eine Erzählung von Bruno Frank, die erstmals im Juni 1921 in der Zeitschrift Die neue Rundschau erschien.[1] Die erste selbstständige Veröffentlichung erfolgte 1937 in der Sammlung Aus vielen Jahren in dem deutschsprachigen Exilverlag Querido in Amsterdam.[2] Ein junger Mann wird wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Gefängnis erträgt er die Schikanen des Wärters, der schließlich seine einzige Freude, einen kleinen Goldkäfer tötet. Der junge Mann schwört, sich zu rächen. Wieder in Freiheit, überfällt er den Wärter und würgt ihn fast zu Tode, besinnt sich aber, als er erkennt, dass auch der Wärter ein Lebewesen ist wie jedes andere und wie fragwürdig die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist. Hinweis: Zahlen in runden Klammern, zum Beispiel (5), verweisen auf die 18 Kapitel der Erzählung. InhaltDie Vergewaltigung(1) Der junge Vermessungsgehilfe Johannes Abrecht ist an einem heißen Sommertag dienstlich unterwegs. Die sengende Hitze lastet auf ihm: „In dem Körper des jungen Mannes siedete und drängte das Blut.“ Auf einem Feld erblickt er „ein ganz junges Ding noch, aber schon Weib, braun, fest und erregend“. Es kommt zu Tändeleien, und von lange ungestilltem Verlangen getrieben, fällt er über das Mädchen her, das sich heftig wehrt. „Er wußte nicht mehr, wo er war, nicht was er tat, nicht wen er besaß.“ Im Zuchthaus(2) Johannes wird wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. (3) Er nimmt seine Strafe „als eine gerechte, nicht zu harte Sühne demütig hin“. Seine ungeliebte Arbeit hat er verloren, aber sein Traum von einer Zukunft als Viehzüchter in Übersee hält ihn aufrecht. (4) Er verschließt sich vor den übrigen Gefangenen und leidet unter der Einsamkeit. (5) Sein Wärter, der ihn hasst, ist ihm zutiefst zuwider, aber er gibt sich unterwürfig, wie es von ihm erwartet wird, seine Gelassenheit jedoch bringt den Wärter noch mehr gegen ihn auf. Als er eines Tages wieder voll Freude dem Vogelgezwitscher draußen lauscht, ertappt ihn der Wärter bei seiner kleinen Freude und lässt ihn in eine andere Zelle verlegen. Der Goldene(6) Ein halbes Jahr vor seiner Entlassung „begann seine Strafe ihn wahrhaft zu quälen“. In seine Sehnsucht nach Freiheit mischen sich Verzweiflung und Haß gegen seinen „teuflischen Schließer“. Er sehnt sich „nach dem Weibe“, nach irgendeinem Lebewesen, einem Hund oder einem Vogel: „Nur das kleinste Herz, das freundlich und gläubig in seiner Nähe schlug.“ (7–8) Eines Abends entdeckt er auf seiner Pritsche einen goldenen Käfer, ein Lebewesen mitten in seiner Einsamkeit! Seine ganze Liebe und Zärtlichkeit gilt fortan dem kleinen „Goldenen“, den er hegt wie seinen Augapfel. (10) Eines Tages überrascht ihn der Aufseher, zerquetscht den Käfer unter seinem Fuß und zwingt Johannes, die Überreste aufzuputzen. (11) „Wie kann ein Mensch das tun?“ fragt er sich. „Ein solcher Mensch darf nicht leben. Solch ein Mensch verpestet die Welt!“ Und er beschließt, seinen Wächter zu töten. Rache und Läuterung(11–12) Nach seiner Freilassung taucht er langsam wieder ins Leben ein. (13) Er studiert sorgsam die Lebensgewohnheiten seines Opfers. (14) Vor der geplanten Ausführung seiner Rache besucht er den Vater des missbrauchten Mädchens. Es ist bereits versprochen, er hält daher sein Heiratsangebot zurück und übergibt stattdessen eine Summe Geldes. (15–16) Nun schreitet er zur lange geplanten Tat. Er lauert seinem Opfer auf, überfällt es und umklammert mit seinen „Marmorfäusten“ die „Gurgel des Bösen“.
