Air-France-Flug 447
Der Air-France-Flug 447 (AF 447) war ein Linienflug der Air France von Rio de Janeiro nach Paris, bei dem in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 2009 ein Airbus A330-203 über dem Atlantik abstürzte. Alle 228 Insassen kamen ums Leben. Es handelt sich um den bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Air France und den schwersten Unfall eines Airbus A330.[1] Der Abschlussbericht der Unfalluntersuchung wurde am 5. Juli 2012 veröffentlicht.[A 1] Flugzeug und BesatzungBei dem Flugzeug handelte es sich um einen Airbus A330-203, Seriennummer 660, Luftfahrzeugkennzeichen F-GZCP, ausgerüstet mit zwei Triebwerken des Typs General Electric CF6-80E1A3. Seinen Erstflug hatte es am 25. Februar 2005,[2] bis zum Unfall hatte es rund 18.870 Flugstunden absolviert. Die letzte größere Wartung fand am 16. April 2009 statt.[A 2] Am 17. August 2006 war das Flugzeug an einem Zwischenfall am Boden beteiligt, als es auf dem Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle gegen einen Airbus A321 rollte. Der A330 wurde dabei nur geringfügig beschädigt.[3] Auf dem Unfallflug waren 216 Passagiere, neun Flugbegleiter und insgesamt drei Piloten an Bord. Der Kapitän (CPT) Marc Dubois hatte eine Flugerfahrung von rund 11.000 Flugstunden (rund 1.800 davon als Kapitän auf A330), der stellvertretende Kapitän (Senior First Officer SFO) David Robert verfügte über 6.600 (davon 4.500 auf A330) und der erste Offizier (FO) Pierre-Cedric Bonin rund 3.000 Stunden (davon rund 800 auf A330).[A 3] Es war geplant, dass CPT und FO den ersten Flugabschnitt bestreiten, der CPT im Reiseflug vom SFO abgelöst wird, und eine Ruhepause einlegt, um auf dem letzten Flugabschnitt vor der Landung den FO abzulösen. Der Unfall ereignete sich nach der ersten Ablösung, so dass nur SFO und FO im Cockpit waren, während der CPT sich im Ruhebereich aufhielt, und erst nach Eintreten der Krisensituation ins Cockpit zurückkehrte. Dies ist ein allgemein übliches Vorgehen. Der FO war zudem als „Pilot Flying (PF)“ eingeteilt und steuerte das Flugzeug, während zunächst der CPT, und dann der SFO als „Pilot Non Flying (PNF)“ agierte, und sämtliche Systeme überwachte. Auch dies ist ein übliches Verfahren. FlugverlaufDas Flugzeug startete am 31. Mai 2009 um 19:03 Uhr Ortszeit (22:03 UTC) vom Flughafen Rio de Janeiro-Antônio Carlos Jobim mit Ziel Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle, auf dem es um 11:15 Uhr Ortszeit (09:15 UTC) eintreffen sollte. Das Flugzeug flog in eine Gegend mit bekannten schweren Gewittern,[A 4] wie sie in der innertropischen Konvergenzzone üblich sind. Hätte das Flugzeug einen Umweg geflogen, um dem Wetter auszuweichen, so hätte es womöglich den Direktflug nach Paris nicht geschafft, sondern zwischenlanden müssen.[4] Um 01:50 UTC verließ die Maschine nördlich der Inselgruppe Fernando de Noronha den Abdeckungsbereich des brasilianischen ATC-Radars. Innerhalb der nächsten 10 Minuten überließ der Kapitän seinen Platz und seine Rolle als beisitzender und nicht aktiv steuernder Pilot dem ersten Kopiloten, während der zweite Kopilot wie seit dem Start das Flugzeug flog. Zwischen 02:10 und 02:14 UTC übermittelte das Flugzeug über ACARS 24 automatisch generierte Wartungsmeldungen an die Zentrale von Air France. Die Analyse dieser Meldungen ergab, dass die meisten als Folge von Widersprüchen zwischen den verschiedenen Geschwindigkeitsmesssystemen gedeutet werden können. Aufgrund der unterschiedlichen Messwerte wurde unter anderem der Autopilot um 02:10:05 UTC durch den Bordcomputer deaktiviert, und die Steuerungscomputer schalteten um auf „Alternate Law“. In diesem Modus sind bestimmte automatisierte Schutzfunktionen (engl.: Protections) nicht mehr aktiv.