Comes litoris Saxonici per Britanniam

Heerführer der Comitatenses und Limitanei im 5. Jahrhundert n. Chr.
Notitia Dignitatum: Die Kastelle der britischen Sachsenküste Othona, Dubris, Lemannis, Branoduno, Garriano, Regulbi, Rutupis, Anderidos und Portum Adurni
Die spätantiken Provinzen in Britannien (400 n. Chr.)
Die Kastelle und Festungsstädte der Sachsenküste um das Jahr 380 auf beiden Seiten des Ärmelkanals
Reenactor, der einen Soldaten der Secunda Britannica (4. Jahrhundert) darstellt, eine Einheit der legiones comitatenses unter dem Oberbefehl des Magister peditum (Notitia Dignitatum Occ. V).

Der Comes Litoris Saxonici per Britanniam (wörtlich: „Graf der Sachsenküste in Britannien“) war ein hoher Offizier in der britischen Provinzialarmee des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr. dessen Aufgabe es war, die an der Ost-, Südost- und Südküste Englands errichteten Kastelle gegen Raubzüge feindlicher Stämme zu sichern.

Definition

Der spätantike römische Amts- und Ehrentitel Comes bezeichnete in der Regel die höchste Rangklasse des Adels (vir spectabilis) bzw. die engsten Ratsmitglieder am kaiserlichen Hof. Beim Militär wurde dieser Titel an die Kommandeure der mobilen Feldarmeen in den Provinzen oder an hohe Offiziere für zeitlich begrenzte Sonderkommandos vergeben (comes rei militaris).

Der Comes litoris Saxonici per Britanniam war zusammen mit dem

einer der drei ranghöchsten Offiziere und Unterstatthalter im spätrömischen Britannien. ^

Kommandobereich

Seine in der ND abgebildeten Insignien bestehen aus einer stilisierten Karte Britanniens die neun, über die ganze Insel verstreute Garnisonsstandorte zeigt. Diese sind die durch stark vereinfachte Städte- bzw. Festungsdarstellungen mit ihren jeweiligen Ortsnamen gekennzeichnet. Aber ihre Positionen entsprechen nicht der geografischen Realität, stattdessen folgen sie der Reihenfolge der Kastelle, die in der zugehörigen Liste der Einheiten und Stützpunkte aufgezählt werden.[1] Dieser Militärbezirk entstand vermutlich aus einer Abspaltung vom einstigen Küstenschutzkommando des Comes Maritimi Tractus. Wie der Dux tractus Armoricani et Nervicani in Gallien kommandierte der Comes nicht das ganze Provinzaufgebot, sondern nur die Besatzungen der Kastelle zwischen den Flüssen Wash und Solent. Sein Befehlsbereich (comitativa) umfasste damit die Küsten der Provinzen

Das entspricht den größten Teil des heutigen Kent und die Süd-Ost-Region der Insel. Der Zusatz per Britannias bedeutete, dass die Sachsenküste ebenfalls in mehrere Abschnitte unterteilt war oder sich noch über die Britannien hinaus erstreckte. Neben dem britannischen Flottenverband, den Kastellen an der Küste von Norfolk (bis zu einem Stützpunkt in der Nähe von Portsmouth) und Hampshire standen wohl auch noch die Signalstationen an der Nordsee unter seinem Befehl. Sein Hauptquartier befand sich wahrscheinlich in Camulodunum/Colchester oder in Londinium/London.

Funktion

Der genaue Umfang seiner Pflichten und Autorität sind unbekannt. Auch die Erklärung für den Begriff „litoris Saxonici“ ist nicht eindeutig.

Es könnte

  • „die gegen die Sachsen verteidigte Küste“,
  • „die von den Sachsen verteidigte Küste“, oder
  • „die von den Sachsen besiedelte Küste“

bedeuten.[2]

Obwohl meist als reines Küstenschutzssystem erklärt[3], könnte die Aufnahme in die Notitia bedeuten, dass die Sachsenküste auch als eine Art Abgabensprengel fungierte. Einige der dortigen Kastelle scheinen als Marinestationen weniger nützlich gewesen zu sein und könnten vielleicht nur als befestigte Lagerhäuser für die sichere Aufbewahrung der Steuerabgaben gedient haben. Nach Donald White waren einige der Steinkastelle gegenüber der Bedrohung durch germanische Plünderer unverhältnismäßig groß geraten und dienten in erster Linie dazu, eine Zurückeroberung Britanniens während der Abspaltung unter Carausius und Allectus (289-296) durch das Imperium zu verhindern. Diese Ansicht, obwohl weiterhin umstritten, wurde durch archäologische Grabungen in Pevensey unterstützt, die die Erbauung dieser Festung auf die frühen 290er Jahre datieren.[4]

