Bürgerrat

Ein Bürgerrat ist eine der Formen der unverbindlichen Bürgerbeteiligung in Deutschland. Ihr Ziel ist Bildung von Meinungen zuhanden von Entscheidungsträgern unter Einbindung eines ausgewählten Teils der Öffentlichkeit, als eine der Formen der sogenannten „deliberativen Demokratie“. Bürgerräte werden durch ein Parlament, von der Regierung, Verwaltung oder aus der Zivilgesellschaft (NGOs) initiiert.

Deutschland

Durch den Deutschen Bundesrat berufene Bürgerräte

Geschichte

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble warb für Bürgerräte, da sie wichtig seien, um die Bindung zwischen den Wählern und den Gewählten zu stärken; auch andere Politiker seiner Partei sprachen sich für das Konzept aus.[1]

Der Deutsche Bundestag setzt Bürgerräte ein, um direkte Rückmeldungen zu politischen Fragestellungen zu bekommen; dabei soll auch Lobbyismus ausgeschlossen werden. Für diese Bürgerräte werden die Teilnehmer bundesweit aus 30 bis 200 Einwohnerinnen und Einwohnern ab 16 Jahren bundesweit ausgelost. Ziel ist die Erarbeitung eines Bürgergutachtens mit Handlungsempfehlungen, ohne einen Anspruch auf Umsetzung durch den Deutschen Bundestag.[2][3] Der erste vom Bundestag beschlossene Bürgerrat war im Jahr 2023 der Bürgerrat Ernährung im Wandel.[4]

Die Berufung des ersten Bürgerrats durch den Bundestag wurde von der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag abgelehnt, es läge „in der Hand der Ampel, ob das Instrument Bürgerrat eine Zukunft hat oder nur ein teures Bundestagsplanspiel mit Kosten in Millionenhöhe bleibt“, erklärte Philipp Amthor im Januar 2024.[5][6] Christoph Degenhart, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, hält Bürgerräte für eine Schwächung der Demokratie: „Je mehr Bedeutung den Empfehlungen dieses Gremiums zugemessen wird, desto mehr gerät das Projekt in Konflikt mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie.“ Patrizia Nanz, deutsche Politikwissenschaftlerin und Expertin für Demokratie, beteiligende Verwaltung und Nachhaltigkeit, hält dagegen Bürgerräte für eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie.[1] Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages veröffentlichten im Jahr 2023 eine Ausarbeitung mit dem Titel: „Zum Bürgerrat „Ernährung im Wandel“. Verfassungsrechtliche Einordnung einzelner Kritikpunkte“.[7]

Durch Vereine, NGOs berufene Bürgerräte

In Deutschland wurden von Vereinen, angeführt von Mehr Demokratie (mit eigener Projekt-Website buergerrat.de[8]) u. a. auch der Bürgerrat Demokratie (2019–2020), der Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt (2020–2021), der Bürgerrat Klima (2021) und der Bürgerrat Bildung und Lernen (seit 2021) initiiert.[9]

Ähnliche Formen der Bürgerbeteiligung

Ähnliche Formen von Beteiligung der Einwohnerschaft sind u. a. Bürgerforum, Bürgerparlament und Bürgerversammlung (siehe auch Bürgerbeteiligung).

Kritik

Kritische Stimmen weisen auf Defizite (auch demokratische Defizite) hin:[5][6][10][11][12][13][14][15][16]

  • wenige Teilnehmer, ungenügende Repräsentanz – nur Bruchteile der Bürger, Menschen werden ausgewählt (ausgelost)
  • angleitete Diskussion, Lösungssuche („Deliberation“) – je nachdem, wer und wie die Diskussionem an- und begleitet, kämen auch die Vorschläge
  • vorgegebene Themen
  • Unverbindlichkeit – Teilnehmer geben bloss Empfehlungen an die Veranstalter ab
  • Enttäuschung der Teilnehmer (nicht ernst genommen werden, Unverbindlichkeit, nur vorgegebene Themen)
  • Alibiübungen, „Beschäftigungstherapie, paternalistische Gesprächsangebote“
  • Kosten, „Millionen Euro an Steuergeldern“

Zitate, Frank Decker, Bonner Politologe:[16]