[5][6][7] Neben Korrekturen um die Rollachse hatte der steuernde Pilot in den ersten Sekunden auch den Anstellwinkel erhöht, schon innerhalb dieser ersten Sekunden ertönte zweimal eine Warnung vor Überziehen aus der Überziehwarnanlage. Beide Piloten waren in der Folge mit dem Versuch beschäftigt, die Fehlermeldungen der Anzeigen zu analysieren. Innerhalb der ersten 30 Sekunden stellte der nichtfliegende Pilot ein Steigen fest und forderte den fliegenden Piloten auf, zu sinken. Die Steigrate nahm darauf etwas ab, das Flugzeug befand sich jedoch weiterhin im Steigflug und war schon um 2.000 Fuß auf 37.000 Fuß gestiegen. Die ausgefallene Geschwindigkeitsanzeige war nach 29 Sekunden wieder etabliert; nach deren Angabe hatte das Flugzeug in den 31 Sekunden seit dem Ausfall des Autopiloten um rund 50 Knoten an Geschwindigkeit eingebüßt. 11 Sekunden später wurde der Schub leicht reduziert, weitere 4 Sekunden später ertönte die Überziehwarnung andauernd. Der Schub wurde auf TOGA eingestellt, gleichzeitig stieg der Anstellwinkel. Das Höhenleitwerk bewegte sich innerhalb einer Minute bis auf +13°, wo es bis zum Ende des Fluges verblieb. Etwa 60 Sekunden nach dem Abschalten des Autopiloten befand sich das Flugzeug aufgrund seiner Höhe und Geschwindigkeit in einem Bereich außerhalb eines möglichen sicheren Betriebs; es kam zu einem Strömungsabriss.[A 5] Etwa 90 Sekunden nach dem Ausfall des Autopiloten übernahm der bis dahin nicht steuernde Pilot das Steuer („Controls to the left“), was nicht bestätigt wurde, und der rechts sitzende Pilot übernahm fast augenblicklich wieder die Steuerung. 5 Sekunden später kam der Kapitän in das Cockpit zurück. Zu diesem Zeitpunkt sank das Flugzeug mit einer Sinkgeschwindigkeit von 10.000 Fuß pro Minute, also 50 Meter pro Sekunde. Der Anstellwinkel gegenüber dem Luftstrom betrug +40° und entsprach damit immer noch einer extrem steilen Fluglage mit der Nase nach oben (zum Vergleich: beim Starten liegt der Wert gewöhnlich bei +15° bis maximal +20°). Die Situation blieb für alle drei Piloten unklar, erst 2 Minuten nach seiner Rückkehr ins Cockpit bemerkte der Kapitän, dass der fliegende Kopilot das Höhenruder die ganze Zeit bis an den Anschlag gezogen hatte. Die letzte ACARS-Meldung wurde um 02:14 UTC abgesetzt und betraf den Luftdruck in der Kabine.[8] Gemäß einer Pressemitteilung der französischen Untersuchungsbehörde für Sicherheit der zivilen Luftfahrt (BEA) wurde die letzte bekannte Position um 02:10 UTC über ACARS übermittelt. Extrapoliert man den Flugweg, so ergibt sich für den Zeitpunkt der letzten Fehlermeldung die Position 4° N, 30° W .[9][10] Die nächste Positionsmeldung bei der Bezirkskontrolle wäre um 02:20 UTC fällig gewesen, blieb jedoch aus. Der mitgeführte Treibstoff hätte bis circa 11:00 UTC gereicht.[11] SuchaktionDie brasilianische Luftwaffe beorderte zwei in Salvador und Recife stationierte Flugzeuge (Embraer EMB 110 Bandeirante und Lockheed C-130 Hercules) zur Suche in das Gebiet des Archipels Fernando de Noronha, die von dessen Flughafen aus Flüge zur ca. 550 Kilometer entfernten Absturzstelle durchführten. Die Fregatte Constituição und die Korvette Caboclo wurden ebenfalls in die Region entsandt.