Entwicklung

Die Notitia Dignitatum ist die einzige schriftliche Quelle für dieses, ansonsten unbekannte Militärkommando. Dass die darin erwähnten britischen Heerführer in der Zeit der Abfassung dieses Dokuments noch existiert haben, ist unwahrscheinlich. Die Truppenabzüge der Jahre 383, 401 und 407 hatten die Provinzstreitkräfte drammmatisch geschwächt, sodass kaum noch nennenenswerte Kontingente auf der Insel gestanden haben können. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts sagten sich die britannischen Eliten folgerichtig auch vom Reich los.[5] Das Amt des comes wurde, laut dem britischen Altphilologen John Church, vermutlich im Zuge der Reichsreform unter den Kaisern Diokletian und Maximian, Diokletians Mitherrscher, in den Jahren 286-305, geschaffen, zu dieser Zeit wurden auch in Britannien und Gallien neue Militärämter eingeführt. Samuel Heywood glaubt hingegen, dass dies erst während der Reformperiode unter Konstantin dem Großen geschah[6].

An beiden Seiten des Ärmelkanals entstand damals schrittweise der Limes der Sachsenküste (litoris Saxonicum). An stark exponierten Abschnitten und Flussmündungen wurden Kastelle teilweise neu errichtet oder schon vorhandene umgebaut bzw. verstärkt. Einige von ihnen entstanden erst im späten dritten Jahrhundert, wahrscheinlich auf Anordnung des britischen Flottenbefehlshabers und Usurpators Carausius (287–296). Deren Besatzungen hatten die Aufgabe Plünderer und Invasoren abzuwehren oder ihnen den Zugang zum Landesinneren so weit wie möglich zu erschweren. Die Zuständigkeit für die Sicherung Britanniens und der gallischen Küsten des Ärmelkanals lag in der Mitte des 4. Jahrhunderts noch in der Hand eines comes maritimi tractus. >Laut Ammianus Marcellinus kam es 367 zu einem konzertierten Einfall mehrerer Barbarenvölker in Britannien, in dessen Verlauf die Einheiten der Provinzstreitkräfte entweder zersprengt oder fast zur Gänze aufgerieben wurden.[7] Auch ihre Oberbefehlshaber fanden dabei den Tod, darunter der comes „der Küstenregionen“, Nectaridus, und der Dux Fullofaudes. Der Historiker Ian Hughes weist darauf hin, dass die beiden aber höchstwahrscheinlich in Gallien, und nicht in Britannien getötet wurden.[8]

Der Tod dieser beiden Heerführer schadete dem Ansehen des Reiches und veranlasste Kaiser Valentinian I. (364–375) zu scharfen Gegenmaßnahmen. So wurde zunächst (mit geringen Erfolg) ein comes mit einer Armee nach Britannien in Marsch gesetzt, bald darauf folgte ihm der magister equitum, Jovinus. Schließlich wurde Flavius Theodosius ausgesandt, um die Barbaren endgültig zurückzuwerfen und dort ausgebrochene Unruhen zu unterdrücken, sein Feldzug war wesentlich erfolgreicher. Nach Befriedung der Insel durch Theodosius muss der Zuständigkeitsbereich des comes maritimi tractus zwischen 368 und 395 in drei neue Militärbezirke aufgeteilt worden sein. Man wollte damit wohl auch verhindern, dass ein Heerführer nicht zu viele Einheiten unter sein Kommando bekam und ihm damit ein Aufstand (wie z. B. unter Carausius) ermöglicht werden konnte.[9] Die Gebiete, um den Hadrianswall waren von den barbarischen Invasoren ausgespart worden. Einige der dort stationierten Aufklärungseinheiten, die vermutlich mit dem Feind konspiriert hatten, wurden wegen ihres Verrats aufgelöst. Die Wallkastelle wurden größtenteils aufgegeben, stattdessen wurde entlang der Küsten eine Wach- und Signalturmkette aufgebaut (siehe hierzu Signalstationen in Yorkshire), deren Besatzungen entweder dem Dux von Britannien oder dem comes litoris Saxonici per Britanniam unterstellt waren.[10] Für den gallischen Teil der Sachsenküste wurden zwei neue Dukate geschaffen (dux Belgicae secundae und dux tractus Armoricani et Nervicani). Der comes befehligte ab diesem Zeitpunkt wohl nur mehr die Kastelle und Wachtürme an Britanniens Südostküste. Die britische Küstenverteidigungsorganisation konnte so bis Anfang des 5. Jahrhunderts aufrechterhalten werden.[11]

