Als Sohn eines einfachen Eisenbahners besuchte Corvisier das Lycée Marceau in Chartres, südwestlich von Paris. Um sich das Geschichts- und Geografiestudium zu finanzieren, arbeitete er als Wachmann. Nach dem Abschluss wurde er zunächst Hilfs- und ab 1942 regulärer Lehrer an Lycées in Béthune, Lens und schließlich seiner Heimatstadt Chartes. 1946 bestand Corvisier die Agrégation (Staatsprüfung für das höhere Lehramt mit Verbeamtung auf Lebenszeit). Ab 1956 lehrte er am Pariser Lycée Henri IV, 1959 wurde er wissenschaftlicher Assistent an der Universität Paris (Sorbonne). Parallel zur Lehrtätigkeit arbeitete er 13 Jahre lang an seiner thèse d’État (entspricht etwa einer Habilitation) über die französische Armee und Soldaten während der Regierungszeit des Herzogs von Choiseul im späten 18. Jahrhundert, die er 1964 abschloss und an der Sorbonne verteidigte. Diese Arbeit gilt als grundlegend für eine Generation französischer Militärhistoriker und eine neue Art, Militärgeschichte zu schreiben.[3]
Corvisier wechselte 1966 als Maître-assistant an die wiedergegründete Universität Nantes. Zwei Jahre später wurde er als Professor an die Universität Rouen berufen, wo er zehn Jahre lehrte. Zusätzlich unterrichtete er Anfang der 1970er-Jahre auch angehende Geschichts- und Geographielehrer an der École normale supérieure de l’enseignement technique in Cachan. Mitte der 1970er-Jahre nahm er Gastprofessuren an den Universitäten Montréal und Lausanne wahr. 1978 folgte Corvisier einem Ruf an die Universität Paris IV (Université Paris-Sorbonne).[4][5] Zudem war er Mitglied des Centre Roland Mousnier am Centre national de la recherche scientifique.[6] Er stand in engem Austausch mit seinen Historikerkollegen Roland Mousnier, Jean Meyer, Pierre Chaunu und Yves Durand. Corvisiers Forschungsseminar über die Beziehungen zwischen Armee und Gesellschaft galt als ein Laboratorium der französischen und europäischen Militärgeschichte. Zu seinen Schülern in Paris gehörte auch der deutsche Militärhistoriker Bernhard R. Kroener, der wissenschaftlich stark von ihm beeinflusst wurde. Nach seiner Emeritierung 1984 lehrte Corvisier noch vier weitere Jahre an der Universität.[5]
Von 1970 bis 1975 war er Präsident des Comité Français des Sciences Historiques. Er war von 1975 bis 1980 Vizepräsident und von 1980 bis 1990 Präsident der Commission Internationale d’Histoire Militaire (International Commission of Military History, ICMH). Danach wurde er deren Ehrenpräsident.[7] Für 2017 lobte die ICMH einen André Corvisier Prize für Dissertationen in Militärgeschichte aus.
Er starb im Alter von 95 Jahren in einem Altersheim in Illiers-l’Évêque im Département Eure und hinterließ seine Ehefrau, Kinder und Enkelkinder.[8]
Wirken
Corvisier gilt neben dem jüngeren Jean-Paul Bertaud als wichtigster sozialgeschichtlich orientierter Militärhistoriker in Frankreich.[9]
Sein bedeutendster Forschungsbeitrag innerhalb der Militärgeschichte liegt im Ancien Régime.[10] Er legte u. a. eine viel beachtete Biografie (1983) zum französischen Kriegsminister François Michel Le Tellier de Louvois,[11] der unter König Ludwig XIV. amtierte, sowie die Reihe Histoire militaire de la France vor.[12] Bei seinen Untersuchungen aus den 1970er und 1980er Jahren zur Sozialgeschichte[13] des französischen Militärs beschäftigte er sich als erster mit der Garnison und deren Bedeutung für die städtisch-ökonomische Entwicklung.[14] Er prägte den Begriff der „militärischen Gesellschaft“ (französisch: société militaire).[15] Er verwies auch darauf, dass die Präsenz von Soldatenfamilien das Militär im 18. Jahrhundert zu einer wirklichen Gesellschaft machte.[16]
Corvisier wandte sich in den 1980er Jahren als einer der ersten französischen Wissenschaftler verstärkt der historischen Clausewitz-Forschung zu.[17] Außerdem veröffentlichte er u. a. das Standardwerk A Dictionary of Military History (and the Art of War) (gemeinsam mit John Childs; französische Ausgabe, 1988) und eine relevante Studie (1997) zur Schlacht bei Malplaquet.[18]
Die Internationale Kommission für Militärgeschichte vergibt jährlich den André-Corvisier-Preis für die jahrgangsbeste Dissertationen zur Militärgeschichte.