[12] Das brasilianische Patrouillenboot Grajaú erreichte als erstes Schiff die vermutete Absturzstelle. Frankreich beteiligte sich mit einem Langstrecken-Seeaufklärer vom Typ Breguet Atlantic von Dakar aus. Erste SuchphaseEin französisches AWACS-Aufklärungsflugzeug vom Typ E-3 Sentry überflog am 3. Juni die Region, um mit dem Radarsystem mögliche Wrackteile und andere Spuren des Absturzes zu kartografieren. Frankreich entsandte darüber hinaus das Forschungsschiff Pourquoi Pas ?, das mit dem bemannten Tiefsee-U-Boot Nautile und dem ferngesteuerten Tiefseeroboter Victor 6000 in bis zu 6000 Metern Tiefe den Meeresboden untersuchen kann. Außerdem waren ab dem 10. Juni 2009 der Hubschrauberträger Mistral und das Atom-U-Boot Émeraude der französischen Marine vor allem zur Unterstützung der Suche nach dem Flugschreiber (Flug-Daten-Recorder; FDR) vor Ort gewesen.[13] Die USA sandten einen Seeaufklärer Lockheed P-3 Orion von Honduras aus in das Gebiet, der die Suche im Atlantik unterstützte.[14] Am 8. Juni wurden von der US-Marine noch zwei hochsensible Ortungssysteme zum Aufspüren der Flugschreibersignale zur Verfügung gestellt.[15] Der Flugschreiber, die „Black Box“, sendete für mindestens 30 Tage ein akustisches Signal aus,[16] um seine Ortung mittels Sonargeräten zu ermöglichen. Der Absturz erfolgte in der Gegend des Mittelatlantischen Rückens, eines unterseeischen Gebirges. Die Meerestiefe schwankt in der Gegend des Absturzes zwischen etwa 1500 und 4500 Meter (vgl. Grafik). Die Reichweite der Schallsignale beträgt im Wasser etwa 2000 Meter, allerdings ist der Meeresgrund dort stark zerklüftet, was je nach Lage des Flugschreibers die Ausbreitung der Schallsignale erheblich behindern kann.[17] Am 6. Juni wurden als erste Spuren des Absturzes zwei männliche Leichen sowie vom Flugzeug stammende Wrackteile (unter anderem das Seitenleitwerk) und Gepäckstücke gefunden.[18] Am 26. Juni wurde die Suche eingestellt, nachdem neun Tage lang keine neuen Wrackteile oder Leichen gefunden worden waren.[19] Insgesamt wurden 51 Leichen und über 600 Wrackteile geborgen. Die Black Box sendete nach Berechnungen der Unfallermittler vermutlich bis zum 10. Juli 2009 akustische Signale. Die Suche nach den Flugschreibern mit U-Booten und Tauchrobotern wurde aus diesem Grund am 11. Juli eingestellt.[20] Zweite SuchphaseDie zweite Suchphase nach Wrack und Flugschreiber wurde Ende August 2009 vorerst eingestellt. Frankreich hatte andere Länder um deren Mithilfe bei der Aufklärung gebeten. Dritte SuchphaseDie dritte Suchphase mit Experten aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Brasilien, Russland und USA war für die Dauer von 60 Tagen geplant und sollte im Februar 2010 starten; der Start wurde jedoch aufgrund administrativer und technischer Probleme um einige Wochen verzögert. Die Suchaktion war mit einem Budget von etwa 10 Mio. Euro die teuerste Suchaktion der BEA und eine der aufwendigsten je durchgeführten Unterwasser-Suchaktionen.[21] Für die dritte Suchphase war das Operationsgebiet von ursprünglich 17.000 auf nur noch 2000 Quadratkilometer eingegrenzt worden. Da der Ozean im Operationsgebiet aber bis zu 4000 Meter tief und der Meeresgrund stark zerklüftet ist, wurde von teilnehmenden Experten schon im Vorfeld nicht ausgeschlossen, dass die Suchphase verlängert werden müsse, was Ende April 2010 von der BEA bestätigt wurde.