In den Jahren 396 bis 398 führte Stilicho noch einmal Flottenoperationen vor Britannien durch. Offensichtlich waren Stilichos Truppen nicht nur in der Lage, die Kontrolle über die Seewege in die nordwestlichsten Provinzen aufrechtzuerhalten, sondern konnten daneben auch noch einige Erfolge im Kampf gegen Sachsen und Scoten erringen. Dies war die Gelegenheit auch gleich die Küstenverteidigung im Südosten Britanniens neu zu organisieren, sie erstand nun in der Form, wie sie in der Endfassung der Notitia Dignitatum überliefert wurde. Es ist gut möglich, dass der britische comes erst in dieser Zeit eingesetzt wurde, da er vorher nirgendwo erwähnt worden war.[12] Das Amt dürfte offiziell bis um 410 bestanden haben, nach den archäologischen Befunden zu schließen wurden einige seiner Kastelle aber schon vorher aufgegeben. Als die Römer zu Beginn des 5. Jahrhunderts die höheren Verwaltungsbeamten und das mobile Feldheer abzogen und Britannien damit faktisch aufgaben (siehe Rheinübergang von 406 und Konstantin III.), verschwindet auch der Comes der Sachsenküste aus den Quellen.[13] Einige der Festungen (auf beiden Seiten des Kanals) blieben in den folgenden Jahrhunderten weiterhin bewohnt und besonders in Britannien wurden sie bis weit in die angelsächsische Zeit hinein genutzt.

Verwaltungsstab

Das Officium (Verwaltungsstab) des Comes umfasste folgende Ämter:[14]

  • Principem ex officiis magistrorum militum praesentalium parte peditum (Kanzleileiter der Armee, aus dem Stab des Heermeisters)
  • Numerarios ex utrisque officiis omni anno (zwei Zahlmeister aus dem Stab des Heermeisters, ernannt für ein Jahr)
  • Adiutorem (Assistent)
  • Cornicularium (Sekretär/Proviantmeister)
  • Subadiuuam (Hilfskraft)
  • Regrendarium (Verwalter)
  • Exceptores (Juristen)
  • Singulares et reliquos officiales (Leibwächter und sonstige Beamte)

In seinem Stab findet sich auch ein Cornicularis. Dieser war für gewöhnlich für die Verproviantierung der Einheiten verantwortlich. Solche Amtsträger finden sich in der Notitia nur noch bei fünf anderen Comes und Duces. In der Spätantike fiel diese Aufgabe in die Verantwortung der Zivilverwaltung der Provinz. Möglicherweise konnte der Comes in Krisenzeiten eigenmächtig über die Versorgungsgüter aus den öffentlichen Speichern verfügen.[15]

Truppen

Laut der ND unterstanden dem Comes neben Soldaten des Provinzheeres (7 Infanterie- und 2 Kavallerieverbände) bis zum Jahr 400 wahrscheinlich auch Einheiten der Kanalflotte (Classis Britannica), um mit ihrer Hilfe germanische Plünderer und Invasoren von der Landung an seinen Küsten abzuhalten. Diese werden in der Notitia aber nicht explizit angegeben. In der Truppenliste der Notitia Dignitatum[16] werden auch nur neun Kastelle an der Sachsenküste aufgelistet, obwohl -nachweislich- elf davon am Wash-Solent-Limes standen. Alle Einheiten des Comes zählen zu den Limitanei. Einige waren wohl mit den vom Magister equitum kommandierten Pseudocomitatenses der gallischen Feldarmee identisch. Sie werden auch nicht in der Liste des Magister peditum angeführt.[17]

Distributio Numerorum

Laut der ND Occ. standen dem Comes folgende Einheiten zur Verfügung:[18]