  • „So waren beim Leipziger Bürgerrat, bei dem es um die Bürgerbeteiligung und die direkte Demokratie selbst ging, die Experten stark voreingenommen. Entsprechend einseitig fielen ihre Reformvorschläge aus, denen die mit der Materie vertraut gemachten Bürger mit jeweils grossen Mehrheiten zustimmten.“
  • „Die meisten Empfehlungen laufen auf Allgemeinplätze hinaus. Solche Ratschläge dürften die Regierenden in ihrem Aktionskreis wohl kaum einengen. Oder sie werden von ihnen schlichtweg ignoriert. War es vielleicht gerade die erwartbare Folgenlosigkeit, die den Bundestag bewogen hat, das Thema vorzuschlagen?“
  • „Aus der Forschung wissen wir, dass die Stärkung der Selbstwirksamkeit der Bürger, die man sich von den Verfahren erhofft, nur eintritt, wenn diese «einen Unterschied machen». In ihrer derzeitigen Form werden die Bürgerräte dem nicht gerecht. Sie nähren eher den Verdacht einer Alibiveranstaltung, die freilich beiden Seiten nützt: den Regierenden, weil sie die Bürger beschwichtigen können, und den zivilgesellschaftlichen Initiatoren, die sich ein neues Tätigkeitsfeld erschliessen, nachdem sie mit ihrem Einsatz für die direkte Demokratie in der Sackgasse gelandet sind.“

Schweiz

In der Schweiz gibt es keine Einschränkungen, die in Deutschland und weiteren Ländern (noch) üblich sind. Die Bürger sind frei, mit ausgebauten politischen Rechten, sie diskutieren, suchen nach Lösungen und entscheiden gemeinsam mit den Gewählten. Auf Gemeindeebene u. a. in Gemeindeversammlungen (siehe auch Bürgergemeinde bzw. Burgergemeinde, eine traditionelle Form ist die Landsgemeinde in zweien Kleinkantonen AI und GL). Auf allen Ebenen in breiten Diskussionen zu Initiativen, Abstimmungen und Referenden.

Vorschlag Klimarat

Im September 2020 reichte die Grüne Fraktion Balthasar Glättlis parlamentarische Initiative ein: «Als Antwort auf die Klimakrise die Demokratie erweitern. Einen durchs Los bestimmten Klimarat schaffen.» Balthasar Glättli liess sich dabei von Emmanuel Macrons «Klimarat» Convention citoyenne pour le climat inspirieren.[17][18][19][20]

Forschungsprojekte

Daniel Kübler und Nenad Stojanović (zdaarau.ch / uzh.ch, unige.ch), inspiriert von Vorbildern im Ausland, untersuchen mögliche Rollen von Bürger-, Bevölkerungsrat in der Schweiz.[21] Sie initiieren auch Bürgerräte/Bürgerpanels in Gemeinden (wie Sion, Genf, Lausanne, Uster und weitere) und untersuchen, wie sie ihre Empfehlungen als weiterer Input in die Diskussionen zu Abstimmungen einbringen können.[19][22][23]

Reaktionen, Kritik der «Importe»

Angelika Hardegger, Schweizer Journalistin, bringt die Kritik der «importierten» Bürgerräte, und ähnlicher Bestrebungen, aus Sicht der direktdemokratischen Erfahrung der Schweiz ein:

„Wenn etwas unserer Demokratie unwürdig ist, ist es der Ruf nach einem [Bürger]rat. Denn es gibt ihn ja schon, den [Bürger]rat. Wir sitzen alle drin. [Wer] mitbestimmen kann, ist besser informiert. Die Bühne für Verhandlung ist in der Schweiz frei, für jede und jeden.“

Angelika Hardegger: Neue Zürcher Zeitung, März 2021[24]

„Wir alle sind Bürgerrat!“
„Wir alle sind Bürgerkonvent!“

Vladimir Rott: Direkte Beteiligung in direkter Demokratie – kompetent, konstruktiv, kooperativ. Partizipative Systeme in der Politik[25]

Medien (siehe auch Einzelnachweise)