[22] Die Suche erfolgte im Zeitraum vom 2. bis 25. April 2010 sowie vom 3. bis 24. Mai 2010.[23] An der Suchaktion beteiligten sich das US-amerikanische Schiff Anne Candies des Unternehmens Phoenix International, ausgestattet mit dem Tiefseeroboter der U.S. Navy Supervisor of Salvage and Diving (SUPSALV) CURV 21 und dem Deep-Towed–Sonargerät ORION, sowie das norwegische Schiff Seabed Worker, ausgerüstet mit den drei AUVs REMUS 6000 und dem Roboter Triton XLX 4000.[24] Am 6. Mai 2010 teilte die BEA mit, dass bei einer erneuten Auswertung der im Sommer 2009 von der Émeraude gesammelten Daten die Position der Black Box auf ein fünf Quadratkilometer großes Gebiet eingegrenzt werden konnte.[25] Nach 6300 durchsuchten Quadratkilometern endete die Suche jedoch erfolglos.[23] Vierte SuchphaseAm 18. März 2011 begann eine weitere Suchphase, während derer mit autonomen Tauchrobotern in drei Etappen zu je 36 Tagen systematisch ein Gebiet von 10.000 Quadratkilometern abgesucht werden sollte.[26] Für die Suche stellten Airbus und Air France zusammen 9,2 Millionen Euro bereit.[27] Das Forschungsschiff Alucia fuhr dafür von Seattle in den USA über den Panama-Kanal nach Suape im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco, wo es Anfang März eintraf. Mit an Bord waren drei unbemannte torpedoförmige Tieftauchfahrzeuge vom Typ REMUS 6000, die vom Waitt Institute for Discovery aus La Jolla in Kalifornien und vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften stammen und eine Tauchtiefe von bis zu 6000 Metern erreichen.[28][29][30] Am 3. April 2011 wurde in rund 4000 Meter Meerestiefe auf einer ebenen Stelle des Meeresbodens ein größeres Trümmerfeld gefunden, bei dem es sich offenbar um das Hauptwrack des verunglückten Flugzeugs handelt.[31][32][33][34] Neben Teilen des Rumpfs, der Tragflächen, Triebwerken und Fahrgestellen wurden auch Leichen gefunden. Am 14. April 2011 meldeten die Medien mit Berufung auf die BEA, dass bei der Auswertung der Roboterbilder die Heckteile des Jets lokalisiert worden seien. Die Flugschreiber sind im Heck des Flugzeugs untergebracht.[35] Fünfte SuchphaseFür die Suche nach den Flugschreibern wurde der Kabelleger Île de Sein mit dem Tauchroboter (ROV) Remora 6000 an die Fundstelle gebracht. Am 27. April 2011 teilte die BEA mit, dass bereits beim ersten Tauchgang der Remora 6000 das Chassis des Flugdatenschreibers (Flight Data Recorder, FDR) gefunden worden sei. Allerdings fehle das Speichermodul (Crash Survivable Memory Unit), das die aufgezeichneten Daten enthält. Am 29. April 2011 teilte die BEA mit, dass das im hinteren Teil des Flugzeugs befindliche Hilfstriebwerk (APU) gefunden worden sei. Überdies gab die BEA an, dass der Bug und das Heck des Flugzeugs in Einzelteile auseinandergebrochen seien und diese verstreut umherlägen. Versuche, diese Teile zu bergen, würden vorläufig nicht unternommen, da das Auffinden der Flugschreiber Priorität habe.[36] Schon zwei Tage später, am 1. Mai 2011, konnte das Speichermodul des Flugdatenschreibers entdeckt und geborgen werden,[37] am folgenden Tag ebenso der Stimmenrekorder (Cockpit Voice Recorder; CVR).[38] Am 16. Mai teilte die BEA mit, dass die Daten beider Flugschreiber ausgelesen werden konnten. Am 3. Juni wurden die Bergungsarbeiten an der Unfallstelle eingestellt.[39] UnfallursacheZwischenberichte vor dem Fund der DatenschreiberAm 2. Juli 2009 veröffentlichte die BEA den ersten Zwischenbericht[40] und am 17. Dezember 2009 einen zweiten.[41] Darin wurde festgehalten, dass die Unfallursache ungeklärt sei. Die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des zweiten Zwischenberichts vorliegenden Untersuchungsergebnisse ließen folgende vorläufige Schlüsse zu:
AbschlussberichtIm Jahr 2011 konnten die Flugdatenschreiber ausgelesen werden. Der Abschlussbericht vom 5. Juli 2012 kam zu folgenden Schlussfolgerungen:[23] Für den Unfall waren folgende Ereignisse ursächlich: Die Pitot-Sonden, welche hauptsächlich für die Messung der Fluggeschwindigkeit verantwortlich sind, fielen zeitweise aus. Als wahrscheinliche Ursache gilt Verstopfung durch Eiskristalle. Als Folge schaltete sich der Autopilot ab, und die Flugsteuerung schaltete in den Modus „Alternate Law“ um.[A 6] Diese Sonden sind mit automatisch reagierenden Heizelementen ausgestattet, welche Vereisung verhindern sollen. Durch Versuche konnte festgestellt werden, dass bei plötzlichem, starken Temperaturabfall Eisbildung dennoch eintreten kann, wobei das Eis sehr bald von der Heizung wieder abgeschmolzen wird. Bisher wurde der dadurch nur kurzzeitige Ausfall der Sonden nicht als kritisch angesehen, da eine korrekt reagierende Crew eine solche Situation problemlos meistern kann. Obwohl die Piloten die Sidesticks nicht betätigten, rollte das Flugzeug innerhalb von zwei Sekunden um 8,4° nach rechts.[A 7] In der folgenden Minute waren die Piloten vollständig davon in Anspruch genommen, das Flugzeug unter Kontrolle zu halten. Die Steuermanöver der Piloten waren in Anbetracht des Flugmodus „Alternate Law“ und der Flughöhe jedoch unangemessen und überzogen und bestanden in erster Linie aus einem Hochziehen des Flugzeugs. Dies kann durch mangelndes Training erklärt werden, wie dieses Flugzeug manuell in großer Höhe im Modus „Alternate Law“ geflogen werden muss. Erschwerend kam der Überraschungseffekt hinzu, plötzlich mit dieser Situation konfrontiert zu sein. Da das Abschaltsignal des Autopiloten eindringlicher war als das Signal, das den Verlust der Geschwindigkeitsanzeige kennzeichnet, suchten die Piloten zunächst instinktiv nach der Ursache des Abschaltens des Autopiloten und nahmen das Signal, das den Verlust der Geschwindigkeitsanzeigen markierte, möglicherweise nicht wahr. Die erste von der Überziehwarnanlage ausgegebene Warnung wurde von keinem der beiden Piloten als solche ernst genommen. Diese Reaktion konnte auch in ähnlichen Situationen bei anderen Piloten beobachtet werden. In großer Flughöhe können schon geringe Änderungen der Flugparameter zu einem Überziehen führen. Die Besatzung reagierte auf den signalisierten Verlust der Geschwindigkeitsanzeige nicht mit der dafür vorgesehenen Prozedur. Keiner der beiden bemerkte den überzogenen Flugzustand auf Anhieb, und als der PNF den PF darauf hinwies, erfolgte die Korrektur zu zögerlich, und nicht in ausreichendem Maße, so dass unbemerkt blieb, dass das Flugzeug sich weiterhin in einer kritischen Fluglage außerhalb der gewöhnlichen Normen für einen sicheren Reiseflug befand. Ebenso unbemerkt blieb das Umschalten der Steuerung in den Alternate Law. in diesem Modus kann das Flugzeug deutlich weiter in den Grenzbereich geflogen werden, ohne weitere Systemwarnungen auszulösen. So kam es zum Strömungsabriss und damit zu einem stetigen Höhenverlust. Da die Lage nicht vollständig erfasst wurde, unterblieben Aktionen, die es ermöglicht hätten, diesem entgegenzuwirken.