Kavallerie

Offiziere/Einheiten/Kastelle Bemerkung Abbildung
Limitanei-Equites
Praepositus equitum Dalmatarum Branodunensium, Branoduno Diese im heutigen Brancaster stationierten Reiter stammen ursprünglich wohl von einer dalmatinischen Kavallerieeinheit ab. Reitereinheiten aus Dalmatien wurde anscheinend zum ersten Mal unter Gallienus (260–268) im späten 3. Jahrhundert aufgestellt. Für diese Einheit liegen bis dato keine Inschriften vor. Eine weitere Einheit der Equites Dalmatarum stand nach den Angaben der Notitia in Praesedio (vielleicht Bridlington) in der Armee des Dux Britanniarum. Beide Einheiten könnten einst aber auch aus britischen Alae hervorgegangen sein.[19]
Schildzeichen unbekannt
Praepositus equitum stablesianorum Gariannonensium, Gariannonor Diese Reiter aus Burgh Castle (möglicherweise lag ein Teil von ihnen auch im benachbarten Caister-on-Sea) waren eine Vexillation der britischen Gardereiterei (Comitatenses), der sog. Equites stablesiani, die in der Notitia Occ. auch in der Feldarmee des Comes Britanniarum angegeben wird. Sie hat ebenfalls keine Inschriften hinterlassen, ihr Kastell wird in keiner anderen antiken Quelle erwähnt. Was genau mit stablesiani gemeint ist (abseits des Bezuges auf Stall), wird noch kontrovers diskutiert. Zwei weitere dieser Gardeeinheiten werden in der Liste des Magister equitum erwähnt: die
  • Equites stablesiani Africani und die
  • Equites stablesiani Italiciani,

beide standen in der Armee des Comes Africae.[20]

Schildzeichen unbekannt

Infanterie

Offiziere/Einheiten/Kastelle Bemerkung Abbildung
Limitanei
Praepositus numeri Fortensium, Othonae Die „Schar der Tapferen“ stand im heutigen Bradwell (früher Ythanceaster) und wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Vexillation der Legio II Traiana fortis angesehen. Andere Abteilungen dieser Legion standen lt. der Notitia Occ. in Appollonos superioris unter dem Dux Thebaidos und in Parembole unter dem Comes limitis Aegypti (beide Ostreich). Guy Hassall hält die in Othonae stationierten Soldaten für Kavalleristen, da sie in einem Numerus organisiert waren.[21]

Außerdem werden in der Notitia noch die Reiter des

Die Bezeichnung Numerus wurde jedoch nicht ausschließlich nur für berittene Einheiten verwendet. Tatsächlich existieren zahlreiche Inschriften von Numeri, die zweifellos Infanterieeinheiten waren. Der Begriff Cuneus scheint in der Notitia hingegen nur für berittene Einheiten reserviert gewesen zu sein. Hoffmann erklärte erstere als eine Einheit, die aus früheren Legionsreitern gebildet worden waren. Wie die Einheiten der Promoti, von denen angenommen wird, dass sie ebenfalls auf diese Weise entstanden sind. Letztere, glaubte er, dass sie durch den Zusammenschluss einer Abteilung der Legionskavallerie aus Dalmatinern entstanden sein könnte. Wie Hassall selbst betonte, muss die Legio II Traiana auch nicht alle in der Notitia als Fortenses bezeichnete Abteilungen gestellt haben. Die Gesamtzahl der bekannten Fortenses-Einheiten ist jedoch relativ groß, es konnten daher nicht alle von einer einzigen Legion abstammen. Leider gibt es bis dato keine epigraphischen Beweise aus Bradwell oder anderswo, die weitere Hinweise über die Herkunft dieser Truppe liefern könnten. Dass sie von einem Praepositus (= Inhaber eines Sonderkommandos) und nicht von einem Praefectus kommandiert wurde, spricht ebenfalls für eine ehemalige Legionärsvexillation. Die Anwesenheit der Fortensis in der britischen Provinzarmee könnte durch eine Verlegung nach Britannien unter Valentinian I. (364–375) als Folge der Krise von 367 erklärt werden. Die Legio II Traiana Fortis wurde vom Kaiser Victorinus (269–271) aber in den späten 260er oder frühen 270er Jahren mit einer Sonderprägung von Aurei geehrt. Emil Ritterling (1924–1925) interpretierte dies so, dass der Feldherr Aureolus von einer Vexillation der Legion begleitet worden war, als er aus dem Osten anmarschierte, um das gallische Sonderreich zu zerschlagen, und dass die Abteilung ihm folgte, als er zu den gallischen Rebellen wechselte. Nach der endgültigen Niederlage des Gallischen Reiches könnte Kaiser Aurelian (270–275) als Disziplinarmaßnahme die Einheit zur Verstärkung der Küstenverteidigungen in das abgelegene Britannien verlegt haben, anstatt sie wieder nach Ägypten zurückkehren zu lassen.[23]

Schildzeichen unbekannt
Praepositus militum Tungrecanorum, Dubris Die „tungrischen Soldaten“ lagen im heutigen Dover. Die Einheit scheint ursprünglich aus einer Truppe der Tungri (auch Tungrecani oder Tongrecani) hervorgegangen zu sein. Dieser Stamm siedelte in der Region um die belgische Stadt Tongres. Die Notitia listet noch zwei andere Tungriereinheiten für Britannien auf. Sie könnte also eine Vexillation der
  • Cohors primae Tungri unter dem Dux Britanniarum in Borcovicio (Housesteads) oder noch wahrscheinlicher der teilberittenen
  • Cohors secundae Tungri sein. Die Cohors I wird in der Notitia sonst nirgendwo anders erwähnt.

