Bundestagsauflösung 2005
Bundestagsauflösung 2005 (auch Vertrauensfrage II) bezeichnet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Auflösung des Parlaments und die Anordnung von Neuwahlen infolge der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Gerhard Schröder bestätigt. Maßstab sei vor allem der Zweck des Art. 68 Grundgesetz, ihm widerspreche eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nicht. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei „keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen“ (Köhler-Formel). Die Entscheidung entwickelt die Rechtsprechungsgrundsätze zur Prüfung einer solchen Vertrauensfrage aus dem Jahre 1983 fort (Vertrauensfrage). KernaussagenDie Entscheidung ist ein Meilenstein in der Gerichtspraxis der richterlichen Selbstbeschränkung und entwickelt die bisherige Rechtsprechung in zwei wesentlichen Punkten fort:
Das Gericht stellt klar, dass damit keineswegs ein unerlaubtes Plebiszit für die Regierung erreichbar werde, um ihre Politik zu akklamieren. Denn das Themenspektrum eines Wahlkampfes sei von ihr nicht steuerbar, auch nicht aus welchen Motiven das Volk zu einem bestimmten Votum gelangen wird. Allenfalls wäre dies der Fall bei einer monothematischen Fokussierung aller politischen Kräfte, so dass sich die Bundestagswahl auf eine einzelne bestimmte Sachfrage beziehe. Dies sei 2005 jedoch nicht der Fall. DetailaussagenDer Entscheidung liegen folgende Detailaussagen zu Grunde:
Sondervotum der Richterin Lübbe-WolffDie Richterin Lübbe-Wolff stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu, wendet sich aber gegen die Auslegung des Art. 68 GG, mit der das Gericht eine bloße Kontrollfassade aufgebaut habe. Es sei der Wissenschaftsauffassung einer formalen Verfassungsinterpretation nicht weit genug gefolgt: Die Vertrauensfrage sei keine Wissensfrage, die jeder beantworten oder gar dies prüfen könnte. Der Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage stellt, frage nicht nach dem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments, ihn und sein politisches Programm im künftigen Abstimmungsverhalten zu unterstützen (performative Willensbekundung). Die Vertrauensfrage könne daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden. Das 1983 eingeführte ungeschriebene materielle Tatbestandsmerkmal von Art. 68 GG laufe dagegen darauf hinaus, dass das Votum des Bundestages zur Überprüfung durch den Bundespräsidenten und das Gericht gestellt wird. Diese Rolle stehe dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Vielmehr sei in einer Demokratie die einzig statthafte Methode, den Willen des Parlaments festzustellen, ein Mehrheitsbeschluss des Parlaments und sonst nichts. Das Defizit dieser Auslegung sei durch den Einschätzungsspielraum des Bundeskanzlers nicht behoben. Tatsächlich habe das Gericht den Einschätzungsspielraum so großzügig bemessen, dass es praktisch nicht mehr in die Lage kommen könne, die Kanzlerprognose zu korrigieren. Es verlange zwar eine materielle Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit der Regierung, gestatte aber die Berufung auf eine vor Gericht nicht darstellbare „verdeckte Minderheitslage“. Ein Tatbestandsmerkmal, das man mit dem Verweis auf Verborgenes belegen könne, führe nur noch eine juristische Scheinexistenz. Dieses materielle Tatbestandsmerkmal sei 1983 ohne Not vom Verfassungsgericht eingeführt und schon damals nicht ernsthaft angewandt worden. Gegen die Umgehung dieser materiellen Merkmale habe das Gericht nichts aufzubieten und installiere ein strukturelles Vollzugsdefizit. Eine materielle Auslegung von Art. 68 GG erzeuge vielmehr systematisch den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung durch den Kanzler. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht sich für diese Auslegung berufe, sei das abträglicher als jede vorgezogene Neuwahl. Das Gericht hätte solch unnötige Anforderungen aufgeben sollen. Sondervotum des Richters JentschNach Überzeugung des Richters Hans-Joachim Jentsch hätte den Anträgen stattgegeben werden müssen. Er beruft sich auf eine andere Auffassung in der Rechtswissenschaft. Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lasse sich Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen. Das Grundgesetz kennt das konstruktive Misstrauensvotum, kenne aber kein „konstruiertes Misstrauen“ des Kanzlers gegenüber dem Parlament. Schließlich schwäche die Auffassung der Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages: Für das verfassungsrechtlich allein relevante Argument, eine stetige und verlässliche Mehrheit stehe dem Kanzler nicht mehr zur Verfügung, gebe es keine sichtbar gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte. Die Auffassung der Senatsmehrheit beruhe auf einem Abgehen von den zutreffenden Maßstäben der Entscheidung 1983[1], ohne dies kenntlich zu machen. Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so käme dies dem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht sehr nahe. Diesen Weg kennt das Grundgesetz aber aus guten Gründen und im Interesse der Stabilität des politischen Systems nicht. Ein solch weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers gäbe die materiellen Voraussetzungen preis, die das Bundesverfassungsgericht als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG festgestellt hat.[2] Er entziehe Bundespräsident und Verfassungsgericht jegliche Beurteilungsgrundlage, wenn allein die Lagebeurteilung des Kanzlers maßgeblich ist. Die hier vorliegende Instrumentalisierung der Vertrauensfrage schwäche die Stellung des Parlaments. Sie beinhalte die Vorstellung, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht (mehr) geeignet sind, den Willen des Volkes abzubilden. Zur Rückkopplung der Regierungspolitik müsse daher das Volk selbst befragt werden. Mit der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie in der Verfassung und dem Auftrag des Abgeordneten sei dies nicht vereinbar. Die Senatsmehrheit erlaube einem Bundeskanzler, über eine „unechte Vertrauensfrage“ Neuwahlen herbeizuführen, wenn er die akklamatorische Bestätigung seiner Politik für erforderlich hält, um parteiinterne Widerstände zu überwinden. WeblinksEinzelnachweise
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