[A 8] Als Erklärung hierfür wird die Kombination der folgenden Faktoren angegeben: Die Piloten erkannten nicht, dass sie dem bei Geschwindigkeitsanomalien anzuwendenden Verfahren nicht folgten, und konnten daher auch keine Abhilfe schaffen. Die für die Sicherheit zuständigen Stellen hatten in ihrem Gefahrenmodell das Risiko, das aus einer Vereisung der Pitot-Sonden erwächst, und die damit verbundenen Konsequenzen nicht ausreichend berücksichtigt. Es fehlte eine Ausbildung für manuelle Steuerung in großer Höhe und wie auf Geschwindigkeitsanomalien zu reagieren ist. Die Zusammenarbeit zwischen den Piloten wurde gestört, weil die aus dem Abschalten des Autopiloten resultierende Situation nicht verstanden wurde. Daneben führte der aus dem Abschalten des Autopiloten resultierende Überraschungseffekt zu einer hohen emotionalen Belastung der beiden Piloten. Die von den Rechnern identifizierte Unstimmigkeit der Geschwindigkeitssensoren im Cockpit wurde für die Piloten nicht klar erkennbar vermittelt. Die ausgegebene Überziehwarnung wurde von der Besatzung ignoriert. Dies kann eine Folge mehrerer Umstände sein: Die Art des akustischen Alarms wurde nicht identifiziert. Alarmsignale am Anfang des Ereignisses wurden als irrelevant betrachtet und nicht beachtet. Daneben fehlten visuelle Informationen, die eine Bestätigung des bevorstehenden Strömungsabrisses nach dem Verlust der Geschwindigkeitsanzeige ermöglicht hätten. Möglicherweise verwechselten die Piloten die vorliegende Flugsituation einer zu niedrigen Geschwindigkeit mit der einer zu hohen Geschwindigkeit, denn die Symptome beider Zustände ähneln einander. Daneben befolgten die Piloten Angaben der Flugkommandoanzeigen, die die Besatzung in ihren Aktionen bestätigten, obwohl sie falsch waren. Die Folgen der Neukonfiguration durch den Wechsel der Steuerelektronik in die sogenannten „Alternate Laws“ ohne jedes Anstellwinkel-Schutzsystem wurden von den Piloten nicht erkannt und verstanden.
Chesley Sullenbergers AnalyseChesley Sullenberger, Sachverständiger für Flugunfälle, ist der Ansicht, dass der Unfall in einer Boeing mit geringerer Wahrscheinlichkeit geschehen wäre. Während Airbus seine Cockpits mit Sidesticks ausstattet, verwendet Boeing im Gegensatz dazu klassische Steuerhörner. Diese sind mechanisch miteinander gekoppelt, die Sidesticks bei Airbus jedoch nicht. In einem Cockpit mit Steuerhörnern ist jede Steuereingabe des einen Piloten somit für den anderen Piloten klar sichtbar, überdies wird das Steuerhorn bei jeder Eingabe auch vergleichsweise stark bewegt. Die Aufnahmen des Stimmenrecorders belegen, dass weder der links noch der rechts sitzende Kopilot den überzogenen Zustand des Flugzeugs identifizierten, obwohl 75-mal eine Überziehwarnung ertönte. Um den Fehler des pilot flying zu erkennen, das Flugzeug unaufhörlich zu überziehen, hätte der links sitzende pilot not flying den Sidestick des rechten Piloten im Auge behalten müssen; erschwerend kam hinzu, dass eine vergleichsweise geringe Positionsänderung des Sidesticks ausreicht, um die Ruder von einer neutralen Position zum Vollausschlag zu bringen. Wie die Cockpitaufnahmen zeigen, bemerkte der hinter den Sitzen stehende Kapitän den überzogenen Flugzustand erst 48 Sekunden vor dem Aufschlag, als Bonin ausrief „aber ich ziehe doch die ganze Zeit voll hoch“.