Epigraphische Beweise für eine Cohors Tungrorum millaria sind sehr zahlreich vorhanden, aber es existieren auch Inschriften einer Cohors II Tungrorum milliaria equitata. Die meisten stammen aus Nordengland, einige wurden auch im Süden gefunden. Auch ein Altar aus Birrens (Blatobulgium), ein Vorposten des Hadrianswalls, wurde von den Soldaten einer COH II MIL EQ in Auftrag gegeben. In Dover konnte bislang keine entdeckt werden, die die Identität der spätantiken Garnison beweist. 1976 erwähnte Hassall eine Lücke in der Liste des Dux Britanniarum, die genau diese Einheit abdeckt, und weithin als solche akzeptiert wurde. Dies würde bedeuten, dass die Garnison von Dover in Wahrheit eine dritte, eigenständige Tungriereinheit war. Dieser Umstand kann dadurch erklärt werden, dass die Cohors I Tungrorum millaria und der Rest der Cohors II Tungrorum milliaria equitata als Infanterietruppe in der Armee des britischen Dux aufgingen, während die Tungriereinheit des Comes der Sachsenküste aus den Reitern der alten Cohors II Tungrorum milliaria equitata gebildet worden sein könnte. Man schlug auch vor, dass sie aus Gallien nach Britannien verlegt worden waren, nachdem die strategische Straße Köln-Boulogne während der Regierungszeit des Gratian (375–383) nicht mehr von regulären römischen Truppen gesichert wurde. Diese Theorie ist jedoch umstritten. Die Turnacenses in Dover waren zwar Limitanei, aber die Tungrecani waren auch, wie wir von Ammianus Marcellinus wissen, ein Regiment der Comitatenses. Tatsächlich sind zwei Einheiten der Tungrecani bekannt, die

  • Tungrecani Seniores und die
  • Tungrecani Iuniores,

die nach der Aufteilung der Armee zwischen Valentinian I. und Valens im Jahr 364 aus einer einzigen Einheit hervorgegangen waren. Die in der Kirche von Laupersdorf (CH) gefundene Inschrift der Tungrecani seniores[24] bezeugt, dass Valentinian für den Bau der Grenzbefestigungen im Ostteil der Maxima Sequanorum auch die Tungrier eingesetzt hat, ohne dass diese ihr eigentliches Standquartier – im konkreten Fall wohl Châlons-sur-Sâone – aufgegeben haben. Der Begriff pedatura („Abschnitt“) und die Tatsache, dass ein hoher Stabsoffizier (tribunus) mit der Aufsicht über die Bauarbeiten betraut war, legen nahe, dass die Tungrecani seniores wahrscheinlich nicht nur den an der strategisch wichtigen Straße über den Oberen Hauenstein gelegenen burgus Balsthal-St. Wolfgang errichtet haben. Von ihnen erbaut wurden auch andere militärische Anlagen im westlichen Teil des schweizerischen Mittellands. Die Verteidigung der Rheingrenze endete im Winter 401/402, nachdem der magister utriusque militiae Stilicho die dort stationierten Einheiten abgezogen hatte, um die in Italien eingefallenen Westgoten unter Alarichabzuwehren. Zu den abgezogenen Einheiten gehörten wohl auch die Tungrecani seniores; jedenfalls werden sie in der Notitia dignitatum (5,148; 7,6) in der Italienarmee aufgeführt.[25] Die Tungrecani in Britannien könnten dann aus der dortigen Feldarmee später zu den Kastellen der Südostküste abkommandiert worden sein, dessen Garnisonen infolge der Krise von 367 drastisch geschwächt waren. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Tungrecani Iuniores, 365 in Konstantinopel den Putsch des Usurpator Procopius unterstützten. Diese Einheit ist im Gegensatz zu den Seniores in der Notitia nicht belegt und ihre Degradierung in den Status von Grenzwächtern wäre damit plausibel. Es könnte aber auch sein, dass sie erst im Zuge der Invasion von 367 - mit der Armee des Flavius Theodosius - nach Britannien entsandt worden war.[26]