Johannes lässt von ihm ab, bringt ihn wieder zu Bewusstsein und lässt ihn allein zurück. (17) Der Wärter schleppt sich nach Hause. Angst treibt ihn um, er wird den Missetäter nicht anzeigen. Unfähig zu seinem Dienst, wird er an ein Museum als Aufseher versetzt, wo ihn ein freudloses Leben erwartet. (18) Johannes kann nicht verstehen, was mit ihm geschehen ist: „Ich haßte ihn und wollte ihn töten, da hob er seine Arme und bewegte sich so ...“ Wie der Goldene, wie ein kleines Kind, das er auch einmal war. „Wir sind ja alle gar nicht so sehr voneinander getrennt, wie wir immer glauben, wo ist denn die Grenze? Wer will sich da vermessen, zu scheiden und abzusondern und zu sagen: so ist der und so ist das und Dies ist gut und Jen’s ist schlecht?“ EntstehungDas Thema des „unnennbar Bösen“ (13) hatte Bruno Frank schon 1911 in der Novelle Das Böse verarbeitet. Ein roher Mensch quält aus sadistischer Lust einen kleinen Hund. Das erregt in einem unbeteiligten jungen Mann unsagbaren Hass und Rachelust. Unfähig jedoch, die gemarterte Kreatur zu rächen, richtet er aus Verzweiflung sich selbst. In Der Goldene wird „nur“ ein Insekt, ein noch „unbedeutenderes“ Lebewesen als ein Hund getötet, aber der Tötungsakt gilt nicht dem Käfer, vielmehr will der Wärter den Häftling in seinem Innersten treffen. Dieser will die seelische Verwundung durch die Tötung seines Peinigers rächen, besinnt sich aber im letzten Augenblick und gewinnt dadurch seine innere Freiheit zurück. Bruno Frank, der anfangs Jura studiert hatte, wendete sich alsbald von diesem Studium ab und promovierte mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit.[3] Das Thema des Strafrechts und des Strafvollzugs ließ ihn jedoch nicht mehr los. In der Erzählung Tage des Königs von 1924 beruft Friedrich der Große einen Großkanzler, den er mit der Ausarbeitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten betraut.[4] In der Novelle Sechzehntausend Francs von 1940 bemüht sich der Chef des Strafvollzugswesens um die Humanisierung des Strafvollzugs, bis er nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 ins Ausland flieht.[5] In Der Goldene spielt der Strafvollzug zwar nur eine Nebenrolle, aber es wird deutlich, welche Macht willkürlich agierende Amtsträger im Strafvollzugssystem ausüben können. RezeptionWährend die Novelle Das Böse ein Jahrzehnt zuvor sehr kritisch besprochen wurde, vor allem wegen ihrer wenig überzeugenden „Pointe“, findet Franks „vielleicht gelungenste, jedenfalls die eindringlichste Prosa-Arbeit der unmittelbaren Nachkriegszeit“[6] auch den Beifall von Thomas Mann. In seiner Besprechung der Politischen Novelle schreibt er 1928:[7]
Der Schriftsteller Herbert Günther befand 1930:[8]
In einer Hommage zum 50. Geburtstag von Bruno Frank erinnert sich Thomas Mann 1937:[9]
Erika Mann und Klaus Mann schreiben in ihrer Darstellung des deutschen Exils „Escape to life“ von 1939: „... die artistisch schon vollkommene Novelle Der Goldene – uns eine der liebsten von allen – hat der Jüngling geschrieben ...“[10] Der Weimarer Germanist Konrad Paul schrieb 1982 im Nachwort zu einer Auswahl von Erzählungen Bruno Franks:[11] „Unabhängig von seiner Forderung nach humanem Strafvollzug [...] ist die Geschichte des Landvermessers, der auf Selbstjustiz verzichtet, eine Huldigung an das Leben: »Willkomrnen Bös und Gut«.“ Franks Biograph Sascha Kirchner urteilte 2009: [12]
EinzelheitenHass und RacheDie Motive von Hass und Rache, die oft eng miteinander verwoben sind, kommen in der Erzählung Der Goldene mehrfach zur Sprache. Der BauerDer Vater des missbrauchten Mädchens betreibt mit aller Macht die Bestrafung des Täters, ohne Rücksicht auf den Ruf seiner Tochter. „Verständiges Zureden half nicht“, auch nicht Johannes’ Versprechen, seinen Fehler „wiedergutzumachen“ und das Mädchen zu heiraten. Der Grund für die Halsstarrigkeit des Bauern ist in seinem Hass auf die Vermessungsbehörde begründet: „Der Bauer war vor kurzem bei einem Grenzstreit von der Vermessungsbehörde ins Unrecht gesetzt worden, und kein Angebot, noch weniger aber irgendein Gefühlsgrund hätte ihn davon abhalten können, diese unverhoffte Rache auszukosten.