[44] EinflussfaktorenLaut einem Artikel von William Langewiesche trug die Überziehwarnanlage des Airbus möglicherweise zu einem Bedienfehler des steuernden Piloten Bonin bei. Bedingt durch den hohen Anstellwinkel lehnte das System die Daten zeitweise als ungültig ab, weshalb nach der Ankunft des Kapitäns im Cockpit die Überziehwarnung vorübergehend stoppte. Jedes Mal, wenn der Pilot die Flugzeugnase richtigerweise senkte, um dem Strömungsabriss zu entkommen, ertönte die Überziehwarnung wieder. Diese negative Verstärkung führte möglicherweise dazu, dass der Pilot das Höhenruder wiederholt hochzog, sofern er die Überziehwarnung überhaupt gehört hatte.[45] Der ehemalige Air-France-Kapitän Hervé Labarthe merkte an, dass private Gründe, wie zum Beispiel eine vorangegangene Scheidung, zu einer möglichen Ablenkung des Kapitäns vor, während und nach dem Verlassen des Cockpits geführt haben könnten.[46] InsassenAn Bord waren 228 Personen: 3 Piloten, 9 Flugbegleiter und 216 Passagiere, davon 126 Männer, 82 Frauen, 7 Kinder und ein Säugling. Sie stammten aus 32 Nationen, darunter: 72 Menschen aus Frankreich, 59 aus Brasilien, 28 aus Deutschland, 6 aus der Schweiz und eine Person aus Österreich.[47][48][49] Im Rahmen der ersten Suchphase wurden 51 Leichen von der Meeresoberfläche geborgen und identifiziert, darunter auch die des Flugkapitäns.[50] Im Rahmen der fünften Suchphase wurden am 5. Mai 2011 zwei Leichen aus dem Wrack geborgen. Nachdem es gelungen war, diese anhand der DNS zu identifizieren, wurde beschlossen, auch die übrigen Leichen zu bergen. Dem Vernehmen nach sollen sich die meisten europäischen Hinterbliebenen gegen, die meisten brasilianischen Hinterbliebenen jedoch für eine Bergung ausgesprochen haben.[51]
Die unterschiedlichen Zahlen bei einzelnen Herkunftsländern rühren daher, dass mehrere Passagiere mehr als eine Staatsbürgerschaft besaßen und je nach Quelle unterschiedlichen Staaten zugeordnet werden. PilotenLaut dem veröffentlichten Bericht der BEA war die Erfahrung der Piloten wie folgt:[A 3][57]
Juristische AufarbeitungAm 12. März 2010 verurteilte ein Gericht in Rio de Janeiro die Air France zu einer ersten Entschädigungszahlung. Demnach muss das Unternehmen 840.000 Euro an Hinterbliebene eines Opfers in Brasilien, einer Staatsanwältin aus dem Bundesstaat Rio de Janeiro, zahlen.[58] Am 28. September 2010 entschied ein französisches Gericht, den Angehörigen einer Flugbegleiterin eine Entschädigung von 20.000 Euro zuzusprechen. Die Richter gingen davon aus, dass der Unfall auf Fahrlässigkeit zurückzuführen ist. Obwohl noch kein Abschlussbericht vorlag, erklärte das Gericht, der Geschwindigkeitsmesser der Maschine habe nicht zum ersten Mal versagt. Damit sei der Tatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllt.[59] Anfang September 2019, mehr als zehn Jahre nach dem Unfall, verfügten französische Ermittlungsrichter eine Einstellung des Justizverfahrens gegen Air France und den Hersteller Airbus. Nach ihrer Sicht erkläre sich der Flugunfall „durch das beispiellose Zusammenkommen mehrerer Umstände“. Damit stellten sich die Richter gegen die Staatsanwaltschaft, die die Fluggesellschaft wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht hatte bringen wollen. Die Ermittler hatten Air France u. a. vorgeworfen, die Piloten nicht ausreichend geschult zu haben. Eine Vereinigung von Angehörigen der Opfer gab an, Beschwerde gegen die Anordnung der Ermittlungsrichter einzulegen.