Schildzeichen unbekannt
Praepositus numeri Turnacensium, Lemannis Vermutlich eine Einheit germanischer Söldner aus der Region um Turnacum im nördlichen Gallien, die heutige belgische Stadt Tournai. Der einzige schriftliche Beweis aus Lympne erwähnt einen Präfekten der dort stationierten Classis Britannica (ca. 125 n. Chr.), aber es wurde bis dato nichts in Bezug auf die dort befindlichen Landtruppen gefunden. Es könnte sein, dass dieser Numerus mit dem Truncensimani in der Armee des magister militum per Gallias in Zusammenhang steht. Weiters besteht auch die Möglichkeit, dass den Kopisten der Notitia – wie so oft – ein Abschreibfehler unterlief und diese Einheit einst aus einer der Rheinlegionen (Legio XXX Ulpia Victrix) herausgezogen wurde. Ihre Resttruppe lag im 4. Jahrhundert im Kastell Tricensimae (Xanten).[27]
Schildzeichen unbekannt
Tribunus cohortis primae Baetasiorum, Regulbio Diese, im heutigen Reculver (Kent) stationierte Einheit gehörte zu einer Kohorte, die vermutlich gegen Ende des 1. Jahrhunderts aus dem Stamm der Baetasii in Germanien rekrutiert wurde. Auf einem Altar aus Maryport im Norden Englands wird sie als COH(ors)I BAESTASIORUM C(ivium) R(omanorum) bezeichnet. In Reculver wurden nur Ziegelstempel mit dem Namenskürzel dieser Kohorte geborgen. In der Notitia wird die Einheit als Vetasiorum bezeichnet. Diese wurde von Otto Seeck in [Ba]etasiorum abgeändert, da er in den Schriftquellen eindeutig belegt ist.[28]
Schildzeichen unbekannt
Praefectus legionis secundae Augustae, Rutupis Die Männer zählten zu einer der Stammlegionen Britanniens, der Legio II Augusta. Bis in das frühe 3. Jahrhundert im Legionslager Isca Silurum stationiert, lag sie im 4. Jahrhundert bei Richborough in Kent. Andere – mutmaßliche – Vexillationen dieser Einheit scheinen in der ND Occ. als

Letztere wurde von Hassal in Frage gestellt, der die „Britones“ als eine Hilfstruppe von Provinzialen sieht und nicht als Legionäre. Die archäologischen Funde weisen eindeutig darauf hin, dass das spätantike Kastell in Richborough nur ein Zehntel der Größe des Legionslagers in Caerleon (Isca Silurum) hat, was darauf hindeutet, dass die Legion in der Spätantike personell stark verkleinert wurde. Die in Richborough gefundenen Münzen lassen sich bis um 400 n. Chr. datieren. Ihre Anzahl ist bedeutend größer als an jeder anderen archäologischen Stätte in Britannien, was seine fortgesetzte Bedeutung zum Zeitpunkt der Erstellung der Notitia bestätigen würde. Vielleicht war dort aber auch nur der Kommandostab der Einheit stationiert. Die für das frühe 5. Jahrhundert bezeugte Legio II Brittannica wurde möglicherweise unter dem Usurpator Carausius, während des Bestehens seines britannisch-gallischen Imperiums (287–296) aus der Legio II Augusta herausgezogen.

Schildzeichen der Legio Secunda Brittannica
Praepositus numeri Abulcorum, Anderidos Die Angehörigen dieses numerus stammen ursprünglich wohl aus Abula (heute Avila) in der hispanischen Provinz Tarraconensis, das u. a. in den Geographica des Claudius Ptolemäus erwähnt wird. In Pevensey wurden bislang keine römischen Inschriften gefunden, dort aufgefundene Ziegelstempel mit der Inschrift „HON AUG ANDRIA“ erwiesen sich später als plumpe Fälschungen. Die Abulci werden vom Chronisten Zosimus als Teilnehmer an der Schlacht von Mursa (351) erwähnt. Ob es sich dabei um die besagte Einheit handelte, ist unbekannt. In der Notitia tragen noch zwei andere Einheiten diesen Namen, dies deutet darauf hin, dass sie ursprünglich in Pevensey stationiert waren:
  • Soldaten unter dem Praefectus militum Anderetianorum, in der Armee des Dux Mogontiacensis in Vicus Iulius und
  • Marineinfanteristen unter dem Praefectus classis Anderetianorum, stationiert in Parisius.[29]

