Das Heim und die WeltDas Heim und die Welt (bengalisch ঘরে বাইরে Ghare Bāire; wörtlich: „Daheim und draußen“) ist ein Roman (politischer Roman, Eheroman), den der indische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (eigentlich Rabindranath Thakur) in bengalischer Sprache veröffentlicht hat. Die Erstveröffentlichung erfolgte 1915/1916 seriell in der Zeitschrift Sabuy Patra; als Buch kam der Roman 1916 auf den Markt. Eine englische Übersetzung (The home and the world) erschien 1919, eine deutsche im Jahre 1920. Der Roman hat den Rang eines Nationalromans insofern, als er Themen behandelt, die im öffentlichen Diskurs Bengalens in der Zeit seiner Nationenbildung eine zentrale Rolle spielten, insbesondere die Zerrissenheit zwischen der Begeisterung für die Ideen der westlichen Kultur und der Revolution gegen diese Kultur. Auch der Autor selbst war in diesem Konflikt gefangen, vertrat in Zweifelsfällen aber eher pazifistische und pro-westliche Positionen. Hintergrund der HandlungIndien war bis 1947 britische Kolonie. Britisch-Indien bestand aus drei „Präsidentschaften“: Bombay, Madras und Bengalen. Vorgeblich aus verwaltungstechnischen, tatsächlich aber aus machttaktischen Gründen hatten die Briten Bengalen von 1905 bis 1912 sogar in zwei Territorien geteilt, in denen Hindus und Muslime getrennt voneinander leben sollten. Hintergrund der Romanhandlung ist die 1905 entstandene Swadeshi-Bewegung, die zur prominentesten Strömung innerhalb der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde. Ihr zentrales Anliegen war eine Stärkung des indischen Nationalbewusstseins durch den Boykott ausländischer Waren und die Umstellung des Markts hin zur Selbstversorgung, wobei die Aufmerksamkeit besonders der indischen Baumwollproduktion galt, die den Import von Textilien ersetzen sollte. Mahatma Gandhi setzte die Swadeshi-Bewegung später fort, und zwar nicht nur durch seinen Einsatz fürs Handspinnen, sondern auch durch seine Beteiligung an der Verbrennung ausländischer Textilien (1921 in Mumbai).[1][2][3] Dem Kampflied der Bewegung, Vande Mataram, dessen Bedeutung noch heute fast die der indischen Nationalhymne Jana Gana Mana erreicht, liegt ein Gedicht von Bankim Chandra Chattopadhyay zugrunde.[4] Der Liedtitel bedeutet wörtlich: „Sei gepriesen, Mutter [Indien]“.[5] Vor dem Hintergrund der allegorischen Gleichsetzung Indiens mit einer Mutter ist zu verstehen, dass im Roman der Revolutionsführer Sandip die von ihm geliebte Bimela zu einer Symbolfigur der patriotischen Bewegung machen will. Tagore hat zur Swadeshi-Bewegung direkt und indirekt beigetragen, etwa 1896, als er als erster Vande Maataram in einem politischen Kontext öffentlich gesungen hat, und als er sich nach 1905 an die Spitze des Protests gegen die Teilung Bengalens setzte, nicht zuletzt als Autor patriotischer Gedichte wie Banglar Maati Banglar Jol.[6] Dennoch behagten ihm der Chauvinismus und die Xenophobie der Swadeshi-Bewegung nicht: „Patriotismus kann nicht unser letzter spiritueller Mittelpunkt sein, ich werde es dem Patriotismus nie erlauben, über das Menschentum zu triumphieren“.[7] An anderer Stelle schrieb er: „Wenn die Organisation der Politik und der Wirtschaft, die auch ‚Nation‘ heißt, allmächtig wird auf Kosten der Harmonie des höheren sozialen Lebens, dann ist dies ein böser Tag für das Menschentum.“[8] Aus den vielen Themen dieses geschichtlichen Kontextes griff Tagore für den Roman drei heraus: die Probleme des von der Kolonialmacht beherrschten Marktes, die Ethik der Gewalt und die Frage, was es für den Menschen bedeutet, einer Nation anzugehören.[9] HandlungOrt der Handlung ist ein unbezeichneter Fürstensitz in Bengalen, die Zeit das frühe 20. Jahrhundert, das auch die Zeit der „bengalischen Renaissance“ war, in der Bengalen zu einer modernen Gesellschaft wurde. Nikhil, ein Maharadscha, hat vor neun Jahren Bimela geheiratet, die damals noch fast ein Kind war. Obwohl ihre Ehe harmonisch ist, möchte Nikhil, dass Bimela aus dem beschränkten kleinen Kosmos ihrer Frauengemächer in die Welt heraustritt. Er ist überzeugt, dass ihre Liebe nur dann wahr ist, wenn seine Frau der Welt ebenso zugewandt ist wie er selbst. Sein erster Schritt zu diesem Ziel besteht darin, dass er Bimela Sandip vorstellt, den charismatischen Führer der Swadeshi-Bewegung. Sie besteht darauf, dass Sandip Nikhils Anwesen besucht, und tatsächlich schlägt Sandip dort sein Hauptquartier