[60] Am 12. Mai 2021 entschied ein Pariser Berufungsgericht, dass sich sowohl Airbus als auch Air France wegen konstruktiver Mängel und fehlerhafter Ausbildung der Piloten vor dem Strafgericht zu verantworten haben. Der Vorwurf lautet „Fahrlässige Tötung“.[61] Am 17. April 2023 sprach eine Richterin Air France und Airbus jeweils von der Anklage fahrlässiger Tötung frei. Das Gericht habe „keinen sicheren Kausalzusammenhang“ zwischen möglichen Fehlern und dem Absturz feststellen können.[62] AuswirkungenNach dem Unfall erhielt dieser Linienflug die neue Flugnummer AF 445, unter der er erstmals eine Woche nach dem Unfall, am Abend des 7. Juni 2009, in Rio startete. Der Flug wurde weiterhin mit Flugzeugen vom Typ A330-203 bedient.[63] Im Juli 2011 wurden zehn „Sicherheitsempfehlungen“ veröffentlicht:[64] „Die erste empfiehlt den Regulierungsbehörden, den Inhalt der Ausbildungs- und Überprüfungsprogramme zu überarbeiten und insbesondere die Einführung spezifischer und regelmäßiger Übungen für die manuelle Steuerung eines beginnenden Strömungsabrisses und dessen Beendigung, einschließlich in hoher Flughöhe, vorzuschreiben.“ AnhangZwischenberichte nach dem Fund der DatenschreiberBericht vom 27. Mai 2011Am 27. Mai 2011 veröffentlichte die BEA einen vierseitigen Bericht über die ersten feststellbaren Fakten aus den Datenschreibern.[65][66] Aufgrund der Auswertbarkeit von Stimmenrekorder und Flugschreiber ging die BEA davon aus, dass die Unfallursache vollkommen aufgeklärt werden kann. Der Bericht hält fest:
Berichte vom 29. Juli 2011Die „Sicherheitsermittlung“ teilt den Flug in drei Phasen ein:[68]
Im Gegensatz zum Bericht vom 27. Mai 2011, der nur den Ablauf beschrieb und zusammenfasste, werden in diesem Bericht auch Vorgänge beschrieben, die nicht stattgefunden haben und damit als Mängel zu verstehen sind:[68]
Im Bericht wird keine andere Ursache als das Überziehen des Flugzeugs während der manuellen Steuerung und der daraus folgende Strömungsabriss für den schnellen Höhenverlust bis zum Aufschlagen auf dem Meer genannt. Ausdrücklich wird festgehalten, dass sich Flugzeug und Triebwerke korrekt gemäß den Steuereingaben der Piloten verhielten. Es werden im Bericht ohne abschließende Bewertung deutlich mehr Piloten- als Flugzeugfehler aufgezählt. Teilweise werden Pilotenfehler sogar doppelt benannt: „Keiner der Piloten verwies auf die Überziehwarnung“ und direkt dahinter: „Keiner der Piloten hat die Überziehsituation formell erkannt.“ Die BEA verwies aber ausdrücklich auf die Vorläufigkeit auch dieses Berichts:[68] „Die Untersuchung wird gegenwärtig fortgesetzt, um die Analyse zu vertiefen und alle Ursachen des Unfalls zu ermitteln. Diese werden im Abschlussbericht des BEA veröffentlicht.“ Meldungen des automatischen Datenfunk-Systems ACARS
Vergleichbare Ereignisse
MedienIn der kanadischen Fernsehsendung Mayday – Alarm im Cockpit wird in der Folge „Air France 447 verschollen“ (Staffel 12, Episode 13) eine Rekonstruktion des Unfalls gezeigt und der Ablauf der Sucharbeiten wiedergegeben. In der US-amerikanischen Dokumentationsserie Mysteries of the Missing, deutsch Spurlos verschwunden – Ungelöste Mysterien, aus dem Jahr 2017 ist der Flugzeugabsturz in der Folge Horrorflug (Folge 8) Gegenstand der Sendung.[71] Literatur
WeblinksCommons: Air-France-Flug 447 – Sammlung von Bildern und Videos
EinzelnachweiseAbschlussbericht
Weitere Einzelnachweise
Koordinaten: 3° 3′ 57″ N, 30° 33′ 42″ W |