↑Markus Meumann: Civilians, the French Army and Military Justice during the Reign of Louis XIV, circa 1640–1715. In: Erica Charters, Eve Rosenhaft, Hannah Smith (Hrsg.): Civilians and War in Europe, 1618–1815. Liverpool University Press, Liverpool 2012, ISBN 978-1-84631-711-8, S. 100, hier: S. 111.
↑Emmet Kennedy: Jacques Godechot (1907–1989). In: Philip Daileader, Philip Whalen (Hrsg.): French Historians 1900-2000. New Historical Writing in Twentieth-Century France. Wiley-Blackwell, Chichester 2010, ISBN 978-1-4051-9867-7, S. 306 ff., hier: S. 308.
↑Stephen Brumwell: Redcoats: The British Soldier and War in the Americas, 1755–1763. Cambridge University Press, New York u. a. 2002, ISBN 978-0-521-80783-8.
↑Janis Langins: Conserving the Enlightenment: French Military Engineering from Vauban to the Revolution. MIT Press, Cambridge 2004, ISBN 0-262-12258-8, S. 63.
↑Guy Rowlands: The Dynastic State and the Army under Louis XIV. Royal Service and Private Interest 1661–1701 (= Cambridge Studies in Early Modern History). Cambridge University Press, New York u. a. 2002, ISBN 0-521-64124-1, S. 19.
↑Bernhard R. Kroener: Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hrsg.): Was ist Militärgeschichte? (= Krieg in der Geschichte, Band 6). Schöningh, Paderborn u. a. 2000, ISBN 3-506-74475-5, S. 283 ff., hier: S. 285.
↑Jutta Nowosadtko: Soldiers as Day-Labourers, Tinkers and Competitors. Trade Activities in the Garrisons of the Eighteenth Century Using the Example of Prince-Bishopric of Münster. In: Thomas Buchner, Philip R. Hoffmann-Rehnitz (Hrsg.): Shadow economies and irregular work in urban Europe. 16th to early 20th centuries. Lit, Wien u. a. 2011, ISBN 978-3-8258-0688-0, S. 165, hier: S. 168.
↑Bernhard R. Kroener: Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. In: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hrsg.): Was ist Militärgeschichte? (= Krieg in der Geschichte, Band 6). Schöningh, Paderborn u. a. 2000, ISBN 3-506-74475-5, S. 283 ff., hier: S. 291.
↑Thomas Kühne, Benjamin Ziemann: Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte. In: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hrsg.): Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garnisonsgesellschaft im späten 17. und 18. Jahrhundert (= Krieg in der Geschichte, Band 6). Schöningh, Paderborn u. a. 2000, S. 9 ff., hier: S. 16.
↑Hervé Coutau-Bégarie: XXIst Century's Clausewitz in France. In: Reiner Pommerin (Hrsg.): Clausewitz goes global. Carl von Clausewitz in the 21st century. Commemorating the 50th anniversary of the Clausewitz Society. Hartmann, Miles-Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-937885-41-4, S. 107 ff., hier: S. 110.
↑Charles Messenger (Hrsg.): Reader's Guide to Military History. Routledge, New York u. a. 2013, ISBN 1-57958-241-9, S. 358.
↑André Corvisier, Académie française, abgerufen am 2. Juni 2014.