Einzelnachweise

  1. a b Laura Dahmer: „Eine scheindemokratische Veranstaltung“: Schadet der Bürgerrat der Demokratie? In: tagesspiegel.de. 11. Mai 2023, abgerufen am 22. April 2024.
  2. bundestag.de, „Bürgerräte“, abgerufen am 21. April 2024.
  3. bundestag.de, „Was sind Bürgerräte?“, abgerufen am 21. April 2024.
  4. bundestag.de, „Der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages“, abgerufen am 22. April 2024.
  5. a b cducsu.de, „Experiment Bürgerrat – Dank an engagierte Bürger, aber Kritik am Parlamentsverständnis der Ampel“, 14. Januar 2024, abgerufen am 22. April 2024
  6. a b sueddeutsche.de, „Auf ein Schnitzel mit dem Bürgerrat“, 27. September 2023, abgerufen am 22. April 2024
  7. bundestag.de, „Zum Bürgerrat „Ernährung im Wandel“. Verfassungsrechtliche Einordnung einzelner Kritikpunkte“, abgerufen am 22. April 2024
  8. buergerrat.de/ueber-uns, Über uns auf buergerrat.de
  9. buergerrat.de/buergerraete/bundesweite-buergerraete, Bundesweite Bürgerräte auf buergerrat.de
  10. Susanne Gaschke: Zensur gegen Fake News? Die Bertelsmann Stiftung und ihr freiheitsfeindlicher «Bürgerrat» – Ein pseudo-repräsentatives Gremium..., Neue Zürcher Zeitung 16. September 2024
  11. Isolde Charim: Bürgerräte als neues politisches Mittel: Reale oder gefühlte Partizipation – Bürgerräte sollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Fraglich ist nur, ob echte Teilhabe in Massendemokratien überhaupt möglich ist, Kolumne Knapp überm Boulevard, Die Tageszeitung 23. Juli 2024
  12. Laura Giesen: Bürgerräte: Demokratie erneuern – Bürgerräte haben Potenzial zur Konfliktvermeidung. Dafür müssen Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen sie ernst nehmen!, Die Tageszeitung 20. Februar 2024
  13. Susanne Gaschke: Bürgerräte sind Mitmachtheater – Die deutschen Parteien rutschen in eine tiefe Vertrauenskrise. Plötzlich ist die Bevölkerung gefragt – aber nur ein bisschen. Doch diese Art von Ersatzpolitik braucht niemand, Neue Zürcher Zeitung 28. September 2023
  14. Susanne Gaschke: Warum Bürgerräte Deutschland nicht mehr Demokratie bringen würden – Der Bundestag will mit drei Gremien das Volk stärker einbeziehen. Der Nutzen ist zweifelhaft, denn das Konzept überzeugt nicht. Dies gilt besonders für den Punkt der «neutralen» Experten und Moderatoren, Neue Zürcher Zeitung 7. Mai 2023
  15. Manfred Ronzheimer: Bürgerrat Forschung legt Ergebnisse vor: Begrenzte Transparenz – Der Bürgerrat sollte erarbeiten, wie die Öffentlichkeit an Forschungsentscheidungen beteiligt werden kann. Nur die Kommunikation klappt nicht. Eine Auswahl wurden von Experten fachlich gebrieft – von November 2021 bis März 2022, Die Tageszeitung 29. Mai 2022
  16. a b Frank Decker: Die Forderung nach mehr direkter Demokratie ist in Deutschland oft eine Alibiveranstaltung, Neue Zürcher Zeitung 9. März 2021
  17. Als Antwort auf die Klimakrise die Demokratie erweitern. Einen durchs Los bestimmten Klimarat schaffen, 20.467 Parlamentarische Initiative, Grüne Fraktion, Balthasar Glättli, 24. September 2020, auf parlament.ch.
  18. Dossier Klimarat auf Web von Balthasar Glättli, balthasar-glaettli.ch.
  19. a b Stefan Häne: Per Los ins Gremium: Grüne wollen Klimarat – das geht sogar Verbündeten zu weit – 200 zufällig ausgewählte Bürger sollen neue Impulse in die nationale Umweltpolitik bringen, fordern die Grünen. Die SP winkt ab, die GLP spricht von reinem Politmarketing, 3. September 2021, tagesanzeiger.ch
  20. Grüne wollen wegen Klimakrise einen Schweizer Bürgerrat schaffen, aeg/sda, 21. August 2021, watson.ch
  21. u. a. Forschungsprojekt «Bevölkerungsrat 2025»: Erforschung neuer Demokratieformen, Medienmitteilung ZDA / UZH, UNIGE, 16. April 2024 / Swiss Citizens’ Assembly: a democratic innovation involving sortition, deliberation and participatory democracy, auf Web zdaarau.ch / Projektwebsite Bevölkerungsrat 2025, auch FR, IT, EN
  22. Andri Heimann, Robin Gut, Francesco Veri, Daniel Kübler, Nenad Stojanović: Bürgerpanels für mehr Klimaschutz im Kanton Zürich. Schlussbericht, Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 20 Juni, 2023, auf Web des Kantons Zürich zh.ch
  23. Die Direktion der Justiz und des Innern (JI) hat Winterthur, Thalwil und Uster für ihr Projekt «Bürgerpartei» auserkoren. Bürgerinnen und Bürger – 20 bis 30 Personen mit Losenentscheid ausgewählt – dürfen zum Thema Klimaschutz Ideen liefern, Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, Sitzung vom 13. Juli 2022
  24. Angelika Hardegger: Die Experten-Euphorie in der Klimafrage ist kontraproduktiv – Menschen sind mehr als Rechengrössen in Klimamodellen. Warum es gut ist, dass das Volk über das neue CO2-Gesetz abstimmt. In: Neue Zürcher Zeitung, 15. März 2021.
  25. S. 9 in Vladimir Rott: Direkte Beteiligung in Direkter demokratie – kompetent, konstruktiv, kooperativ. Partizipative Systeme in der Politik, präsentiert am zoom MD-Mitgliederabend mit Ralf-Uwe Beck, Feb '24, auf Web participation.direct