auf. Sandip und Bimela fühlen sich stark zueinander hingezogen. Sandip verkörpert alles, was Bimela an einem Mann faszinierend findet, und so lässt sie sich auch von seiner Revolutionsbegeisterung anstecken und beginnt die Rollen zu spielen, in denen Sandip sie sieht: die einer persönlichen Muse, aber auch die einer Personifikation Bengalens, einer Königin-Göttin der Swadeshi-Bewegung. Auf Sandips Drängen stiehlt Bimela 6.000 Rupien aus Nikhils Geldschrank, fühlt darüber aber schon im nächsten Augenblick bittere Reue. Da Sandips Verhalten zwiespältig ist und Bimela Anlass sowohl zu Begeisterung als auch zu Abscheu gibt, verlässt diese Reue sie auch nicht mehr. Nikhil weiß von dem Diebstahl zunächst nicht, spürt aber, dass er seine Frau an Sandip verlieren wird. So sehr ihn dies schmerzt, entschließt er sich, sie freizugeben. Um das gestohlene Geld zu ersetzen, entsendet Bimela Sandips jungen Gefolgsmann Amulya, der ihr bedingungslos ergeben ist, mit dem Auftrag, ihre Juwelen zu verkaufen. Für eine Bengalin ist dies – wie Tagore im Roman explizit erklärt – das äußerste Opfer, denn ihr Schmuck repräsentiert für sie alles, was sie als Person wert ist. Amulya bringt es darum auch nicht fertig, ihr zu gehorchen, sondern stiehlt stattdessen 6.000 Rupien aus Nikhils Schatzhaus. Zu spät erkennt Bimela, dass sie mit ihren Versuchen, ihren ersten Fehler (den Gelddiebstahl) zu korrigieren, die Sache immer schlimmer macht, indem sie nun Amulya in Lebensgefahr bringt. Als Nikhil Bimela ihren Betrug verzeiht, erkennt sie, dass es nicht Sandip, sondern Nikhil ist, den sie zutiefst liebt. Der radikale bengalische Patriot Sandip bekämpft die Muslime ebenso wie die Engländer. Als die Muslime sich erheben, flieht er, während Nikhil unerschrocken zum Ort des Geschehens reist, um zu versuchen, den Frieden wiederherzustellen. Der Roman endet abrupt damit, dass ein Bote Bimela mitteilt, dass Amulya erschossen und Nikhil durch einen Schuss in den Kopf schwer verletzt wurde. FormDer Roman ist in 50 Abschnitte gegliedert, die auf zwölf Kapitel verteilt sind. Die drei Hauptfiguren erscheinen darin im Wechsel als Ich-Erzähler: Bimela in 23, Nikil in 16 und Sandip in 11 Abschnitten. Charakteristisch für das Werk sind zahlreiche intertextuelle Bezüge; so verweist es nicht nur auf das Lied Vande Mataram, sondern auch auf das Mahabharata- und das Ramayana-Epos, die Bhagavad Gita, das Schauspiel Abhijnanashakuntala, die Upanishaden, auf Siddharta, generell auf die indische bzw. hinduistische Mythologie und Religion (Shakti, Avatara, Bhairava), sowie auf den Dichter Jayadeva und die westlichen Schriftsteller Henri-Frédéric Amiel und Robert Browning. Figuren
Rezeption und VerfilmungEine viel beachtete Rezension hat 1922 Georg Lukács geschrieben. Anders als die meisten anderen zeitgenössischen deutschen Intellektuellen hatte Lukács von Tagore als Schriftsteller und auch als Denker keine hohe Meinung. Er fand die Charaktere flach, die Geschichte fantasielos, unoriginell und uninteressant. Befremdet war er darüber, dass Tagores Stellungnahme zur Frage, ob Gewalt gegen die Kolonialherren – Lukács war Marxist und sah Britisch-Indien als ein brutal unterdrücktes, versklavtes Land – gerechtfertigt sei, sich im Appell erschöpfe, die Inder spirituell zu erlösen und ihre Seelen vor der Gefahr zu schützen, die von Gewalt, Betrug usw. ausgehe. Irrtümlich meinte Lukács, Tagore habe mit Sandip ein Porträt Gandhis liefern wollen; Gandhi war jedoch erst 1915 aus England eingereist und in der Zeit, in der Tagore den Roman schrieb, als politische Persönlichkeit in Indien noch völlig unbekannt. Zu einem Begriff wurde er dort erst durch sein Engagement im Kontext der Khilafatbewegung (1919–1924).[12][13] Die britische Zeitung The Daily Telegraph, die 2014 eine Liste der „10 besten asiatischen Romane aller Zeiten“ zusammengestellt und veröffentlicht hat, nahm Das Heim und die Welt darin zwar nicht auf, nannte den Roman jedoch in der Shortlist.[14][15] Satyajit Ray, einer der bedeutendsten Regisseure des bengalischen Kinos, hat den Stoff adaptiert und als Spielfilm inszeniert. Der Film Das Heim und die Welt kam 1984 in die Kinos und wurde im Anschluss mit dem National Film Award ausgezeichnet. Ausgaben (Auswahl)
Sekundärliteratur
Weblinks
Wikisource: The Home and the World – Quellen und Volltexte (englisch)
Einzelnachweise
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