Diese beiden Einheiten waren Teil der Gallienarmee des Magister peditum presentalis. Die Abulcier in Pevensey hingegen gehörte höchstwahrscheinlich zu den Abulci in der gallischen Armee des Magister equitum, sie wurden im frühen 5. Jahrhundert aus Britannien abgezogen. Der Numerus bestand zu dieser Zeit wohl hauptsächlich aus Germanen. Da Anderitum in der Endphase des römischen Britannien wahrscheinlich nicht mehr aus staatlichen Magazinen versorgt wurde, bewirtschafteten sie mit ihren Familien meist kleine, steuerbefreite Höfe und stellten alles, was sie zum Leben benötigten, vor Ort her.[30]

Schildzeichen unbekannt
Praepositus numeri exploratorum, Portum Adurni Eine Einheit deren Soldaten als Aufklärer und Späher eingesetzt wurden und im heutigen Portchester lagen. Ausgrabungen haben gezeigt, dass im 4. Jahrhundert die Garnison des Kastells wohl hauptsächlich aus Germanen bestand, die dort zusammen mit ihren Familien lebten. Man nimmt an, dass die Einheit ursprünglich nördlich des Hadrianswalls stationiert war und vorwiegend aus Reitern bestand. Im Zuge der Reorganisation der Grenzverteidigung unter Valentinian I. (364 bis 375) wurden sie um 367 an den Litus saxonicum verlegt. Die Einheit hat dort keine Inschriften hinterlassen. Aber noch andere Exploratores werden in der Notitia für Britannien angeführt, die Soldaten unter dem Praefectus numeri exploratorum in Lavatres (Bowes, Durham) in der Armee des Dux Britanniarum. Frühere Inschriften belegen zwei weitere Einheiten: den
  • N(umeri) EXPLOR(atorum) BREMEN(iensium), bekannt von einem Altar, der in Bremenium (High Rochester) gefunden wurde und die
  • EXPL[oratores Habitacenses], erwähnt auf einer Altarinschrift von 209 n. Chr., aus Habitancum (heute Risingham).

Aus welcher dieser beiden Einheiten die in der Notitia aufgelistete hervorgegangen ist, ist unklar. Da auch die Gallienarmee des Magister equitum eine Einheit von Exploratores in ihren Reihen hatte, die noch dazu unmittelbar nach den Abulci aufgelistet wird, scheinen diese beiden Einheiten im Feld zusammen eingesetzt worden zu sein, genau wie der Numerus Abulcorum und der Numerus exploratores an der Sachsenküste. Die Einheit in Portchester könnte später der gallischen Feldarmee zugeteilt worden sein, obwohl es auch denkbar wäre, dass die Truppe in Bowes hierfür herangezogen wurde.

In der Notitia sind ansonsten noch vier weitere Einheiten der Exploratores angeführt: drei unter einem