“ (2) Der WärterDer boshafte Zuchthauswärter wird als ein Mann beschrieben, dessen Charakter sich in seiner äußeren Hässlichkeit widerspiegelt. Er ist Johannes Abrecht widerwärtig, und auch der Wärter wiederum „schien von tätiger Abneigung gegen ihn erfüllt zu sein“. (5) Mehrere Schikanen des Wärters steigern Johannes’ Abscheu, bis die Tötung des einzigen Lebewesens, das seine Einsamkeit erhellt, eine unsägliche Rachgier in ihm erweckt. Nach seiner Freilassung ist er drauf und dran, seinen Feind zu töten, als ihm das Schicksal zu Hilfe kommt. Während er ihn würgt, erkennt er, dass auch der Wärter ein Lebewesen ist, der Hass fällt von ihm ab und er entrinnt dem Teufelskreis der Rache: „Der Wärter war einmal ein kleines Kind, und in dem Augenblick, als er sterben sollte, da war er’s wieder, und für das, was dazwischenliegt, kann er nichts. Er weiß wahrscheinlich gar nicht, daß er bös ist und grausam, und meint, er tue das Rechte.“ (18) VölkerhassWie beiläufig legt Bruno Frank seinem Protagonisten Worte in den Mund, die dem Autor nach dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs und der Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland aus tiefstem Herzen kommen:
Gegen den Völkerhass wendet sich Frank auch, als er 1928 in seiner Politischen Novelle die deutsch-französische Aussöhnung thematisiert. Gut und BöseEin „Wunder“ hindert Johannes daran, seine Rache zu vollenden. Mitten im Tötungsakt hält er inne, ohne zu verstehen warum. Dieses Warum treibt ihn um: „Was ist es gewesen?“ fragt er sich:
Der geläuterte Johannes fragt sich aber auch, „kenn' ich nun besser meinen kleinen Platz im großen Plan?“ Und: „Kenn' ich den seinen? Warum wurde er so erschaffen, er, den ich töten wollte, warum hat er diesen Mund und dies Kinn und dies Auge, wer ist er denn, was soll er denn hier? Er lebt und handelt und weiß nichts von sich und schwindet dahin, was ist’s dann gewesen? – Leben ist's dann gewesen, Leben! Willkommen Bös und Gut!“ (18) GrundbesitzJohannes Abrecht verliert sein Amt, ist darüber aber gar nicht so unglücklich. Wohl gefiel ihm die Arbeit im Freien, aber die Büroarbeit „war wenig nach seinem Herzen“. Der Erzähler berichtet: „Mit den Meßgeräten verwinkelte Grenzen zu ziehen zwischen kleinlichen, neidischen Zänkern, war nicht sein Beruf.“ Und weiter: „Allen gehörte die dampfende nährende Erde, es war Anmaßung und war lächerlich, sie in Stückchen zu schneiden und diese Stückchen mit Ziffern und Lettern zu benennen.“ (3) LebewesenIn seiner Einsamkeit schließt Johannes Abrecht Freundschaft mit dem einzigen Lebewesen, das sich ihm darbietet, „ein armes geringes Käfertier“, das die Menschen missachten. Der kleine Goldene, „der war nun sein Leben“. Er war unschlüssig, ob es möglich ist, „ein Insekt zu zähmen, zu gewinnen und zum Kameraden zu machen“. Aber:
Das Mitleid mit Lebewesen jeder Art ist ein zentrales Thema in Bruno Franks Werk. Tief verletzt durch ein Kindheitserlebnis tierquälerischer Fuhrknechte (siehe Das Böse, Tierquälerei) fand er sich bestätigt durch die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers.[13] In der Novelle Ein Abenteuer in Venedig von 1911 sitzt ein Mann auf den Stufen der Arena von Verona und meditiert über sein Leben, als plötzlich ein brauner Laufkäfer über seinen Handrücken krabbelt. „Gerührt und überhaupt in einem sehr empfänglichen Zustand“, ergreift ihn Mitleid mit dem Käfer, der kaum aus eigener Kraft die hohen Ränge erklommen hatte, sondern seinen Aufenthalt wohl einem „menschlichen Bubenstück“ verdankte. Die verzweifelten und aussichtslosen Versuche des Käfers, aus diesen schwindelnden Höhen wieder hinab zu gelangen, rühren den Mann, und er trägt den Käfer die Stufen hinab und setzt ihn auf dem Boden der Arena ab: „»Adieu, du,« sagte er ... und sah, niedergebückt, den Kleinen über den Sand hineilen.“[14] Das Motiv des „armen geringen Käfertiers“ taucht auch in dem Gedicht „Billett am Mittag“ von 1914 auf, in dem Bruno Frank seiner Geliebten schreibt, dass er auf dem Heimweg beinahe einen Käfer zertreten hätte:
VergewaltigungIn der Novelle Die Unbekannte, die wie Der Goldene 1921 erschien, zitiert Frank sich sozusagen selbst. Der Erzähler erinnert seinen Freund Alexander in einem Brief an den Fall „des musterhaften jungen Beamten“, von dem dieser ihm erzählt hatte, eines Mannes, „der an einem heißen Tag über Land geht und irgendwo ein junges Mädchen überfällt, das im Korn arbeitet, sie, die sich ihm vielleicht auf eine Bitte ganz leicht ergeben hätte. [...] Nachher weiß er selbst nicht, was mit ihm geschehen ist.“ Der Briefschreiber entsinnt sich dieses Vorfalls, nachdem er eine Unbekannte kennenlernte, von der er sagt: „Auch mir waren, wie man so seltsam zu sagen pflegt, die Sinne vergangen.“[16] LiteraturAusgaben
Sekundärliteratur
Quellen
WeblinksFußnoten
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