Schildzeichen unbekannt

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Johnston 1977, S. 7, Ralf Scharf, 2005, S. 69, 71 und 301.
  2. Eutropius, Breviarium, IX.21
  3. Aurelius Victor, De Caesaribus XXXIX.20-21
  4. Fields: Rome's Saxon Shore - Coastal Defences of Roman Britain AD 250-500, Osprey 2006.
  5. Michael Zerjadtke: Das Amt Dux in Spätantike und frühem Mittelalter: Der ducatus im Spannungsfeld zwischen römischem Einfluss und eigener Entwicklung. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2018, S. 287.
  6. Samuel Heywood: A Dissertation Upon the Distinctions in Society, and Ranks of the People, Under the Anglo-Saxon Governments. W. Clarke and Sons, 1818. S. 435.
  7. Ammianus Marcellinus, Historia Romana, 17,8,6-7.
  8. Ian Hughes: Imperial Brothers: Valentinian, Valens and the Disaster at Adrianople. Pen and Sword, 2013, S. 367.
  9. Anm.: Carausius hatte noch das Kommando auf beiden Seiten des Ärmelkanals als auch an der Westküste Britanniens innegehabt.
  10. Joan Alcock: A Brief History of Roman Britain. Hachette UK, 2011, S. 102—103.
  11. barbarica conspiratio, Ammianus Marcellinus 27,8,1–6, Peter Salway 2001, S. 281, A.H.M. Jones 1986, S. 1424.
  12. Nic Fields. Rome's Saxon Shore: Coastal Defences of Roman Britain. AD 250-500. — Osprey Publishing, 2006, S. 16.
  13. AHM Jones, 1986, S. 1424.
  14. Officium autem habet idem vir spectabilis dux hoc modo
  15. Konrad Stauner 2010, S. 133 und 153.
  16. Occ. XXVIII.
  17. Sub dispositione viri spectabilis comitis litoris Saxonici per Britanniam („zur Verfügung des höchst ehrenwerten Grafs der Sachsenküste in Britannien“)
  18. sub dispositione
  19. ND occ. 154.3.
  20. ND occ. 102, 5.254, 102, 5.23 und 102, 5.41.
  21. ND or. 56, 7.13, 52, 7, Hassall 1976, S. 113f.
  22. ND occ. 143,6 und ND or. 80,2
  23. Johnson 1977, S. 8.
  24. CIL 13, 5190
  25. Schwarz, Peter-Andrew: Der spätantike Hochrhein-Limes – Zwischenbilanz und Forschungsperspektiven. In: Am anderen Flussufer. Die Spätantike beiderseits des südlichen Oberrheins. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg, Heft 81, Esslingen 2019 – S. 42-43.
  26. Amm. XXVI, 6,12, ND occ. 132, 3, 154, 24, Altar Birrens: RIB 2100, Johnson 1977, S. 8.
  27. ND occ. 132,4, RIB 66
  28. ND Occ. XXIII, 18, RIB 838, RIB 2468, RIB 830 ("COH I BAETASIORVM C R"); RIB 843 ("COH I BAETASIOR C R"); und CIL 16, 48 ("I BAETASIORVM")
  29. ND occ. 52, 23
  30. ND occ. 132, 9.
  31. ND occ. 28, 21, DuBois 2015, S. 275, RIB 1235, RIB 1270.

Literatur

  • Otto Seeck: Notitia Dignitatum accedunt Notitia urbis Constantinopolitanae et Latercula prouinciarum. Weidman, Berlin, 1876.
  • Dietrich Hoffmann: Das Spätrömische Bewegungsheer und die Notitia Dignitatum. Rheinland-Verlag, 1969–1970, Düsseldorf 1969.
  • Thomas S. Burns: Barbarians within the gates of Rome. Indiana University Press, Bloomington 1994, ISBN 0-253-31288-4.
  • Alexander Demandt: Geschichte der Spätantike: Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian 284-565 n. Chr. München 1998, ISBN 3-406-57241-3 (Beck Historische Bibliothek).
  • Nic Fields: Rome’s Saxon Shore Coastal Defences of Roman Britain AD 250–500. Osprey Books, 2006, ISBN 978-1-84603-094-9 (Fortress 56).
  • Adrian Goldsworthy: Die Legionen Roms. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-86150-515-0.
  • Arnold Hugh Martin Jones: The Later Roman Empire, 284-602. A Social, Economic and Administrative Survey. 2 Bde., Johns Hopkins University Press, Baltimore 1986, ISBN 0-8018-3285-3.
  • David E. Johnston: The Saxon Shore. The Council for British Archaeology, London 1977 (Research Report. Nr. 18).pdf
  • Stephen Johnson: The Roman Forts of the Saxon Shore. 1976 und J. C. Mann, in V. A. Maxfield (Hrsg.): The Saxon Shore, 1989.
  • Simon MacDowall: Late Roman Infantryman, 236-565 AD. Weapons, Armour, Tactics. Osprey Books, 1994, ISBN 978-1-85532-419-0 (Warrior 9).
  • Ralf Scharf: Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. Eine Studie zur spätantiken Grenzverteidigung. Walter de Gruyter, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-11-018835-X (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände, Band 48. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • Peter Salway: History of Roman Britain. Oxford History of England, Oxford Paperbacks 2001.
  • Michael S. DuBois: Auxillae: A Compendium of Non-Legionary Units of the Roman Empire. Lulu Press 2015, ISBN 978-1-329-63758-0.
  • Konrad Stauner: Der cornicularius in den Büros der comitalen und ducalen Kommandeure in der Notitia dignitatum. In: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik. Band 25, 2010, S. 131–171 (online).
  • Marc Hassall: Aspects of the Notitia Dignitatum. Oxford 1976.
  • Joan Alcock: A Brief History of Roman Britain. Hachette UK, 2011.
  • Ian Hughes: Imperial Brothers: Valentinian, Valens and the Disaster at Adrianople. Pen and Sword, 2013.
  • Donald A. White: Litus Saxonicum: the British Saxon Shore in Scholarship and History. University of Wisconsin Press, Madison 1961.